Sonntag, 9. März 2014

Nymph()maniac – Volume I

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Schon vor seinem Kinostart hat Nymph()maniac, das zweigeteilte Opus magnum des einstigen Dogme-95-Radikalen Lars von Trier um die Eskapaden einer Sexsüchtigen, für Diskussionen gesorgt; der Vorwurf der Pornografie wurde laut – zu Unrecht, wie es scheint. Teil eins ist raffiniert, verspielt, virtuos.

Die Ausgangslage des 14. Films von Triers ist schnell erzählt: Eines Abends findet ein Junggeselle mittleren Alters, der sympathische Seligman (Stellan Skarsgård), in einer Seitengasse eine übel zugerichtete Frau (Charlotte Gainsbourg) vor. Sein Angebot, einen Krankenwagen zu rufen, schlägt sie energisch aus, willigt aber ein, zu ihm nach Hause zu gehen, wo er ihr Tee und Gebäck anbietet und sich von ihr ihre Lebensgeschichte erzählen lässt. Ihr Name ist Joe; sie ist eine selbsternannte "Nymphomanin" und ihre Vita ist entsprechend geprägt von sexuellen Episoden und Experimenten, aufgrund derer sie in ihre gegenwärtige Lage geraten sei. Und von Trier, obwohl sich seine Filme schon längst weit ausserhalb der Dogmen bewegen, welche er und Thomas Vinterberg 1995 verkündeten – keine künstlichen Stilmittel, kein Kamerastativ, nur authentische Schauplätze –, ist nach wie vor ein leidenschaftlicher Provokateur, der es sich nicht nehmen lässt, die etablierten Normen des guten Geschmacks herauszufordern: Joes Sexleben wird ebenso unverblümt gezeigt wie sie es erzählt; ausgespart wie so gut wie nichts.

Dass dabei in den intensiveren Szenen, welche sich angeblich im zweiten Teil noch häufen werden, professionelle Porno-Darsteller den Platz der regulären Schauspieler einnehmen, gilt vielen als Beleg dafür, dass Nymph()maniac im Grunde nichts anderes ist als pseudointellektuell verpackte Pornografie. 2009, als im Zusammenhang mit Antichrist, von Triers kruder sadomasochistischer Verneigung vor Andrei Tarkovsky, ähnliche Bedenken geäussert wurden, mag diese Beschreibung noch mehr oder minder zugetroffen haben, doch Nymph()maniac ist zu faszinierend, zu gehaltreich, um ihn auf diese Art und Weise abzutun.

Scheherazade und Shahryar: Die sexsüchtige Joe (Charlotte Gainsbourg) erzählt Seligman (Stellan Skarsgård) ihre Lebensgeschichte.
 © Ascot Elite
Zwar wirkt Volume I, wie die erste Hälfte dieses Diptychons bezeichnet ist, auf den ersten Blick alles andere als subtil, angefangen beim stilisierten Titel, dessen das O ersetzende Klammern – augenzwinkernd ironisch oder plump-ordinär? – die Form einer Vagina imitieren. Gedankengänge von Joe oder Seligman werden oft von passenden Standbildern oder kurzen Einspielern illustriert oder sogar buchstäblich auf die Leinwand geschrieben, so etwa die mathematische Dimension von Joes Defloration ("3+5"), auf der auch die ungleiche Kapitelzahl der beiden Filmteile beruht. Allzu offensichtliche Elemente dieser Art sind keine Seltenheit in von Triers Kino – vom himmlischen Glockengeläut am Ende von Breaking the Waves (1996) bis zum atemberaubenden Apokalypse-Prolog von Melancholia (2011) –, doch in Nymph()maniac dienen diese nicht nur als (überaus gelungene) Verfremdungseffekte; vielmehr scheinen sie auch auf einen versteckten Aspekt der Affiche hinzuweisen. Die Detailversessenheit, welche Joe, eine verkappte Scheherazade, in ihrer Erzählung an den Tag legt, wirkt hochgradig suspekt. Der Umstand, dass sie sich bei ihren Ausführungen von Objekten, die sie in Seligmans Wohnung findet, leiten lässt – wie Kevin Spaceys Verbal Kint in The Usual Suspects –, macht sie zu einem klassischen unzuverlässigen Erzähler, dessen Worte man keinesfalls auf die Goldwaage legen sollte.

Eingebettet ist diese narrative Unsicherheit in einen hinterhältig schwarzhumorigen, kurios besetzten – es agieren unter anderen "gefallene" Stars wie Christian Slater (hervorragend), Uma Thurman (hervorragend) und Shia LaBeouf (unstet) –, bisweilen unerwartet emotionalen Film, der, nebst alledem, mit einer grandiosen, erstaunlich variablen und vollkommen befreiten Ästhetik beeindruckt. Noch kann kein abschliessendes Urteil über Nymph()maniac gefällt werden, doch die ersten zwei Stunden suggerieren, dass dies ein Opus magnum ist, welches diese Bezeichnung auch verdient.

★★★★

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