Montag, 31. Januar 2011

Des hommes et des dieux

Richtungsweisendes Gespräch: Père Christian (Lambert Wilson, Mitte) bespricht mit seinen Ordensbrüdern, ob sie die Klosteranlage im algerischen Tibhirine verlassen sollen oder nicht.

5.5 Sterne

In der Nacht vom 26. auf den 27. März 1996 wurden sieben Trappisten-Mönche aus der Klosteranlange Abbaye Notre-Dame de l'Atlas in Tibhirine, im Norden Algeriens, entführt und am 21. Mai desselben Jahres tot aufgefunden. Wer hinter dem Massaker steckt, ist umstritten, obwohl die radikalislamische Groupe Islamique Armé sich dazu bekannt hat. Doch es gibt Berichte, nach denen die algerische Regierung ihre Finger im Spiel gehabt haben soll. Xavier Beauvois interessiert sich aber nur am Rande für die tatsächlichen Begebenheiten in seinem Film Des hommes et des dieux und benutzt die Tragödie als Parabel auf Glauben, Humanismus und interreligiöses Verständnis. Wie in seinem bisher erfolgreichsten Film - dem eindringlichen Polizeidrama Le petit lieutenant - vertraut er auch hier auf eine minimalistische Vorgehensweise: Es herrschen Ruhe und Stille vor, ganz dem Setting des Klosters entsprechend. Eine Oscarnomination blieb ihm verwehrt, doch für die Césars wurde Des hommes et des dieux ganze elfmal nominiert - hochverdient.

Das filmische Beschreiben christlich-muslimischer Beziehungen ist seit dem 11. September 2001 nichts Neues mehr. Doch Xavier Beauvois geht einen Schritt weiter: Bei ihm steht nicht nur die Beziehung der beiden grössten Weltreligionen im Zentrum, sondern auch die Koexistenz - ein kleiner, aber feiner Unterschied. Besonders während der ersten halben Stunde beeindruckt Des hommes et des dieux mit der kitschfreien Darstellung des Credos "Wir sind alle Menschen": Die Mönche nehmen an muslimischen Feiern teil, lesen den Koran und behandeln die algerischen Dorfbewohner in der Arztpraxis des Klosters, während die muslimischen Dorfchefs mit ihnen über die politische Lage sprechen, Islamisten als unreligiöse Heuchler bezeichnen und zum Gemeinschaftsgebet einladen. Keine der beiden Seiten hat missionarische Absichten. Einerseits differenziert diese Exposition zwischen islamistischen Eifereren und der durchschnittlichen muslimischen Landbevölkerung, andererseits erinnert sie einen daran, dass die katholische Kirche nicht nur aus pädophilen Priestern und Holocaustleugnern besteht. Es wird einem bewusst, dass Mönche eigentlich bewundernswerte Menschen sind, die ihr Leben einer Sache widmen, an die sie glauben und die sie erfüllt. Wie weit diese Hingabe gehen kann, gehen soll, ist Thema mehrerer Diskussionen unter den acht Mönchen, da das Kloster immer mehr Gefahr läuft, das Ziel terroristischer Akte zu werden. Beauvois' und Etienne Comars Drehbuch lässt die Figuren sehr durchdacht die pragmatische sowie die ethisch-moralische Seite des Dilemmas abwägen: Verlassen sie das Kloster, lassen sie die Dorfbewohner im Stich und kapitulieren vor dem Terrorismus; bleiben sie, werden sie vielleicht früher oder später einen gewaltsamen Tod finden. Letztendlich bleiben sie alle und geben sich weiterhin ganz ihren Idealen und ihrem Auftrag hin: Sie helfen den Menschen, wo sie nur können - sie behandeln selbst verwundete Guerilla-Kämpfer -, sie beten, singen und halten das Prinzip der Nächstenliebe und der Treue hoch. Die Kulmination ist der Vorabend der Entführung: Die Mönche sitzen an einem Tisch, trinken Wein und lauschen Tschaikowskis "Schwanensee" - neben ihren Chorälen die einzige Musik in Des hommes et des dieux. Die Szene, eine gut platzierte Allegorie auf das letzte Abendmahl, ist - abgesehen von der überwältigenden Musik - stumm und konzentriert sich voll und ganz auf die Gesichter der Charaktere, die langsam ihr Lächeln wiederfinden; denn sie wissen, dass das, was sie tun, das Richtige ist.

Überhaupt ist die Schlussviertelstunde des Films eine Meisterleistung der Inszenierung und Grund genug für einen César-Gewinn in der Kategorie "Bester Regisseur" für Xavier Beauvois. In diesem letzten Teil wird kaum gesprochen und beim Zuschauer herrscht ein Gefühl des bangen Wartens vor. Eine gewisse Versöhnlichkeit ist dem Ende aber auch nicht abzusprechen: Nicht nur die Szene des "letzten Abendmahls" veranschaulicht dies, sondern auch die Mönche, die sich als geschlossene Einheit der Gewalt, die in Form eines Kampfhubschraubers ihre Kapelle umkreist, stellen; oder Vorsteher Christian, der sein Quasi-Testament in Gebetform verliest, während auf der Leinwand winterliche Bilder von Notre-Dame de l'Atlas zu sehen. Schlussendlich schliesst Des hommes et des dieux mit einem tief bewegenden letzten Bild, das man so schnell nicht mehr vergisst. Doch Beauvois' Regie trägt während des ganzen Films meisterhafte Züge. Die Gegenüberstellung des ruhigen und geregelten Klosterlebens mit der sich der Anarchie ergebenden Aussenwelt ist äusserst wirkungs- und stimmungsvoll gehalten. Ebenso die Messen der Ordensbrüder, deren Gesänge ein wiederkehrendes Thema des Films ist. Abgerundet wird das Ganze durch die tolle Kameraarbeit von Caroline Champetier, deren lange Einstellungen das Klosterleben und die Gemütslage der Figuren optimal einfängt.

