Montag, 30. April 2012

The Turin Horse

1977 begann die Karriere des ungarischen Filmemachers Béla Tarr mit dem düsteren Family Nest. Nun, 35 Jahre später, gilt Tarr, dem die Welt Werke wie Damnation (1988), Werckmeister Harmonies (2000) oder Satan's Tango (1994), das 450-minütige Opus magnum des Remodernismus, verdankt, als grösster lebender Regisseur seines Landes. Mit seinem neunten Film will der erst 56-Jährige jetzt einen Punkt unter sein Œuvre setzen. Sollte er Wort halten, wird sein letztes Projekt, The Turin Horse – Originaltitel: A torinói ló –, als triumphaler Abschluss in Erinnerung bleiben.

Am 3. Januar 1889 verlässt der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche sein Haus in Turin. In der Nähe versucht ein frustrierter Fuhrmann, sein stures Pferd in Bewegung zu setzen, indem er es mit seiner Peitsche schlägt. Nietzsche geht dazwischen; der Peitscher lässt von seinem Tier ab. Doch anstatt wieder seinen Geschäften nachzugehen, wirft sich der grossgewachsene Deutsche um den Hals des Pferdes. Kurz darauf wird er nach Hause geführt, wo er zwei Tage lang vor sich hin stiert, bevor er seine letzten Worte spricht – "Mutter, ich bin dumm". Die restlichen zehn Jahre seines Lebens verbringt er in geistiger Umnachtung in Obhut seiner Mutter und seiner Schwestern. Vom weiteren Schicksal des Pferdes wissen wir nichts.

Für die Zuschauer ist es wichtig, diese Anekdote zu kennen und zu verstehen, auch wenn sie auf den ersten Blick nur marginal mit den Vorgängen in The Turin Horse verknüpft ist. Nach der düster-poetisch vorgetragenen Vorgeschichte finden wir uns auf dem Land wieder. Auf einem Bauernhof, der von Hügeln umgeben ist, leben Ohlsdorfer (János Derzsi) und seine Tochter (Erika Bók) in ärmlichen Verhältnissen. Am ersten Tag reitet der Bauer, der von einem lahmen Arm gepeinigt wird, in einem heftigen Sturm nach Hause. Dort stellt er die Kutsche in die Scheune, bringt das Pferd in den Stall und setzt sich zum Essen hin: eine gekochte Kartoffel, wie jeden Tag. Danach setzt er sich ans Fenster, schaut in den Sturm hinaus und begibt sich zu Bett. Am zweiten Tag entdecken Vater und Tochter, dass ihr Pferd nicht mehr frisst und sich auch kaum bewegt. Die Tochter kleidet ihren Vater, holt Wasser, bereitet das Essen zu. Am dritten Tag kämpft sich ein Nachbar (Mihály Kormos) durch den unablässig wütenden Orkan zum Bauernhaus und beschwört die Apokalypse, was Ohlsdorfer aber als Unsinn abtut. Am vierten Tag tauchen Zigeuner auf. Am fünften versiegt der Brunnen. Der Sturm tobt weiter, das Pferd frisst immer noch nicht. Was haben diese Phänomene zu bedeuten? Und was wird am sechsten Tag geschehen?

Erika Bók als Tochter des Bauern Ohlsdorfer.
The Turin Horse ist kein Film im klassischen narrativen Sinn. Es wird zwar eine Geschichte erzählt, doch diese basiert auf Wiederholung und Symbolismus. In dreissig langen, hypnotischen Einstellungen in kontrastreichem Schwarzweiss, meisterhaft eingefangen von Fred Kelemen, dessen Bildsprache des Öftern Rudolph Matés Arbeit an Carl Theodor Dreyers Vampyr evoziert, zeichnet Tarr eine vielschichtige Chronik des Elends, die trotz – oder eben gerade wegen – ihrer repetitiver Motive und der immer wiederkehrenden gespenstischen Musik tief bewegt und fasziniert. Es geht, so der Regisseur, um die "Schwere der menschlichen Existenz", die Last des Alltags, der unter Umständen, wie etwa hier dem der lähmenden Armut, zur trostlosen Sisyphusexistenz verkommt. In diesem Rahmen entfaltet sich der philosophische Kern des Films, in dem auch die Ideen Friedrich Nietzsches nachhallen. The Turin Horse ist in gewisser Hinsicht die nihilistische Umkehr der biblischen Genesis-Geschichte; Lebensgrundlagen – Vieh, Wasser, Lebenswille – verschwinden, eine schlechte Welt versinkt endgültig in Dunkelheit.

