Donnerstag, 26. Juni 2014

Locke

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.
In seiner erst zweiten Regiearbeit wagt der britische Drehbuchautor Steven Knight ein cineastisches Experiment: 85 Minuten dauert Locke, und sein Protagonist, gespielt vom herausragenden Tom Hardy, verbringt die gesamte Laufzeit am Lenkrad eines Autos. Mit simpelsten Mitteln vollbringt Knight Erstaunliches.

Dieser Film hat etwas Theaterhaftes an sich, eine bühnenartige Künstlichkeit, was sich in minderwertigeren Arbeiten durchaus als fatal erweisen könnte. Er beschreibt eine unglückliche Verkettung von Zufällen, welche das eigentlich ordentlich geregelte Leben von Ivan Locke (Hardy) ins Chaos – und letztendlich wohl in den seelischen wie materiellen Ruin – treibt. Via Autotelefon geführte Gespräche reihen sich in immer kürzer werdenden, ja geradezu unnatürlich dicht gedrängten Abständen aneinander; dazwischen kommentiert Ivan die Geschehnisse mit zunehmend verzweifelt wirkender Sachlichkeit in mitunter nachgerade überhöhten Soliloquien. Doch Steven Knight schafft es, sowohl mit Hilfe seines straffen Skripts und seiner spartanischen Inszenierung als auch einer ausnahmslos überzeugenden Besetzung, diese potentiellen Brecher der filmischen Illusion nahtlos in seine durch und durch flüssige Erzählung einzubetten. Machen einige Momente, einige Zeilen Dialog den leisen Eindruck artifizieller Verkürzung, so ist das eine notwendige Konzession an das – dramaturgisch wie qualitativ – überragende Konzept.

Locke, in seiner Intensität bisweilen an Steven Spielbergs Auto-Thriller Duel erinnernd, zeigt die Titel gebende Hauptfigur, wie sie am Ende eines langen Arbeitstages in ihren BMW steigt und sich auf eine schicksalhafte Reise begibt, an deren Ende der Fahrer, dessen Gesicht dem Kinozuschauer erst offenbart wird, als er im Fahrersitz Platz genommen hat, nicht mehr derselbe wie zuvor sein kann. Von einer Odyssee kann hier kaum die Rede sein; Ivans Fahrt, praktisch in Echtzeit gefilmt, führt ihn von seinem heimischen Birmingham südostwärts nach London, weg von seiner Frau (Stimme: Ruth Wilson) und seinen Söhnen (Stimmen: Tom Holland, Bill Milner), die sich auf einen familiären Fussball-Fernsehabend mit Ehemann und Vater gefreut hatten, hin zu jener einsamen Frau (Stimme: Olivia Colman), die Ivan in einem kruden One-Night-Stand geschwängert hat und deren Wehen nun rund zwei Monate zu früh eingesetzt haben. Mit diesem Fehltritt riskiert Ivan nicht nur seine private, sondern auch seine berufliche Existenz, denn sein überstürzter Aufbruch gen London bedeutet, dass er, ein angesehener Baustellen-Vorarbeiter und Beton-Fachmann, am darauf folgenden Tag beim komplizierten Fundament-Guss eines neuen Hochhauses nicht anwesend sein kann – was seinen Vorgesetzten (Stimme: Ben Daniels) und seinen Kollegen (Stimme: der grandiose Andrew Scott, oft im selben Satz witzig und tragisch zugleich) in helle Panik versetzt. 

"Drive": Eine folgenschwere Entscheidung veranlasst Ivan Locke (Tom Hardy), Birmingham in Richtung London zu verlassen.
© Impuls Pictures AG
Wie auch über den Realismus des Geschehens liesse sich hier lange über die Subtilität des Unterfangens diskutieren. Sätze wie "You make one little mistake and the whole world comes crashing down" – bezogen auf den Zement-Guss, aber unübersehbar im übertragenen Sinne gemeint – oder Ivans Mantra "That is my decision" (eines von vielen) stecken voller doppeldeutigen Symbolismus, der in weniger kompetenten Händen wohl unerträglich schwerfällig gewirkt hätte. (Eine spannende philosophische Analyse liesse sich wohl aus dem sicherlich nicht zufällig entstandenen Namen des Protagonisten gewinnen. Gerade zwischen dem Geburt-Subplot und John Lockes Thesen zum freien, von allen äusseren Einflüssen unbelasteten Geist eines neugeborenen Kindes scheint sich eine Verbindung aufzudrängen.) Doch Knight und allen voran der ausgezeichnete Tom Hardy, dessen beinahe walisischer Singsang-Dialekt in scharfem Kontrast zum schwer wiegenden Ton der Handlung steht, setzen diesen hypothetischen Gefahren eine veritable Tour de force der Erzählkunst und der Figurenzeichnung entgegen, abgehandelt in klaustrophobischer, niemals aber eintöniger Atmosphäre, die einen eineinhalb Stunden gebannt auf die Leinwand starren lässt.

★★★★★

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