Wer kein Freund von langsamen und ruhigen Inszenierungen ist, ist bei Des hommes et des dieux definitiv an der falschen Adresse. Beauvois lässt sich für jedes Element der Geschichte genug Zeit und gibt den Schauspielern die Chance, ihre Charaktere Schritt für Schritt zu entwickeln. Der bei den Césars als Hauptdarsteller gelistete Lambert Wilson, Sohn des 2010 verstorbenen Georges Wilson, einer franzöischen Schauspiel-Legende, spielt den Père Christian, auf dessen Schultern eine enorme Verantwortung lastet. Er spricht sich von Anfang gegen das Verlassen des Klosters aus und erntet dafür von seinen Brüdern einige Kritik. Doch man merkt ihm an, dass er wirklich bereit ist, für seine Ideale - Liebe und Treue - einzustehen und sie gewaltlos zu verteidigen. Wilsons Performance ist zurückhaltend, überzeugt aber durch eine Ausdrucksstärke erster Güte. An seiner Seite glänzen vor allem Olivier Rabourdin als Christophe, der jüngste Mönch im Bunde, und Michael Lonsdale, der die stärkste Leistung des Casts abliefert, als Bruder Luc. Lonsdale, ein bekanntes Gesicht im internationalen Kino (Munich, Ronin, Der Name der Rose), spielt den asthmatischen Kloster-Arzt mit ergreifender Menschlichkeit, gemischt mit einer Prise gallischen Humors. Luc ist eine Art Vaterfigur für die Dorfbewohner und seine Brüder und verliert nicht mal dann die Ruhe, wenn er einen Terroristen behandeln muss. Ein spannender Charakter, hervorragend gespielt von einem begnadeten Schauspieler. Der Rest des Casts, obwohl mit weniger Screentime, vermag ebenfalls sehr zu überzeugen, allen voran der 83-jährige Jacques Herlin als Bruder Amédée, einer von zwei Mönchen, die der Entführung entgingen (Amédée starb 2008 im Alter von 88 Jahren). Herlins Amédée lässt, wie auch Lonsdales Luc, mehrfach Humor aufblitzen und fungiert auch einige Male als Stimme der Besinnung. Sein von Tränen begleitetes Lächeln beim "letzten Abendmahl" ist besonders kraftvoll und kann sinnbildlich für das ganze Ende verstanden werden.

Es ist sicherlich einfach, Des hommes et des dieux als kitschigen Gutmenschenfilm über die humanistische Seite der Religion abzutun. Doch das wäre eine bemitleidenswert oberflächliche, ja ignorante Sichtweise. Xavier Beauvois hat einmal mehr sein cineastisches Talent eindrucksvoll bewiesen und liefert einen intimen, vorsichtigen und starken Film ab, der mit seiner Menschlichkeit und seinem Sinn für Zurückhaltung bewegt und zum Nachdenken anregt. Des hommes et des dieux ist grossartiges französisches Kino, das den Mönchen der Abbaye Notre-Dame de l'Atlas die verdiente Bewunderung entgegenbringt und ihnen ein würdiges filmisches Denkmal setzt.

Sonntag, 30. Januar 2011

Another Year

Unter Freunden: Mary (Lesley Manville, Mitte) ist wieder einmal zu Gast bei Tom (Jim Broadbent) und Gerri (Ruth Sheen).

★★★★★★

Mike Leigh gehört zu den grossen Realisten des Kinos. In seinen Filmen agieren Figuren, die direkt aus dem Leben gegriffen zu sein scheinen und die in ihrer Alltäglichkeit so vollendet sind, dass man sie irgendwoher zu kennen glaubt. Doch damit nicht genug: Leigh widersteht der Versuchung, seine Charaktere in eine aussergewöhnliche Situation hineinzuversetzen, sondern belässt es dabei, sie zu beobachten und sie ein Eigenleben entwickeln zu lassen. Das Ergebnis sind jeweils episodenhafte Filme, die im Grunde nur lose zusammenhängen, durch ihre Protagonisten jedoch zusammengehalten werden und trotz allem als geschlossene Einheit funktionieren. Another Year ist ein weiterer Beleg für Leighs diesbezügliches Talent. Sein erster Film seit dem Hit Happy-Go-Lucky (2007) ist eine kleine Perle des britischen Kinos.

Der Name ist bei Another Year Programm. Man könnte sogar so weit gehen und dem Filmtitel ein "Just" anhängen. Denn so verhält sich die Geschichte und so fühlt sie sich auch an. Charaktere kommen und gehen, sind im einen Moment wichtig, nur um im nächsten wieder komplett von der Bildfläche zu verschwinden. Und im Zentrum stehen Tom und Gerri, ein glückliches Ehepaar um die 60, er ein Geologe, sie eine Psychologin, in deren Schrebergarten sich der Fortlauf der Jahreszeiten und des Lebens widerspiegelt. Tom und Gerri sind der ruhende Pol in einem kleinen Ensemble von Menschen, die auf die eine oder andere Weise - manche mehr, manche weniger - unglücklich sind. Jim Broadbent und Ruth Sheen strahlen in ihren jeweiligen Rollen eine bewundernswerte Gemütsruhe und Einfühlsamkeit aus, jedoch immer gewürzt mit sanfter britischer Ironie; etwa wenn Gerri sich erkundigt, wie Tom bei seiner Arbeit vorankommt, worauf er schmunzelnd mit "Inexorably!" antwortet. Sie sind kein aussergewöhnliches Paar, aber immerhin eines, das man nur zu gerne kennt. Entsprechend gehen diverse Freunde und Bekannte in ihrem Haus aus und ein: Mary, gespielt von der starken Lesley Manville, ist geschieden, hat die Suche nach dem "Richtigen" allerdings noch nicht aufgegeben und hat ein Problem mit dem Alkohol; doch sie gaukelt sich vor, mit ihrem Leben zufrieden zu sein. Zu allem Überfluss scheint sie sich in Tom und Gerris erwachsenen Sohn Joe, der von Oliver Maltman sehr nuanciert dargestellt wird, verguckt zu haben, trotz des erheblichen Altersunterschieds. Entsprechend verstimmt reagiert sie, als Joe zum ersten Mal seit Jahren in einer Beziehung ist; in einer, die in Sachen Glück der seiner Eltern in nicht viel nachsteht. Manvilles kraftvollste Szene ist ihr Dialog mit Ronnie, Toms Bruder, hervorragend gespielt von David Bradley (den man als Hausmeister Argus Filch aus den Harry Potter-Filmen kennen könnte). Der frisch verwitwete Ronnie sagt kaum ein Wort und steht immer noch unter Schock. Doch dank ihrer Hilfe findet er ganz langsam seinen Lebenssinn wieder. Für Mary hat das ausgedehnte Gespräch einen leicht kathartischen Charakter, da sie für einmal keine Hilfe annehmen muss, sondern jemandem helfen kann, möglicherweise sogar unbewusst.