Im Zentrum dieser pessimistischen Weltsicht steht der Besucher, der Ohlsdorfer und dessen Tochter am dritten Tag aufsucht und dessen fünfminütiger Monolog zum Eindringlichsten und Besten gehört, was in jüngerer Zeit im Kino zu sehen war. Mihály Kormos' grossartige Sprechleistung trifft auf die raue Poesie der Autoren Tarr und László Krasznahorkai. Der Nachbar will eine Flasche Schnaps kaufen; der anhaltende Sturm habe die nahe Stadt dem Erdboden gleich gemacht. Doch diese Zerstörung innerer und äusserer Welten habe schon vor Jahrhunderten begonnen; sie käme nicht nur von Gott, es seien die Menschen, welche die Verantwortung für den Ruin ihrer Welt trügen. So wird die mysteriöse dritte Figur des Films zu einem Rufer in der Wüste, einer Inkarnation von Nietzsches Zarathustra, der zwar nicht den Tod Gottes, dafür aber dessen Ohnmacht angesichts der nachlässigen, in ihrer Apathie destruktiven Menschheit beklagt.

Mihály Kormos als philosophischer Besucher – laut Regisseur Tarr ein "Schatten Nietzsches".
Der Aktualitätsbezug dieses Klagelieds ist nicht von der Hand zu weisen: Tarr mag primär universelle Problematiken der Condition humaine ansprechen, doch sein Film hat auch eine offenkundige politische Komponente. Es fällt schwer, den Sturm, der laut Erzähler nur aus einer Richtung bläst und jeden Widerstand überwindet, sowie den Besucher, der von "Endsiegen" und unbelehrbaren Menschen spricht, nicht mit den Vorgängen in Ungarns Politik in Verbindung zu bringen. Tarr, ohnehin ein Gegner der Fidesz-Regierung unter Premierminister Viktor Orbán, scheint hier die rechtspopulistische Übernahme seines Landes und die damit verbundene Ausblutung der unabhängigen Kultur anzuprangern, womit sein Rücktritt vom Filmemachen auch eine Äusserung politischen Protests wäre.

Wer sich auf A torinói ló einlassen will, sollte mit Geduld und dem Willen, über den Film eingehend zu reflektieren, ausgestattet sein. Dann wird man mit einem tiefgründigen Kunstwerk belohnt, wie es nur das Kino zu bieten hat. Eine grosse Leistung eines grossen Filmkünstlers.

★★★★★

Sonntag, 29. April 2012

The Avengers

Mit dem Erfolg des Superheldenteams "Justice League of America", welches 1960 von DC Comics ins Leben gerufen wurde, geriet der konkurrierende Marvel-Verlag Anfang der Sechzigerjahre in Zugzwang und veröffentlichte 1963 die erste Ausgabe der "Avengers", einer Heldentruppe, bestehend aus Iron Man, Thor und Hulk sowie den in Vergessenheit geratenen Ant-Man und Wasp. Zwar scheint das Konzept wie gemacht für eine gross angelegte Verfilmung, doch die Fans mussten bis 2008 warten, bis ein derartiges Projekt ins Auge gefasst wurde. Eine Serie von Adaptionen einzelner Charaktere, die 2008 mit Iron Man begann, führte nach und nach zu The Avengers, einem der meisterwarteten Hollywood-Unterhaltungsstreifen des Jahres 2012. Enttäuscht werden dürften die Wenigsten: Joss Whedons Film mag seine Schwächen haben, perfektioniert aber die Actionelemente und die Darstellung der beliebten Figuren.

