Donnerstag, 10. September 2015

Boychoir

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Eigentlich erfüllt Boychoir punkto Thematik, Handlung und Besetzung sämtliche Voraussetzungen, ein erhebendes, wenn auch harmloses Crowdpleaser-Drama zu sein. Doch was Regisseur François Girard und Drehbuchautor Ben Ripley hier abliefern, ist schlicht und ergreifend schlechtes Filmemachen.

Wer sich Anfang Jahr darüber aufgehalten hat, dass in Damien Chazelles virtuosem Musik-Kammerspiel Whiplash der Alltag an Jazzschulen unrealistisch und überspitzt dargestellt wurde, dem sei von Boychoir nachdrücklich abgeraten. Denn die Verhältnisse, die hier im renommierten Sängerknaben-Internat herrschen, an das der verhaltensauffällige, aber hochgradig gesangsbegabte Junge Stet (Garrett Wareing) geschickt wird, spotten im Vergleich zu Chazelles dreifachem Oscarpreisträger jeder Beschreibung. Hier regiert der an sich als gutmütig konzipierte Dirigent Carvelle (ein eher gelangweilt wirkender Dustin Hoffman), der seine elf-, zwölfjährigen Schützlinge als Vorbereitung auf den Druck, der auf der Bühne auf ihnen lastet, mit Scheinwerfern und pädagogisch fragwürdigen Kommentaren traktiert. Erreicht der Tourbus sein Ziel mit einer Minute Verspätung, ist dies Carvelles Assistent, dem unablässig höhnenden Briten Drake (Eddie Izzard), ein enttäuschtes Kopfschütteln wert. Und die Musikaffinität, die Carvelles Institut voraussetzt, wird am haarsträubenden Beispiel des jungen Lehrers Wooly (Kevin McHale) exemplifiziert, der sich einem Besucher mit der Bemerkung "Your shoes squeak in E-flat" ("Ihre Schuhe quietschen in Es") vorstellt.

Nein, nach einer auch nur im Entferntesten realistischen Darstellung einer Chorschule sucht man im Boychoir – mit Ausnahme des stimmig eingefangenen Schulgebäudes selbst – vergeblich. Dies wäre nicht weiter ein Problem, könnte der Film stattdessen mit einer anregenden Geschichte, interessanten Figuren oder einer einnehmenden Inszenierung aufwarten. Doch François Girards Regie lässt praktisch jede Finesse vermissen; derweil das vorhersehbare Drehbuch von Ben Ripley – der es, wie Source Code gezeigt hat, eigentlich besser könnte – die grundsätzlichen Regeln des filmischen Geschichtenerzählens konstant zu ignorieren scheint.

Der schwer erziehbare Stet (Garrett Wareing, Mitte) erhält in einer renommierten Chorschule neue Perspektiven.
© Impuls Pictures AG
Während sich die Defizite von Girards Inszenierung primär in Form von steif agierenden Schauspielern und hölzern abgewickelten Szenen bemerkbar machen, grenzt es direkt an ein Wunder, dass der Film trotz Ripleys katastrophalem Skript dennoch über einen gewissen Unterhaltungswert verfügt. Boychoir fehlt jegliche erzählerische Stringenz: Stets alkoholkranke Mutter bestreitet eine einzige Szene, bevor sie einem Autounfall zum Opfer fällt; Miss Steel (Debra Winger), die Rektorin von Stets erster Schule, ist überzeugt vom Singtalent des maulfaulen, verschlossenen Jungen, obschon man ihn an diesem Punkt noch nicht hat singen hören; zwischen der Sequenz, in der ihm ein Freund Notenlesen beibringt, und Woolys uneingeschränkter Begeisterung über seine verbesserten Fähigkeiten liegt ein einziger Schnitt. Ripleys Dialoge wiederum wirken deplatziert und erzwungen; viele davon erklären dem Publikum Umstände, die sich problemlos bildlich darstellen liessen. Übertroffen werden diese eklatanten Schwächen lediglich von der geradezu lächerlichen Figurenzeichnung, welche fast alle Charaktere, hauptsächlich aber Stets Chor-Kameraden, in eindimensionale Karikaturen verwandelt. Als trauriger Höhepunkt bleibt diesbezüglich das jugendliche "Bösewicht"-Duo Raffi (River Alexander) – Snob, Mitläufer, motivlos gemein – und Devon (Joe West) – ein verwöhntes, übertrieben diabolisches Wunderkind mit Nickelbrille auf den Spuren von Draco Malfoy – in Erinnerung: die letzten Nägel im Sarg eines Films, der wirkt wie das Werk von bemühten Dilettanten.

★★

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