Der Grossteil der Handlung dreht sich um Tom, Gerri, Mary und Joe und ihre Beziehung untereinander. Doch wie auch im richtigen Leben verläuft diese Geschichte nicht ohne andere Menschen und Ereignisse. Seien es trivial anmutende Dinge wie Marys neues Auto, der Besuch eines alten Freundes von Tom oder der Auftritt einer todunglücklichen Patientin Gerris, gespielt von Imelda Staunton (Mike Leighs Vera Drake), die aber doch alle Einfluss auf die Protagonisten üben, oder sei es ein tragischer Anlass wie der Tod und die Beerdigung von Ronnies Frau - es findet alles Erwähnung.

Letztendlich sind die Charaktere die grösste Stärke von Another Year. Es überrascht nicht, dass Mike Leigh und sein Cast sie über Monate hinweg gemeinsam entwickelt haben. Selten wurden einem in jüngerer Zeit so abgerundete und vollendete Figuren präsentiert. Es ist ein kleines Sammelsurium echter Menschen, mit denen man sich problemlos identifiziert und für deren Leben man grenzenloses Interesse verspürt. Und genau wie sie sind auch Leighs Dialoge und Situationen frei von Klischees und unrealistischen Kunstgriffen. Die Dialoge sind Alltagsgespräche, denen man vermutlich so oder in ähnlicher Form auch schon beiwohnte, doch man verfolgt sie sehr gerne, vielleicht gerade deshalb. Zudem ist Leigh nicht nur ein Meister des Realismus und der feinen Beobachtung, sondern auch einer des britischen Humors. Besonders wenn Tom, Gerri und Joe sich miteinander unterhalten, herrscht stets eine angenehme Atmosphäre der freundlichen und lockeren Ironie (Stichwort: "Basically he just digs holes.").

Ein Wort, welches einem im Zusammenhang mit Another Year immer wieder einfällt, ist "Understatement". Dies bekommt man in vielen Filmen zu sehen, doch in Another Year wirkt es völlig natürlich. Es scheint so, als ob es ganz von alleine den Ton und die Art des Films bestimmen würde. Kameramann Dick Pope hat hier sicherlich auch einen Teil dazu beigetragen. Seine langen, unaufgeregten Einstellungen lassen den Schauspielern Zeit, viel mit Mimik zu arbeiten. Ausserdem verfährt Pope mehrmals nach dem Prinzip, einer Szene einen festen Rahmen zu geben und die Figuren ihn durchqueren, verlassen und wieder betreten zu lassen. Auch darf man seine Farbschemen nicht vergessen: besonders während des im Winter spielenden dritten Akts herrschen kalte Farben vor, die perfekt zur Beerdigung von Ronnies Frau und Marys Gemütslage passen.

Another Year
ist ein Film, der nur schwer zu beschreiben ist. Er ist genial in seiner Einfachheit und seiner Bescheidenheit. Obwohl er mehr Beobachtung als Erzählung ist und sich so einer konventionellen Story widersetzt, fasziniert und berührt er mit seinen Figuren, die, gemeinsam mit Tom und Gerris Schrebergarten, die einzige Konstante in den vier Kapiteln - Frühling, Sommer, Herbst und Winter - sind. Mike Leigh weiss, wo seine Stärken liegen, und die spielt er hier grandios aus. Sein brillantes Drehbuch, welches die Oscarnomination mehr als nur verdient hat, kreiert ein eigenes kleines Universum, das von überwiegend nachfühlbaren und sympathischen Charakteren bevölkert wird, für die wir uns wirklich und wahrhaftig interessieren. Another Year ist ein intimer, humorvoller und ehrlicher Blick auf normale Menschen in alltäglichen Situationen. Wieder einmal zeigt Mike Leigh, dass auch gerade ein einfaches Konzept einen wunderbaren Film ergeben kann.

Montag, 10. Januar 2011

Mittwoch, 29. Dezember 2010

The Kids Are All Right

Familienidyll? Samenspender Paul (Mark Ruffalo, rechts) zu Besuch bei der Familie, die es dank seiner Spende gibt: Eltern Nic (Annette Bening, links) und Jules (Julianne Moore, 2.v.l.) und Kinder Laser (Josh Hutcherson) und Joni (Mia Wasikowska).

4.5 Sterne

Wenn man versucht, Leuten die Frage zu beantworten, worum es in The Kids Are All Right geht, dann kommt man nicht darum herum, den Begriff "lesbisches Elternpaar" fallen zu lassen. Die Reaktion, die man aller Wahrscheinlichkeit nach erntet, ist: "Oh nein, schon wieder so ein Hollywood-Emanzipationsschinken!" Es stimmt, dass die Homosexualität in den letzten Jahren von der Filmindustrie quasi zu Tode thematisiert wurde. Natürlich ist es eine immens wichtige Angelegenheit, aber beim durchschnittlichen Kinogänger setzt irgendwann doch der Überdruss ein. Aus diesem Grund wohl wurde The Kids Are All Right hierzulande von nicht allzu vielen gesehen, was ein Jammer ist, da Lisa Cholodenkos Film Hollywoods Idee, man müsse der breiten Masse Homosexualität als etwas Positives "verkaufen", hinter sich lässt. Cholodenko zeigt keine prüden Nachbarn, die sich über das gleichgeschlechtliche Paar empören, und keine wegen ihrer Eltern sozial ausgegrenzten Kinder. Stattdessen beschäftigt sie sich mit gnadenlosem Realismus mit den Konflikten der scheinbar perfekten amerikanischen Vorstadtfamilie, die nicht auf sexueller Gesinnung gründen.

Was für eine Art Film ist The Kids Are All Right? Diese Frage stellt man sich, sobald man den Kinosaal verlässt. Einerseits ist es naürlich ein Familiendrama mit einer Geschichte, die man in ähnlicher Form schon ein paar Mal gesehen hat. Andererseits ist es auch eine doppelbödige Komödie, die stellenweise an Little Miss Sunshine oder Juno erinnert. Aber damit wird man dem Film nur halbwegs gerecht. Manchmal wähnt man sich in einer Satire, dann wieder in einem Coming-of-Age-Film, nur um anschliessend das Gefühl zu haben, man wohne einem Beziehungsmelodram bei. Diese Vielfältigkeit lässt sich zwar insofern durch das äusserst reale Drehbuch von Lisa Cholodenko und Stuart Blumberg erklären, als dass das Leben auch kein streng definiertes "Genre" hat, doch als Kinozuschauer wünscht man sich doch eine mehr oder minder klare Linie. Zugegeben, es fällt schwer, den Drehbuchautoren diese Sprunghaftigkeit, diese Unentschlossenheit, was ihr Film denn nun eigentlich sein soll, zum Vorwurf zu machen, da ihr Endprodukt dadurch noch realistischer wirkt. Dennoch wäre eine teilweise Vereinheitlichung des Tonfalls wohl keine schlechte Idee gewesen.