Nach den Ereignissen in Kenneth Branaghs Thor konnte S.H.I.E.L.D. den "Tesseract" aus Asgard an sich bringen. Zurzeit wird der blau leuchtende Würfel in den Labors der Organisation unter der Leitung von Erik Selvig (Stellan Skarsgård) und Nick Fury (Samuel L. Jackson) untersucht. Doch plötzlich steht der böse Halbbruder Thors (Chris Hemsworth), Loki (Tom Hiddleston), vor dem Tesseract, holt Selvig und den Bogenspezialisten Hawkeye (Jeremy Renner) auf seine Seite und macht sich davon. Der Plan des zwischen Welten reisenden Gottes besteht darin, mit dem mächtigen Energieartefakt und einer ausserirdischen Armee – den Chitauri – die Erde zu unterwerfen. Die Lage ist dermassen verzweifelt, dass Nick Fury die eigentlich abgebrochene "Avengers-Initiative" reaktiviert. Es werden der Donnergott Thor, der hochintelligente Playboy und Magnat Tony Stark alias Iron Man (Robert Downey Jr.), der bis vor Kurzem im arktischen Eis festgefrorene Steve Rogers alias Captain America (Chris Evans), die Agentin Natasha Romanoff alias Black Widow (Scarlett Johansson) und der brillante Wissenschaftler Bruce Banner (Mark Ruffalo), der, wenn er wütend wird, sich in den grünen Giganten Hulk verwandelt, engagiert. Das Team bekundet allerdings Mühe, zueinander zu finden – nicht zuletzt durch Lokis Eingreifen –, treffen hier doch Egomanen auf Patrioten und Muskelprotze auf schüchterne Kopfmenschen.

Verschiedene Persönlichkeiten, Seite an Seite: Iron Man (Robert Donwey Jr.) und Captain America (Chris Evans).
Dass ein Comic-Crossover wie The Avengers im Kino schwierig umzusetzen ist, war von Anfang an klar. Die goldene Mitte zwischen dem eingeweihten und dem unbedarften Zuschauer muss gefunden werden; es ist abzuwägen, wieviel Vorwissen vorausgesetzt werden soll; es besteht das Risiko, gewisse Fangemeinden zu verärgern, da Superhelden nach wie vor in erster Linie Einzelkämpfer sind. Es lässt sich kaum bestreiten, dass Joss Whedon (Buffy the Vampire Slayer) und sein Co-Autor Zak Penn (Last Action Hero, The Incredible Hulk) in ihrem Drehbuch den bestmöglichen Weg gingen. The Avengers ist kein Film, der von seinem Plot angetrieben wird; es sind die Charaktere, die im Zentrum stehen. Dafür mussten allerdings Konzessionen gemacht werden. So wirkt das Ganze in den ersten 30 bis 45 Minuten allzu behäbig, sodass teilweise sogar, wie in den schwächsten Passagen von Thor, das Gefühl entsteht, die Geschichte bewege sich kaum vorwärts.

Jedoch zahlt es sich in eben diesen Momenten aus, dass in Whedon ein Regisseur und Autor gefunden wurde, der mit einem solchen Ensemble umgehen kann. Nicht nur führt er Nebenfiguren wie Black Widow und Hawkeye, deren individuelle Franchisen nicht prestigeträchtig genug sind, um eigene Filme zu generieren, äusserst elegant ein; er weiss auch, wie er die verschiedenen Persönlichkeiten seiner Helden, den "lost creatures", wie es Loki hervorragend auf den Punkt bringt, aufeinanderprallen lassen kann. Anders als bei DCs oftmals überperfekten Kämpfern für Gerechtigkeit ist die Menschlichkeit von Marvels Helden nämlich ein wichtiger Teil ihres Reizes; es wird viel Wert auf die menschlichen Schwächen der übermenschlichen Kreaturen gelegt. Whedon findet im uramerikanischen und deswegen auch gottesfürchtigen Captain America einen würdigen Antipoden zum nordischen Gott Thor und dem zynischen Tony Stark. Dieser wiederum freundet sich schnell mit Bruce Banner an, da beide Unfälle hinter sich haben – Stark eine Explosion, Banner eine Verseuchung durch Gammastrahlen –, welche sie nach gängiger Lehrmeinung nicht hätten überleben sollen. Daraus gewinnt Whedon die nötigen Konflikte und Spannungen, welche dem kaum vorhandenen Plot etwas dringend gebrauchte Dynamik verleihen. Auch lässt er den Humor zu seinem Recht kommen, sei es durch die grandiosen Einzeiler, an welchen es jüngeren Marvel-Verfilmungen, mit Ausnahme von Iron Man, meist fehlte, den stets ironischen Tonfall, die Anspielungen auf vorangegangene Filme oder die herrlichen gegenseitigen Neckereien der Figuren.

