Sonntag, 14. Oktober 2012

Amour

Psychologische Thriller und Dramen bilden seit jeher das Kerngeschäft der österreichischen Regisseurs Michael Haneke, von Benny's Video über Funny Games und Caché bis hin zu Das weisse Band. Letzterer brachte ihm 2009 in Cannes die Palme d'or ein, ein Erfolg, den er 2012 wiederholen konnte. Doch Amour scheint so gar nicht ins Schema Haneke zu passen: Mit chirurgischer Genauigkeit, aber eben auch ungeahnter Zärtlichkeit, nimmt er sich des Sterbens an. Ein Meisterstück.

Eine Tür wird aufgebrochen, Feuerwehrleute stürmen in eine elegante Pariser Stadtwohnung. Im Schlafzimmer der Residenz finden sie eine tote Frau, festlich gekleidet und auf Blumen gebettet. Bei der Frau handelt es sich um Anne (Emmanuelle Riva), die ein paar Wochen zuvor noch mit ihrem Ehemann Georges (Jean-Louis Trintignant) ein normales, glückliches Leben führte. Beide sind um die 80 Jahre alt, pensionierte Musikprofessoren, Pariser Bourgeoisie; im Wohnzimmer steht ein Konzertflügel, die Wände schmücken mit Büchern gefüllte Regale, aus der Musikanlage klingt hin und wieder Schubert. Eines Abends besucht das Paar ein Konzert eines ehemaligen Schülers. Am nächsten Morgen findet das Idyll jedoch ein jähes Ende: Beim Frühstück wird Annes Blick plötzlich starr und glasig, sie ist nicht mehr ansprechbar. Gerade als Georges den Notarzt rufen will, kommt sie wieder zu sich, kann sich aber an den Aussetzer nicht erinnern. Nach einem Besuch im Krankenhaus steht fest, dass Anne einen leichten Schlaganfall erlitten hat. Die nötige Operation misslingt, fortan ist sie auf der rechten Körperseite gelähmt und ihr Zustand verschlechtert sich zusehends, was nicht nur Georges, sondern auch Tochter Eva (Isabelle Huppert) schwer belastet.

Es ist ein Szenario, wie es sich wohl jeden Tag tausendfach überall auf der Welt abspielt. Ein Ehepaar jenseits der 70 wird durch einen Schicksalsschlag – sei es ein Sturz, ein Schlaganfall, eine Hirnblutung – schlagartig mit dem Unausweichlichen konfrontiert. Nicht mit dem Tod per se, sondern mit dem Akt des Sterbens. Nicht mit der eigenen Vergänglichkeit, sondern mit der Hinfälligkeit und Ohnmacht, dem Zustand – in Georges' Worten – "eines hilflosen Kindes". Nicht nur gehört dieser Vorgang zum Menschlichsten überhaupt, er gehört auch zu den privatesten Angelegenheiten im Leben.

Georges (Jean-Louis Trintignant) versucht, seine nicht ansprechbare Frau Anne (Emmanuelle Riva) wieder aufzuwecken.
Und genau hier setzt Michael Haneke mit seinem nunmehr elften Film an. Mit radikalem, unbeirrbarem Minimalismus beobachtet er, wie das fein säuberlich arrangierte Leben zweier Menschen innert kürzester Zeit in sich zusammenfallen kann. Bald nehmen Frustration, Wut und Verzweiflung auch mal Überhand und die Weigerung einer immer hinfälligeren Anne, Essen und Trinken anzunehmen, wird von Georges im Affekt mit einer Ohrfeige quittiert. Haneke seziert – im Sinne Claude Chabrols –, doch er behält sich jegliche Wertung vor. So entsteht in Amour ein faszinierendes, manch einen Zuschauer womöglich irritierendes, jedoch dem Anspruch seines Regisseurs, dem Publikum Interpretationsspielraum zu lassen, entsprechendes Paradox: Klinische Nüchternheit und kühle Observation treffen auf berührende Einfühlsamkeit und wunderschöne Miniaturen.

Aufgezogen wird das Ganze als klassisches Kammerspiel. Das schicke Appartement der beiden Hauptfiguren, Refugium und Gefängnis zugleich, wird während der 126 Minuten Laufzeit nur zweimal verlassen, einmal davon nur im Traum. Darius Khondji bewegt seine Kamera kaum, die ruhigen, ja starren Einstellungen sind Tableaux, wodurch sie umso stärker die die Wohnung schmückenden Gemälde – die einzigen Fenster zur Aussenwelt – widerzuspiegeln scheinen. Die vier Wände werden zum Mikrokosmos der Ehe von Anne und Georges; der reduktionistische Titel erweist sich als so treffend, dass sich Amour auch als ein – gelungener – Versuch auslegen lässt, das Konzept der Liebe zu erfassen. Das Paar teilt das quälende Leid genau so wie die Momente der Freude miteinander. Dabei liegen Lachen und Weinen oft nah beieinander, etwa wenn Anne ihren neuen elektrischen Rollstuhl ausprobiert oder Georges mit seiner bereits ans Bett gefesselten Frau "Sur le pont d'Avignon" singt. Hie und da schwingt sogar die Lakonie von Mike Leighs Another Year mit: Was er denn sagen würde, wenn niemand zu seinem Begräbnis erschiene, fragt Anne, eindringlich dargestellt von Emmanuelle Riva, ihren Mann. "Rien, probablement", antwortet er, der ruhige, in sich gekehrte Jean-Louis Trintignant, ohne eine Miene zu verziehen.

Ein Bild aus besseren Tagen: Anne am Flügel.
Und trotz der übermenschlichen Belastungen für beide Protagonisten spielt Amour ganz im Hier und Jetzt. Anne und Georges verschwenden keinerlei Gedanken an ein mögliches unbeschwertes Wiedersehen im Jenseits, niemand faltet je die Hände zum Gebet. Die Religion, wie letztlich auch Aussenstehende wie Eva oder die diversen Pflegerinnen, bleiben aussen vor. Dennoch wäre es falsch, den Film als deprimierend oder gar hoffnungslos darzustellen. Haneke mag zwar zeigen, wie trostlos und verheerend sich das Ende eines Lebens gestalten kann; doch gleichzeitig – und darin zeigt sich einmal mehr seine Klasse als Regisseur und Drehbuchautor – bietet er eine tröstliche Differenzierung an: Wenn Anne ein altes Fotoalbum durchblättert, scheint sich die Frage aufzudrängen, wie schwer der Tod denn im Vergleich mit einem Leben voller Liebe wiegen kann. Wie kann er jemals obsiegen, wenn die Welt voller Schönheit ist, fragt man sich, als Georges sich mit einer Taube im Atrium konfrontiert sieht.

Das Alter und das Kino unterhalten schon lange eine heikle Beziehung. Betagte Menschen spielen Nebenrollen oder dominieren allenfalls in eher unrealistischen, wenn auch unterhaltsamen, Tragikomödien wie Et si on vivait tous ensemble? oder Bis zum Horizont, dann links! das Geschehen. Insofern ist Amour ein hochgradig ambitioniertes Projekt, dem jegliche Kommerzialität abzugehen scheint. In den Händen eines Michael Haneke jedoch wird daraus ein einfühlsames, subtiles und ungemein berührendes Drama, welches einen so schnell nicht wieder loslässt.

★★★★★

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