Aber es sollte festgehalten werden, dass es nicht einfach ist, The Kids Are All Right zu mögen, vermutlich deshalb, weil der Film sich keine Vereinfachung der Realität erlaubt. Die Grundgeschichte mag nicht sonderlich originell sein - die zwei Kinder lesbischer Eltern wollen ihren leiblichen Vater, den anonymen Samenspender, treffen und freunden sich mit ihm an, woraufhin er der Familie langsam näher kommt und damit für Spannungen sorgt -, doch die Dialoge und Konflikte sind mitten aus dem Leben gegriffen. Das erste Treffen von Laser und Joni mit ihrem biologischen Vater ist an Verlegenheit kaum zu überbieten und ist alles andere als einfach zu ertragen. Unangenehmes Lächeln, ausgedehnte Pausen, das verzweifelte Suchen nach Gespächsthemen - wer kennt das nicht? Cholodenko und Blumberg haben die Gefühlslage der Charaktere optimal eingefangen; wie unterhält man sich mit jemandem, der vor 19 Jahren Samen gespendet hat, aus dem man selber entstanden ist? Und auf der anderen Seite: Wie führt man ein Gespräch mit dem Resultat einer lange vergangenen finanziellen Notlage? Auch umgeht der Film mit dem Thema verbundene Klischees. Mit Schrecken erinnert man sich an Made in America, wo es darum ging, dass ein schwarzes Mädchen aus der Samenspende eines arroganten Weissen hervorging. Nein, Paul ist ein liebenswerter, wenn auch leicht selbstgefälliger Enddreissiger, dem ein kleines Bio-Restaurant gehört. Was lernen wir daraus? Charaktere müssen keine extremen Eigenschaften oder Fehler haben, um für interessante Konflikte zu sorgen. Doch es ist gerade diese Normalität, die es so schwer machen, The Kids Are All Right etwas abgewinnen zu können. Oftmals, auch in ansonsten relativ realistischen Streifen, sind Figuren und Situationen dermassen überzeichnet, dass der Bezug zur Realität trotz allem verloren geht. Cholodenkos Protagonisten sind jedoch dermassen "normal", im Rahmen der menschlichen Möglichkeit mindestens, dass wir uns problemlos in ihnen wiederfinden, was nicht immer eine angenehme Erfahrung ist.

Doch dieser radikale Realismus hindert den Film nicht daran, eine durchaus spannende und sehr humorvolle Geschichte zu erzählen. Es ist faszinierend zu sehen, wie die Figuren miteinander in Verbindung stehen und interagieren. Und da zeigt sich wieder die bewundernswerte Nonchalance, mit der das Thema der homosexuellen Eltern behandelt wird: Joni und Laser haben nicht das Gefühl, dass ihnen ein männlicher Elternteil fehlt, sie sind bloss neugierig, wer ihr leiblicher Vater ist. Lediglich die Überfürsorglichkeit ihrer beiden Mütter geht ihnen auf die Nerven - ein Problem, welches auch Teenager mit "traditionellen" Eltern gut kennen. Entsprechend sehen beide in Paul eine Art Alternativ-Vorbild, da er eine ziemlich antiautoritäre Philosophie pflegt. Paul wiederum, konfrontiert mit der Tatsache, dass er, zumindest vom biologischen Standpunkt her, eine Familie hat, beginnt sein Junggesellenleben zu hinterfragen. Was daraus folgt, ist eine Affäre mit Jules, Jonis und Lasers Mutter, was das Eheleben Jules' und Nics, sowieso schon erschwert durch Nics Weinkonsum, vollends aus dem Tritt bringt. Wie diese generationsübergreifenden Probleme miteinander verkettet sind, ist schlicht beeindruckend. Dass es dem Film zusätzlich noch gelingt, das Ganze mit streckenweise sehr unterhaltsamen Dialogen auszustatten, verdient ebenfalls Anerkennung.

Was The Kids Are All Right aber am meisten auszeichnet, sind die Schauspieler. Der Cast ist klein, was jedem einzelnen Mitglied ermöglicht, seiner Figur besonders viel Tiefe zu verleihen. Josh Hutcherson glänzt in der Rolle des orientierungslosen Laser. Die Szene, in der er einen streunenden Hund davor bewahrt, von seinem "Freund" Clay gequält zu werden und Clay daraufhin die Freundschaft aufkündigt, zeigt Hutchersons breites schauspielerisches Spektrum. Ebenso Mia Wasikowska, bekannt als 19-jährige Alice in Tim Burtons Alice in Wonderland. Ihre Joni leidet darunter, dass sie das "perfekte Kind der lesbischen Eltern" sein muss. Aus diesem Grund leidet auch sie an der Orientierungslosigkeit ihres Bruders; sie weiss nicht, was für eine Beziehung sie zu ihrem platonischen (?) Freund unterhalten soll, sie kann sich nicht so recht entscheiden, ob sie ihre Freundin um deren sexuelle Offenheit beneidet, und sie sich vor allem nicht sicher, ob sie wirklich so erwachsen ist, wie sie es sich einredet. Fast jede Szene mit Joni, vor allem gegen Ende des Films, platzt fast vor emotionaler Spannung, und Wasikowska holt alles aus ihr heraus. überhaupt ist The Kids Are All Right voll mit Subtext. Kaum eine Bewegung ist keine verschwiegene Gefühlsregung. Um dies wirklich überzeugend zu spielen, braucht es hochkarätige Schauspieler und Cholodenkos Entscheidung, Annette Bening und Julianne Moore als Hauptdarstellerinnen zu casten, hätte nicht besser sein können. Bening (Nic) und Moore (Jules) geben jeden Aspekt einer gefährdeten Beziehung perfekt wieder. Der schauspielerische Höhepunkt des Films ist jedoch Mark Ruffalo. So gewinnend Paul auch ist, er ist letztendlich eine tragische Figur, da er die Freundschaft mit seinen biologischen Kindern nach seiner Affäre mit Jules aufgeben muss. Ruffalo vermag diese Tragik hervorragend zu vermitteln. Wer ihn bis jetzt als dramatischen Schauspieler nicht ernst genommen hat, wird hier eine Götterdämmerung erleben.