"We have a Hulk" – Bruce Banner in seiner Superheldenform.
Sein ganzes Potential schöpft The Avengers schliesslich in der zweiten Hälfte aus. Sobald sich alle Protagonisten zusammengefunden haben und ein Plan ausgeheckt ist, wirkt der Film wie entfesselt. Die bestens aufgelegten, endlich vereinten Schauspieler – allen voran Robert Downey Jr. und Samuel L. Jackson – interagieren prächtig miteinander, die Witze sitzen, Dramatik und Dringlichkeit stellen sich ein. Zur Vollendung werden diese Elemente in einer gigantischen finalen Schlacht gebracht, in welcher Whedon und Kameramann Seamus McGarvey demonstrieren, wie eine derartige Materialschlacht zu inszenieren ist. Anders als die endlosen Roboterkämpfe in Michael Bays Transformers-Reihe lassen sich hier Pro- und Antagonisten tatsächlich unterscheiden; die Kamera wackelt nicht unnötig; Humor und Charakterzüge werden beibehalten; Sinn und Zweck sowie ein Ziel sind eindeutig erkennbar. Zudem reüssiert The Avengers dort, wo Hulk und The Incredible Hulk gescheitert sind: Der grüne Wüterich wird in dieser letzten halben Stunde erstmals treffend dargestellt und eingesetzt: Bruce Banner wird zu einem quasi unbesiegbaren Monster, welches seine Taten aber immer noch kontrollieren kann. Seine Begegnung mit Loki ("Puny god") dürfte einem noch lange in Erinnerung bleiben.

Es ist kaum anzunehmen, dass die lange herbeigesehnte Kinoadaption von Marvels Superheldenteam als Sieger aus dem direkten Vergleich mit Christopher Nolans anstehendem dritten Teil seiner Batman-Trilogie, The Dark Knight Rises, hervorgehen wird. Dennoch beweist Joss Whedon mit The Avengers, dass auch in einem auf Action ausgerichteten Unterhaltungsfilm geschmackvoller Humor und dreidimensionale Charaktere ihren Platz haben – auch wenn Dampfhammer-Filmer wie Michael Bay die Zuschauer dauernd vom Gegenteil überzeugen wollen.

★★★★

My Week with Marilyn


★★★★

In 1956, the legendary Marilyn Monroe went to England to shoot the movie The Prince and the Showgirl in which she was to act alongside Sir Laurence Olivier, who was then considered to be the greatest actor alive. While filming, she allegedly had an affair with Olivier’s third assistant, Colin Clark, who subsequently wrote in much detail about his experiences with the famous actress. In his new film, My Week with Marilyn, which was nominated for two Oscars and won various other awards, director Simon Curtis picks up on Clark’s story but offers us something more: a genuinely heartfelt, thoroughly fascinating look at Marilyn Monroe and her role as a cultural icon. 

Ganze Kritik auf The Zurich English Student (online einsehbar).

Donnerstag, 26. April 2012

Albert Nobbs

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Trotz zahlreicher Auszeichnungen und drei Oscarnominationen vermochte die neueste irische Grosspruduktion bisher weder Publikum noch Kritik zu überzeugen. Albert Nobbs, der gediegenen Adaption von George Moores Geschichte, fehlt es an Fokus und Stringenz.

