Mittwoch, 2. Oktober 2013

L'inconnu du lac

Die Literaturtheorie kennt viele Konnotationen für Wasser: Für das Leben kann es stehen, ebenso für den Tod, sein nie endender Fluss symbolisiert Veränderung und Ewigkeit; einige sehen in ihm auch einen archetypisch weiblichen Raum. Insofern ist es kaum überraschend, dass Alain Guiraudie seinen neuen Film explizit um ein Gewässer herum konstruiert hat. L'inconnu du lac verlässt diesen Rahmen nie, seine Figuren sind ausschliesslich im Kontext von Wasser, Strand, Parkplatz und Uferwäldchen zu sehen.

In diesem Kontinuum bedient sich Guiraudie einer Vielzahl von Einflüssen. Der See, den alles umkreist, ist Thoreaus Walden Pond und die Seine in Jean Renoirs Partie de campagne zugleich, ein Mikrokosmos abseits gesellschaftlicher Normen und Einengungen, wo die Zwänge und Regeln des Alltags keine Bedeutung haben. Die feine erotische Spannung, die am von homosexuellen Männern frequentierten FKK-Strand zu spüren ist, evoziert François Ozons verschlagenes Queer-Drama Swimming Pool. Beobachtet wird das Geschehen am See, dessen scheinbarer Idylle man nie richtig trauen mag, vom passiven Bisexuellen Henri (Patrick Dassumçao), einem Neuankömmling "vom anderen Ufer", der oft (und nicht nur aufgrund seiner Korpulenz) wie eine Erweiterung von Gérard Depardieus Figur in Francis Vebers subversiver LGBT-Komödie Le placard wirkt.

Unter seinen Augen verliebt sich die Hauptfigur, der junge Franck (Pierre Deladonchamps), in den muskulösen Michel (Christophe Paou). Zusammen verziehen sich diese, ganz den Gepflogenheiten in diesem südfranzösischen Eden entsprechend, wo das Ablegen von Kleidern zum guten Ton gehört, ins nahe Wäldchen, wo sich die Strandbekanntschaften zu Schäferstündchen treffen. Für Franck wird dies zunehmend zur psychischen Belastung, da er nur wenige Tage zuvor beobachtet hat, wie Michel seinen letzten Liebhaber brutal ertränkte (eine Szene, deren starre Inszenierung entfernt – und gänzlich unverhofft – an Irréversible erinnert).

Dieser Mord verleiht L'inconnu du lac auch eine Krimi-Dynamik, welche jedoch genauso diskret behandelt wird wie der mysteriöse Todesfall in Claude Chabrols Bellamy. Das Ableben einer an sich unwichtigen Nebenfigur öffnet den persönlichen Dilemmata der Figur(en) Tür und Tor; ob der Schuldige letztendlich gefasst wird, steht nicht im Zentrum. Selbst der zuständige Inspektor (Jérôme Chappatte, ein Mann der sanften, dafür zahlreichen, Gesten) ist nicht in Eile, das Verbrechen aufzuklären; vielmehr scheint sein Interesse den versteckten amourösen Vorgängen am See zu gelten. Beinahe mitleidig konstatiert er, dass sich Homosexuelle sogar an diesem geschützten Ort der Heimlichkeit verschrieben haben; man kennt sich nur vom Strand, Namen werden kaum je ausgetauscht. (Es ist bezeichnend, dass Franck, Michel und Henri erst nach rund 40 Minuten Namen erhalten).

Franck (Pierre Deladonchamps, rechts) verliebt sich in den mysteriösen Michel (Christophe Paou).
© Xenix Filmdistribution
So handelt L'inconnu du lac auch von der Einsamkeit, vor der auch der Aufenthalt unter Gleichgesinnten und -geborenen nicht schützt. Solange man im heteronormativen Alltag nicht mit Toleranz rechnen kann, ist die vollständige Befreiung auch unter Seinesgleichen nicht möglich. Guiraudie konterkariert diese triste Feststellung allerdings mit unumwundenen Szenen stürmischer, körperlich ausgelebter Liebe, welche mit Hilfe des natürlichen Lichts der Sommersonne Südfrankreichs zu legitimen Nachfolgern der impressionistischen Malerei nach Monet und (Pierre-Auguste) Renoir werden.

Das vielleicht grösste Problem von Guiraudies Film ist indes sein Hang zur mitunter ermüdenden Repetition. Während L'inconnu du lac zwar immer wieder neue, spannende Dimensionen für das Element Wasser findet – für Michels Opfer bringt es den Tod, für Franck Entspannung und Erlösung; es zu durchqueren bedeutet das Absolvieren eines Übergangsritus; die Tatsache, dass es hier ein rein männlicher Raum ist, lädt ein zur Reflexion über die Geschlechtergrenzen –, verhält sich sein Plot weniger flexibel: Die Dramaturgie scheint im dritten Akt zu stagnieren, wenngleich durchaus die Möglichkeit besteht, dass auch dies auf einen jener Gegensätze verweist, die man dem Wasser nachsagt – die Opposition zwischen Fluss und Stillstand. Dass man gewillt ist, L'inconnu du lac diese Interpretation einzuräumen, spricht für seine Qualität.

★★★

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