Lisa Cholodenko erzählt mit The Kids Are All Right keine sonderlich originelle Geschichte. Doch wie im echten Leben sind es die Protagonisten, die den Unterschied ausmachen. Der Film ist die Studie von Familiendynamiken während einer Zerreissprobe. Dass dabei die Familienoberhäupter zwei Frauen sind, ist ein zentrales Thema, aber nicht das Problem der Sache. Das Problem der Sache ist die Instabilität der Institution Familie. Jegliche Fremdkörper haben das Potential, den Verbund zu sprengen. So gesehen ist Cholodenkos Film ein wichtiger Beitrag zur Diskussion, ob sich die Idee der Familie überlebt hat. Der Realismus von The Kids Are All Right mag nicht massentauglich sein, aber wer wieder einmal eine gute Tragikomödie/Beziehungsdrama mit viel Subtext sehen will, der sollte ihn sich keinesfalls entgehen lassen.

Montag, 22. November 2010

Harry Potter and the Deathly Hallows: Part 1

Weitergabe des Auftrags: Noch-Zaubereiminister Rufus Scrimgeour (Bill Nighy, links) verliest das Testament von Albus Dumbledore, der Harry (Daniel Radcliffe, rechts), Ron (Rupert Grint) und Hermione (Emma Watson) einige Dinge hinterlassen hat.
 
5.5 Sterne

Als bekanntgegeben wurde, dass Harry Potter and the Deathly Hallows in zwei Teilen veröffentlicht würde, überschlugen sich die zynischen Kommentare unter Filmkennern und Buchfans: Warner Brothers wolle seine goldene Gans noch so lange wie möglich ausschlachten, das Ganze sei eine gigantische Geldmacherei und den treuen Harry-Potter-Freaks werde das Geld schamlos aus der Tasche gezogen - dies waren Äusserungen, die man allenthalben hören konnte. Dabei war die Zweiteilung der Geschichte vermutlich die beste Idee, welche die Produzenten für die Filmserie je hatten. Als Einzelfilm hätte die Verfilmung des letzten Teils von J.K. Rowlings Saga wohl alle enttäuscht; zu dicht ist die Handlung, zu viele Handlungsstränge und Charakterkonflikte werden zusammengeführt und aufgelöst. Harry Potter and the Deathly Hallows - Part 1 dürfte die meisten Kritiker befriedigen. Und obwohl der Film nicht perfekt ist, so ist es doch irgendwie die Harry-Potter-Verfilmung, die wir uns alle ursprünglich erträumt haben.

Die Qualität der Tragödie erster Teil kann im Prinzip mit einem einzigen Satz beschrieben werden: Wo Harry Potter and the Half-Blood Prince schwächelte, triumphiert sein Nachfolger - und umgekehrt, mehr oder weniger. Drehbuchautor Steve Kloves brachte 2009 das Kunststück fertig, die heterogene Geschichte des sechsten Harry-Potter-Bandes, dem etwas der rote Faden fehlte, in einen verdichteten, stringenten Film zu verwandeln. Dafür musste man als Buchkenner allerdings den stellenweise etwas zu lockeren Umgang mit der ursprünglichen Story hinnehmen. Scheinbar sinnlose Dinge wurden dazugedichtet, essentielle Eckpunkte des Plots wurden übergangen oder radikal gekürzt. Das gibt es bei Harry Potter and the Deathly Hallows - Part 1 nicht. Keiner der vergangenen sechs Filme - inklusive diejenigen unter der Regie von Chris Columbus - hält sich so genau an die literarische Vorlage wie David Yates' neuster Wurf. Kaum eine entscheidende Szene fehlt, keine Sequenz widerspricht der Aussage des Buches, kleine Details, welche auch in geschriebener Form den Plot nicht zwingend vorantreiben - beispielsweise die Staubfigur von Albus Dumbledore, die Eindringlinge aus Sirius Blacks altem Haus vertreiben soll -, werden gezeigt, "vergessene" Charaktere rücken endlich etwas mehr in den Vordergrund - allen voran Mundungus Fletcher -, und Dialoge werden Wort für Wort wiedergegeben - etwa der unübersetzbare und wunderbar lakonische "Hol(e)y"-Dialog der Weasley-Zwillinge Fred und George oder Hauself Dobbys fantastischer Einzeiler "Dobby never meant to kill; Dobby only meant to maim... or seriously injure!". Der Grund für diese plötzliche Detailverliebtheit, die wohl jeden eingefleischten Fan der Materie erfreuen wird, ist in der Geschichte selbst zu suchen: Harry Potter and the Deathly Hallows ist das einzige Buch der Serie, welchem nicht der Schullalltag in Hogwarts zugrunde liegt. So verliert die Handlung die Kapazität zu mäandern und grössere Umwege zu nehmen. Zwar enthält auch der siebte Teil so etwas wie Nebenplots, aber da sich diese ausschliesslich um die drei Hauptfiguren drehen und direkten Einfluss auf den Lauf der Geschichte nehmen, konnten es sich David Yates und Steve Kloves nicht leisten, sich gross an ihnen zu vergreifen. Doch was hat Harry Potter and the Half-Blood Prince nun seinem Nachfolger voraus? Die Stringenz. Diese fehlt dem neuen Film etwas. Dennoch kommt keinerlei Langeweile auf, da das Geschehen immer zu begeistern vermag.

Aber Kloves' Drehbuch beschränkt sich nicht nur auf das genaue Wiedergeben der Originalstory. Harry Potter and the Deathly Hallows ist ein Buch, welches sehr viel Wert darauf legt, was in den Köpfen der Charaktere vor sich geht. Kloves hat es gemeinsam mit Regisseur Yates und Kameramann Eduardo Serra, der in einigen Szenen so einfallsreich mit Licht und Schatten spielt, dass man das Gefühl hat, Bruno Delbonnel wäre immer noch am Werk, wunderbar verstanden, die emotionalen inneren Konflikte der Protagonisten fast wortlos wiederzugeben. Eine diesbezügliche Schlüsselszene ist die erste des Films: Hermione löscht die Erinnerungen ihrer Eltern an sie, Harry sieht mit unverkennbar melancholischer Miene zu, wie sich die von ihm eigentlich gehassten Dursleys in Sicherheit bringen, und Ron distanziert sich langsam von der Geborgenheit seiner Familie - alle drei schliessen auf ihre eigene Art mit ihrer Kindheit ab und stellen sich ihrem Schicksal.