Dublin im 19. Jahrhundert: Im Morrison's Hotel geben sich Vertreter der "besseren" Gesellschaft die Ehre. Unter dem Personal schätzen die Gäste vor allem einen: Albert Nobbs (Glenn Close, welche die Rolle 1982 schon auf der Bühne spielte), treuer Bediensteter in Mrs. Bakers (Pauline Collins) Etablissement. Jeder kennt ihn, jeder steckt ihm ein Trinkgeld zu. Doch der schüchterne Butler hat ein Geheimnis: Er ist eine Frau, die sich in jungen Jahren dazu entschloss, sich eine erfundene Identität anzueignen, um einer gut bezahlten Arbeit nachzugehen. Als der Maler Hubert Page (Janet McTeer) hinter ihr Geheimnis kommt und ihr offenbart, dass auch er eine Frau ist, freundet sich "Albert" mit ihr und ihrer Frau Cathleen (Bronagh Gallagher) an. Derweil verliebt sich das Zimmermädchen Helen (Mia Wasikowska) in den Handwerker Joe (Aaron Johnson), der sich nach Amerika absetzen will. Allerdings versucht nun auch Albert, um die junge Frau zu werben, sodass er sie heiraten und einen Tabakladen eröffnen kann, um endlich in Freiheit zu leben.

Man kann der Academy of Motion Picture Arts and Sciences vieles vorwerfen, doch bezüglich Albert Nobbs ist er ihr gelungen, den Film in den exakt richtigen Kategorien zu nominieren: Haupt- und Nebendarstellerin sowie Makeup. Dieses sind ohne Frage die grössten Stärken des Films von Rodrigo García (Mother and Child). Unterstützt von sehr dezenter Schminke, begeistern Glenn Close (Fatal Attraction, Dangerous Liaisons) und Janet McTeer (Tumbleweeds, Into the Storm) als Pragmatikerinnen, die sich in einer Gesellschaft, in welcher Geschlechterrollen von Garderobe und Gebaren abhängen, ein Stück Selbstbestimmung erarbeiten, sich dabei aber selber verleugnen müssen: "What's your name?" – "Albert" – "Your real name?" – "Albert". Dieser Dialog zwischen den beiden Frauen ist keine Stilisierung; nicht zuletzt das grandiose Schauspiel Closes und McTeers sorgt dafür, dass die beiden in Albert Nobbs in Frauenkleidern letztlich unnatürlich aussehen.

Albert (Glenn Close) wirbt um die Gunst der jungen Helen (Mia Wasikowska).
Unverständlicherweise gibt sich der Film aber nicht damit zufrieden, sich auf das Zusammenspiel der beiden verkleideten Frauen und die damit verbundenen Themen – Emanzipation, Identität, Homosexualität, Freiheitsbegriff – zu konzentrieren. García, der den ursprünglich für die Regie vorgesehenen István Szabó ersetzte, sowie die Drehbuchautoren Close und der irische Autor John Banville jonglieren mit zu vielen Motiven und Nebenplots, wodurch die Erzählung ihre Prägnanz verliert. Vor allem die Liebesgeschichte zwischen Joe und Helen kann nicht überzeugen, wohl auch weil Aaron Johnson und Mia Wasikowska, obgleich solide, von ihren älteren Kollegen – Close, McTeer und auch Brendan Gleeson – an die Wand gespielt werden. Darüber hinaus scheint sich Albert Nobbs nie richtig sicher zu sein, welchen Tonfall angeschlagen werden soll. Das Resultat ist eine Tragikomödie, die Tragödie und Komödie nie harmonisch miteinander vereinen kann, schön veranschaulicht vom bemühten Ende, das vielem zuwiderläuft, was in den vorangegangenen zwei Stunden aufgebaut wurde.

★★★

Sonntag, 22. April 2012

Michael


★★★

The world abounds in delicate subjects, many of which have been the inspiration for films, despite their stigma. However, there are a few that are so tabooed that even the notion of centering a film, a work of fiction no less, around them generates controversy. Austrian casting director and actor Markus Schleinzer experienced this with his first feature as a director and screenwriter. Michael is about paedophilia, its main character being the offender. This would be a risky project to actualise under any circumstances but the matter is made even more precarious by the fact that Schleinzer’s native country is only slowly recovering from the trauma of two cases concerning paedophilia. Then again, controversy and angry responses from critics are exactly what a debut filmmaker like Schleinzer needs. If you strip Michael to its bare essentials, you find a clinical, tasteful, overly distant drama about one of the most horrible crimes imaginable.

Ganze Kritik auf The Zurich English Student (online einsehbar).