Auch glänzt der Film durch Experimente, von denen man in der Serie bisher noch nicht allzu viele sehen durfte. Die von Hermione vorgelesene Fabel der drei Brüder - die Geschichte der Heiligtümer des Todes - wird dem Zuschauer zum Beispiel als animierte Sequenz mit schemenhaften Figuren präsentiert - ein Treffer ins Schwarze: Die Szene ist eine der besten der Serie. Diese Freiheiten, die sich die Filmemacher nahmen, zeigen sehr schön auf, warum die Entscheidung, Harry Potter and the Deathly Hallows in zwei Teile zu teilen, eine brillante Eingebung war: Einerseits fällt jeglicher Zeitdruck von der Geschichte ab, weshalb sie sich vollständig entfalten kann und einen eleganteren Erzählfluss und eine detailliertere Charakterstudie erlaubt; andererseits schliessen sich bei so viel zur Verfügung stehender Zeit filmische Eigenständigkeit und Werktreue nicht aus. Ausserdem kann der Film so eine sehr nuancierte Atmosphäre erzeugen; Action- und Gruselszenen werden langsam und sorgsam aufgebaut und wenn sie da sind, wird das Maximum aus ihnen herausgeholt. Ein weiteres Verdienst der Zweiteilung ist die Rückkehr der "kleinen" Szenen, die David Yates besonders gut beherrscht. Immer wieder nimmt sich der Film Zeit, persönliche Momente, die den Plot nur indirekt vorantreiben, zu unterstreichen; so etwa Rons Versuch, Hermione "Für Elise" auf dem Klavier nachzuspielen; der spontane Tanz von Harry und Hermione, der, obwohl stumm, unglaublich viel über das Innenleben der Figuren verrät; oder Hermione, die pötzlich den Gedanken äussert, einfach in einem ruhigen Waldstück, in dem sich nie etwas zu verändern scheint, zu bleiben und alt zu werden - alles Szenen, die, gemessen an ihrer poetischen Kraft, ihresgleichen in der Serie suchen.

Nicht nur die Charaktere haben sich seit Harry Potter and the Philosopher's Stone verändert; auch die Schauspieler selbst. Daniel Radcliffe, Rupert Grint und Emma Watson sind so Darsteller mit einem vor allem unter Jugendlichen enorm hohen Wiedererkennungswert geworden. Aber wie steht es um ihr schauspielerisches Talent? Nun, in diesem Bereich hat sich seit Harry Potter and the Half-Blood Prince kaum etwas verändert: Watson sticht als die begabteste Hauptdarstellerin hervor und erreicht überraschend viel mit einzelnen Gesichtsausdrücken. Doch auch Radcliffe und Grint zeigen, dass sie sich seit 2001 stetig verbessert haben.

Die Nebendarsteller haben wie immer nicht allzu viel Screentime, bemühen sich aber sichtlich, einen Eindruck zu hinterlassen. Am besten gelungen ist dies sicherlich Brendan Gleeson - dessen Sohn Domhnall übrigens Bill Weasley mimt -, der vor dem Tod seiner Figur noch einmal ihren ganzen Sarkasmus aufleben lässt. Aber auch Jason Isaacs nutzt seine kurzen Auftritte, um Lucius Malfoy so dreidimensional wirken zu lassen wie es Tom Felton in Harry Potter and the Half-Blood Prince mit Draco gemacht hat. Neben den üblichen Verdächtigen (David Thewlis als Lupin, Robbie Coltrane als Hagrid, Julie Walters und Mark Williams als Weasley-Eltern, James und Oliver Phelps als Weasley-Zwillinge, Evanna Lynch als Luna, Alan Rickman als Snape, Ralph Fiennes als Voldemort, Helena Bonham Carter als Bellatrix Lestrange, Timothy Spall als Wormtail) gesellten sich einerseits zwei Neuzugänge zum Cast dazu - Rhys Ifans als Xenophilius Lovegood und Bill Nighy als Zaubereiminister Rufus Scrimgeour - und andererseits kehrte ein prominenter Schauspieler in die Serie zurück - John Hurt als Zauberstabmacher Ollivander. Letzterer ist zwar kaum zu sehen, wird aber am Anfang von Harry Potter and the Deathly Hallows - Part 2 seinen Auftritt haben. Nighy hingegen holt in zwei Szenen das Letzte aus seiner Figur heraus. Man hat Nighy zwar schon subtiler spielen gesehen, aber er macht dennoch eine gute Figur als pathetischer Politiker. Und Rhys Ifans findet genau die richtige Balance zwischen der tragischen und der lustigen Seite von Mr. Lovegood.

Schlussendlich soll auch die wunderschöne Ausstattung von Andrew Ackland-Snow und Stephanie McMillan Erwähnung finden. Nicht nur wirken die Sets und Requisiten echt und atmosphärisch, sie lassen einen auch immer wieder unterhaltsame Kleinigkeiten wie Pamphlete im Stile der amerikanischen Anti-Kommunismus-Ära oder Anspielungen an frühere Filme entdecken.

Harry Potter and the Deathly Hallows - Part 1 ist genau das, was der Titel verspricht: Ein Teaser. Der Film endet mit Lord Voldemorts Ergreifung des mächtigsten Zauberstabs der Welt, also mit einem Cliffhanger sondergleichen. Dass dies gewisse Kinogänger frustriert, ist verständlich, aber es darf nicht zum Kritikpunkt erhoben werden. Das furiose Finale wird im zweiten Teil, der im Juli 2011 in den Kinos startet, sicherlich kommen, aber der Wert des ersten Teils darf auf keinen Fall ausser Acht gelassen werden. Obwohl primär die Voraussetzungen für einen krachenden letzten Akt geschaffen werden, ist es ein eigenständiger Film, der den Zuschauer noch einmal tief durchatmen lässt und die ruhigen und langsameren Momente, die während der Serie immer einen besonderen Reiz hatten, zelebriert. Es ist möglicherweise sogar der beste Film der Serie bis jetzt. Wenn der zweite Teil qualitativ am ersten Teil anknüpft, dann kann man sich auf einen gelungenen Serienabschluss freuen.

Montag, 11. Oktober 2010

The Social Network

Noch trifft man sich in der Realität: Mark Zuckerberg (Jesse Eisenberg, rechts) und sein Noch-Bester-Freund Eduardo Saverin (Andrew Garfield) planen ihren Internet-Coup schon auf dem Harvard-Campus.

6 Sterne

Facebook ist sicherlich die bahnbrechendste Neuerung, die das Internet in den letzten zehn Jahren erfahren hat. Die Idee, per sozialem Netzwerk mit der ganzen Welt verbunden zu sein, ist einfach, aber genial, und hat die vom Harvard-Studenten Mark Zuckerberg ins Leben gerufene Website quasi zum "Internet im Internet" gemacht. In letzter Zeit erhielt der inzwischen 26-jährige Zuckerberg, seines Zeichens der jüngste Milliardär der Welt, weniger Aufmerksamkeit seiner Genialität wegen, sondern eher, weil er gleich an mehreren Fronten gegen Plagiatsklagen kämpfen musste. Entsprechend verlor er innert kürzester Zeit enorm an Ansehen und musste erleben, wie auf seiner eigenen Website Myriaden von Hassgruppen gegen ihn gegründet wurden. Erschwerend hinzu kamen auch die Vorwürfe, Facebook nähme es mit dem Datenschutz nicht so genau und so wurde aus dem Internet-Wunderkind Amerikas der Buhmann einer ganzen Generation von Internet-Usern, die sich auf einmal um ihre Privatsphäre sorgten. Dass dieser Reaktion eine gehörige Portion Heuchelei anhaftet, soll hier nicht genauer unter die Lupe genommen werden, denn hier geht es um den neusten Film von David Fincher (Fight Club, Se7en) - The Social Network, basierend auf dem Buch The Accidental Billionaires von Ben Mezrich -, der sich mit der Person Zuckerberg auseinandersetzt und essentielle Fragen nach Gier, Freundschaft, Berühmtheit und, nicht zuletzt, nach der Illusion des virtuellen Freundeskreises stellt. Grosses Kino.

Auf dem Papier sieht das von Fincher und Drehbuchautor Aaron Sorkin (Charlie Wilson's War, A Few Good Men) initiierte Unterfangen eigentlich unmöglich aus. Wie soll man die Geschichte einer Website, in der Programmieren, Codieren und fortgeschrittene Computersprache eine wichtige Rolle spielen, in eine mitreissende Story verwandeln? Ganz zu schweigen von den Rechtsstreitereien, welche die Rahmenhandlung von The Social Network bilden. Die Antwort erscheint plump: Man verleiht dem Film das höchstmögliche Tempo. Das verlangt zwar die geistige Mitarbeit des Zuschauers, doch wie man seit Inception weiss, ist das keineswegs als Vorwurf zu verstehen. Sorkins Drehbuch ist voll von rasanten Dialogen und blitzschnellen Wendungen, doch niemals kommt die sorgfältige Charakterentwicklung zu kurz, die auch zu den Gründen gehört, warum The Social Network ein dermassen grandioses Stück Film ist. Exemplarisch dafür steht die Anfangsszene, die das Zeug dazu hat, einen unvorbereiteten Kinogänger zu überrollen. Das Jahr ist 2003, der Ort eine Studentenbar, in der Mark Zuckerberg mit seiner Noch-Freundin über gefühlte zehn Themen gleichzeitig spricht und sie dabei weder ansieht, noch, so scheint es, richtig ernst nimmt. Es wird nur geredet, und das in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit; doch diese Szene, eine Zelebrierung von Sorkins Schreibtalent, reicht vollauf, um den Zuschauer ins filmische Geschehen hineinzuziehen. Man sei gewarnt: Nach dieser Eröffnung brummt einem der Kopf. Das Gespräch mündet darin, dass sich die Noch-Freundin, Erica, plötzlich in eine Ex-Freundin verwandelt und Mark frustriert und wütend zurücklässt. Und so beginnt die grösste Erfolgsgeschichte des 21. Jahrhundert. Sorkin und Fincher ergeben sich aber nie der Versuchung, aus der Entwicklungsgeschichte von Facebook eine globale Handlung zu spinnen. Der Film ist voll und ganz auf Mark Zuckerberg und sein Umfeld fokussiert. Und wie es sich für eine Geschichte, die auf wahren Begebenheiten basiert, eigentlich gehört, hält sich The Social Network mit der Moralkeule zurück und lässt den Zuschauer entscheiden, wer Pro- und wer Antagonist ist. Niemals wird Mark Zuckerberg als reiner Bösewicht aufgebaut, so wie es seine Hassgruppen auf Facebook wohl gerne gesehen hätten. Aber natürlich wird er auch nicht als Held stilisiert, was noch absurder gewesen wäre. Nein, er wird als eine tragische Figur, der nach und nach alle sozialen Kontakte abhanden kommen, dargestellt, die man bemitleidet und mit der man sogar ein wenig sympathisiert. Aber der Film ist nicht nur ein bedeutungsschwangeres Drama. Besonders dank Marks sozialer Unbeholfenheit, der schieren Selbstverständlichkeit, mit der er schwierige Probleme löst und seinem schmerzhaft köstlichen Zynismus provoziert Sorkins Drehbuch mehrfach herzhafte Lacher, die sich aber als hinterhältig und doppelbödig herausstellen, da ihnen meistens das Erkennen der Bitterkeit der Situation auf dem Fuss folgt.