Donnerstag, 19. April 2012

The Lady

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Mit einem für ihn ungewöhnlichen Projekt meldet sich Luc Besson im grossen Stil als Regisseur zurück. Im mit grosser Begeisterung vorgetragenen Biopic The Lady verneigt er sich vor der burmesischen Oppositionspolitikerin Aung San Suu Kyi.

Zu den ersten Lektionen, welche ein angehender Filmemacher lernen muss, gehört, dass ein durch ein Objektiv betrachteter Gegenstand aufhört, der Realität anzugehören. Dies hat sich Luc Besson in seiner nun schon 31 Jahre währenden Karriere stets zu Herzen genommen und immer gekonnt mit Überzeichnung und -stilisierung operiert, mal erfolgreich, mal weniger. Es überrascht demnach also nicht, dass er The Lady nicht als rundum wahre Geschichte verkauft – trotz akribischer Recherche, einschliesslich eines Gesprächs mit Aung San Suu Kyi –, sondern vielmehr als "based on a true story". Trotzdem: Die Kerninformationen, die der Film in kurzweiligen 135 Minuten darlegt, sind sehr akkurat.

Suu Kyi (Michelle Yeoh), Tochter des burmesischen Freiheitskämpfers und Staatsgründers Aung San (1915–1947), lebte viele Jahre mit ihrem Mann Michael (der hervorragende David Thewlis) und ihren Söhnen im englischen Oxford. Als ihre Mutter 1988 einen Schlaganfall erleidet, reist sie in ihr Heimatland zurück, wo sie mitansehen muss, wie ein Studentenaufstand blutig niedergeschlagen wird. Sie beschliesst, ihr Leben der Demokratiebewegung ihres Landes zu widmen, was ihr zwar unter anderem den Friedensnobelpreis einbringt, sie aber auch zum Feindbild der Militärjunta unter General Than Shwe (Agga Poechit) macht, welche sie mehrfach unter Hausarrest stellt und ihrer Familie die Einreise verwehrt.

Ruhiger Widerstand: Eine Wahlkampfveranstaltung Aung San Suu Kyis (Michelle Yeoh) wird vom burmesischen Militär gestört.
Während sich die Frauen in Bessons bisheriger Filmografie nicht selten durch einen ausgesprochenen Hang zur Brutalität hervortaten – von Anne Parillauds Nikita über Natalie Portman in Léon bis hin zu Milla Jovovichs Jeanne d'Arc –, ist Suu Kyi eine stille Kämpferin, die mit eiserner Disziplin für ihre Sache einsteht. Dass dabei ganz bewusst Parallelen zum Leben Mahatma Gandhis gezogen werden, ist angesichts ihrer beeindruckenden Leistungen absolut folgerichtig. Dennoch wirkt das Ganze stellenweise etwas gar pathetisch, sodass einen mehrfach das Gefühl beschleicht, man wohne weniger einem Biopic und mehr einer Hagiografie bei. Zudem macht sich Besson des Vergehens schuldig, gewisse Elemente seiner Geschichte, welche schlussendlich eher stoppt statt endet, zu stark zu vereinfachen, wobei sich auch sein Flair für die Stilisierung bemerkbar macht. Aung Sans Ermordung wird zur elegant komponierten Stilübung; und Than Shwe wird zum korrupten Bösewicht im Stile von Gary Oldmans Stansfield (Léon).

Suu Kyi jedoch bleibt so natürlich, wie es das von hölzernen Dialogen durchsetzte Drehbuch erlaubt, nicht zuletzt dank Michelle Yeohs Darstellung. Zwar tut sich die Malaiin, die hier in die Fussstapfen Adelle Lutz' tritt, welche die Friedensnobelpreisträgerin bereits 1995 in John Boormans Beyond Rangoon verkörperte, in den Passagen auf Burmesisch schwer, doch es gelingt ihr vorzüglich, ihrer Figur die Strahlkraft der Realvorlage zu verleihen.

The Lady hätte womöglich besser funktioniert, wäre er einige Monate später erschienen, da er dann den grossen Sieg der Partei Suu Kyis bei den Nachwahlen in Burma hätte beinhalten können. So aber ist Bessons 14. Film ein unvollkommenes, aber durchaus anregendes, Biopic und obendrein sein bestes Werk seit Jahren.

★★★