The Social Network steckt voller tiefer Charaktere, deren Verkörperung äusserst anspruchsvoll ist. Umso mehr überrascht es, dass sich David Fincher für Jesse Eisenberg als Hauptdarsteller entschied. Eisenberg, ein typisches "Milchgesicht" à la Michael Cera, verdiente sich sein Geld zuvor in Independentfilmen (The Squid and the Whale, Adventureland) und Komödien (Zombieland). Doch wie der unverständlicherweise verhasste Cera scheint auch Eisenberg echte dramatische Fähigkeiten zu haben. Sein Mark Zuckerberg ist ein berechnendes, schweigsames Genie, das in den entscheidenden Momenten aber dennoch kein Blatt vor den Mund nimmt. Doch gleichzeitig ist er auch ein getriebener Mensch, der sich scheinbar nicht an soziale Kontakte binden kann, sondern sich in seinen eigenen Ideen ertränkt und seine Programmierfähigkeiten als einziges kreatives Ventil wahrnimmt. Dank Eisenbergs eindringlichem Schauspiel (Stichwort: "Do I have your full attention?") ist Mark ein dreidimensionales menschliches Wesen, dessen Entwicklung man mit Spannung verfolgt. So stimmt man am Anfang des Films Erica, intensiv gespielt von der beeindruckenden Rooney Mara, zu, wenn sie sagt "You're going to go through life thinking that girls don't like you because you're a geek. And I want you to know, from the bottom of my heart, that that won't be true. It'll be because you're an asshole.". Doch schlussendlich ist man doch eher geneigt, der Anwältin zuzustimmen, die Mark wissen lässt, dass er eigentlich gar kein so unausstehlicher Mensch ist, sondern dass er sich einfach so viel Mühe gibt, einer zu sein. Kein Wunder, dass es da für seine Freunde, wenn man sie denn so nennen will, nicht einfach ist, sich mit ihm zu arrangieren, allen voran für Eduardo Saverin, gespielt von Andrew Garfield (Lions for Lambs, The Imaginarium of Doctor Parnassus), einem Co-Gründer von Facebook und (ehemaligem) Freund von Mark. Dank seiner Hilfe konnte der ursprüngliche Prototyp der Seite, Facemash.com, richtig programmiert werden und mit seinem Geld finanzierte Zuckerberg seine frühen Facebook-Versuche. Doch das half Saverin letztendlich nichts, denn sein Markenanteil von 30% wurde nach dem Einsteigen von neuen Investoren auf 0,03% gesenkt, während der Anteil der anderen Gründer unverändert blieb, was für ihn de facto die Kündigung bedeutete. Garfield spielt Eduardo mit einer brillanten Authentizität. Er lässt das Publikum ohne grossen Aufwand merken, dass es ihm im tiefsten Inneren weh tut, seinen ehemals besten Freund auf 600 Millionen Dollar zu verklagen, doch gleichzeitig spürt man, dass Mark Zuckerberg ihn in seiner Ehre verletzt hat und dass er ihn dafür bezahlen lassen muss. Und obwohl man in den letzten Jahren in dieser Beziehung viele Enttäuschungen erlebt hat, muss man auch heuer wieder rufen "Sperr die Augen auf, Academy!", denn Eisenberg und Garfield hätten sich beide eine Oscarnomination mehr als nur verdient.

Doch die Schauspiel-Lorbeeren sind nicht nur für die beiden Hauptakteure reserviert. Auch Justin Timberlake zeigt als Sean Parker, Gründer zweier gescheiterter Websites, dass sich sein Talent nicht nur aufs Singen beschränkt. Er ist mit Abstand die unsympathischste Figur des Films - manipulativ, arrogant, gierig und paranoid - und Timberlake geniesst deren Darstellung ganz offensichtlich. Er interpretiert Parker als einen Neo-Yuppie, den illegale Aktionen nicht abschrecken, sondern herausfordern. Wie bei Jesse Eisenberg zeigt sich auch hier das Regietalent David Finchers, der selbst einem nicht unbedingt begnadeten Darsteller wie Justin Timberlake eine beeindruckende Performance entlocken kann. Ausserdem erwähnenswert ist das Trio Cameron Winklevoss/Tyler Winklevoss/Divya Narendra (zweimal Armie Hammer - die "Winklevi", wie Mark sie nennt, sind Zwillinge - und Max Minghella), das Zuckerberg wegen angeblichen Ideenraubs verklagt. Armie Hammer spielt zwei künftige Ruder-Olympioniken, die eine universitätsinterne Dating-Website entwickeln wollen und sich dafür Mark als Programmierer angeln. Das Besondere an Hammers Leistung ist, dass er einen das Jock-Klischee der amerikanischen Schulen völlig vergessen lässt. Denn die Winklevi sind alles andere als dumm und rücksichtslos. Und auch Max Minghella spielt seine kleine Rolle tadellos und überzeugt als Freund und Geschäftspartner der Winklevi.

All diese Aspekte ergäben für sich allein schon einen sehr guten Film. Doch The Social Network hat ein gewisses Etwas, das ihn zum Fast-Meisterwerk erhebt. Am spürbarsten kommt dieses Etwas wohl in der sagenhaften Schlussszene zur Geltung: Mark sitzt im leeren Verhandlungszimmer an seinem Laptop und bekommt mitgeteilt, dass sich seine Gegner wohl mit einer Abfindung zufrieden geben werden. Er nimmt dies ohne grosse Gefühlsregung zur Kenntnis, fragt die Anwältin, die ihm die Nachricht überbringt, ob sie mit ihm etwas essen gehen will, sie entschuldigt sich, lehnt ab und geht. Er starrt auf seinen Laptop, auf dem das Facebook-Profil von Erica, der Frau, mit der alles angefangen hat, zu sehen ist. Er klickt auf "Add as a friend" und bestätigt die Anfrage nach einigem Zögern. Er verharrt auf ihrem Profil und klickt auf "Refresh page". Und wieder, und wieder, und wieder. Und die Freundschaftsanfrage steht immer noch aus. Wie David Fincher soviel Tragik in diese Klicks hineinlegt, ist schlicht und ergreifend meisterhaft. Peter Travers hat es richtig gesagt: "The final image of solitary Mark at his computer has to resonate for a generation of users [...] sitting in front of a glowing screen pretending not to be alone." Fincher und Sorkin haben in einem einzigen Bild das grundlegende Problem der Generation Facebook festgehalten. Für einmal ist das Wort "genial" das passende.

Es gäbe noch viele Dinge, die man ansprechen könnte. Die hervorragende Musik von Trent Reznor und Atticus Ross etwa, der schnelle, aber dennoch sanfte Schnitt von Kirk Baxter und Angus Wall, die Tatsache, dass The Social Network erstaunlich kurzweilig ist und keinerlei Längen aufweist. Aber das würde die Kritik nur in die Länge ziehen. Darum soll hier ein Schlussstrich gezogen werden und nur noch einmal darauf verwiesen werden, dass David Finchers neustes Werk dank einer exzellenten Regiearbeit, einem spannenden Drehbuch und hochkonzentrierten Schauspielern eines der bisherigen Highlights des Kinojahres 2010 darstellt. The Social Network ist ein echtes Kinoerlebnis und einer der Filme, der einen wieder daran erinnert, wieso man diese Art Unterhaltung so sehr liebt. Oder um es mit Facebook sagen: "Gefällt mir"