Donnerstag, 7. Dezember 2017

Coco

Über die letzten fünf, sechs Jahre hat das grosse Animationsstudio Pixar etwas von seinem einstigen Nimbus eingebüsst. Schien es zu Zeiten von Filmen wie Monsters, Inc. (2001), Finding Nemo (2003), The Incredibles (2004) oder Ratatouille (2007) praktisch unfehlbar, begann während der 2010er Jahre die Erosion seiner Dominanz.

Plötzlich war nicht mehr jeder Film ein Meisterwerk: Auf einen Toy Story 3 (2010) folgte ein Cars 2 (2011), auf einen Inside Out (2015) ein The Good Dinosaur (2015). Rundherum punktete die neu entstandene Konkurrenz von Laika (Kubo and the Two Strings) bis Illumination (Despicable Me, Minions), derweil auch Pixars Muttergesellschaft Disney mit Filmen wie Tangled (2010), Zootopia (2016) oder Moana (2016) zu alter Stärke zurück fand.

So ist auch Coco, die neueste Pixar-Produktion, ohne Fanfaren in den internationalen Kinos gestartet. Und nicht nur das: Es wirkt, als habe Disney dem mexikanischen Musikabenteuer so etwas wie Stützräder verpasst – indem vor dem Hauptfilm nicht ein pixartypischer Sieben-Minuten-Kurzfilm läuft, sondern ein auf 20 Minuten gestrecktes Frozen-Spinoff, in welchem Schneemann Olaf (Josh Gad) Weihnachtstraditionen entdeckt. Olaf's Frozen Adventure heisst das Ungetüm, mit dem sich Coco in der Schweiz den Platz auf dem Kinoticket teilen muss, und es ist ebenso uninspiriert wie sinnfrei.

Pixar in einer derart reduzierten Verhandlungsposition zu sehen, stimmt umso trauriger angesichts der Qualität, die sich auf der Leinwand entfaltet, wenn die Frozen-Figuren sie endlich verlassen haben. Coco beginnt als pädagogische Lehrstunde über den mexikanischen Feiertag Día de Muertos und entwickelt sich nach und nach in ein Werk auf Augenhöhe mit Inside Out und Finding Nemo.

Der Traum von Miguel (Stimme: Anthony Gonzalez) ist es, der grösste Musiker seit Maestro Ernesto de la Cruz zu werden.
© The Walt Disney Company Switzerland / Pixar Animation Studios
Unser Held ist der zwölfjährige Miguel Rivera (Stimme: Anthony Gonzalez), der sich der Familientradition widersetzen und anstatt Schuhmacher lieber Musiker werden möchte. Doch leider ist Musik bei den Riveras seit den Zeiten von Miguels Ururgrossmutter Imelda streng verboten. Davon darf sich der Junge aber nicht beirren lassen, wenn er so legendär werden will wie der grosse Ernesto de la Cruz (Benjamin Bratt).

Also schreibt er sich voller Hoffnung für den grossen Talentwettbewerb am Día de Muertos ein. Als er jedoch kurz vor dem grossen Auftritt ohne Gitarre dasteht, greift er zu radikalen Mitteln: Er bricht in de la Cruz' Mausoleum ein und stiehlt dessen Instrument – welches ihn in die Welt der Toten transportiert.

Bis hierhin hat das Publikum die für den Plot essenziellen Fakten über den Día de Muertos gelernt: An jenem Tag können die Geister der Toten von Sonnenunter- bis Sonnenaufgang das Land der Lebenden besuchen, unterstützt von Blumenpfaden, welche die Menschen für sie vorbereiten. Die einzige Bedingung für ein erfolgreiches Überqueren ist, dass man von den Lebenden in Form eines Abbildes auf einem Hausaltar, einer sogenannten "Ofrenda", geehrt wird.

Miguel muss sich gegen seine musikfeindliche Familie durchsetzen – so etwa seine Grossmutter (Renée Victor).
© The Walt Disney Company Switzerland / Pixar Animation Studios
Wie man sich denken kann, hängt Miguels Rückkehr aus dem Totenreich davon ab, einem bilderlosen Zeitgenossen, dem Hochstapler Héctor (der grossartige Gael García Bernal), aus der Klemme zu helfen. Erschwert wird dies aber durch Mamá Imelda (Alanna Ubach), die ihren Ururenkel zwar nach Hause schicken kann, ihm aber gleichzeitig das Musizieren für immer und ewig verunmöglichen will.

Zuallererst sei angemerkt, dass Coco einen ungemein wichtigen Beitrag zur kulturellen Repräsentierung der Latinx-Gemeinschaft in den USA leistet. In einem politischen Klima der Exklusion, in dem der US-Regierung – und nicht nur ihr – der Sinn nicht nach Integration, sondern nach radikaler Assimilierung steht, ist der Film von Lee Unkrich (Toy Story 3) und Adrian Molina eine wunderschöne Verneigung vor kulturellem Pluralismus.

Am alljährlichen Día de Muertos verschlägt es Miguel ins Totenreich, wo er seine verstorbenen Vorfahren kennenlernt, darunter Matriarchin Imelda (Alanna Ubach, in violett).
© The Walt Disney Company Switzerland / Pixar Animation Studios
Auch die Handlung zielt in diese Richtung: Im Mittelpunkt von Miguels und Héctors Abenteuer, das sie unter anderem ins angemessen bizarre Atelier von Frida Kahlo (Natalia Cordova-Buckley) führt, steht die Kraft der Familie; die Wichtigkeit eines generationenübergreifenden Bewusstseins; die Fähigkeit, nach vorn zu blicken, ohne dabei die Vergangenheit zu vergessen. Es ist eine elegante Metapher auf die Herausforderungen nachgeborener Immigranten-Generationen.

In bester Pixar-Manier wird auf der Basis dieses gewichtigen Subtexts ein Film entwickelt, der mühelos cleveren Humor und aufrichtige Emotionalität miteinander vermengt und in eine eindrückliche Entdeckungsreise durch eine liebevoll konzipierte Welt integriert. Sets wie Figuren sind farbenfroher als alles bisher Dagewesene im Pixar-Universum – besonderes Lob verdienen die Animatoren der neonfarbenen "Alebrije"-Geistertiere –, und die Musik, sowohl die stimmigen Gesangseinlagen als auch Michael Giacchinos Score, tragen der zentralen Rolle, die sie hier einnimmt, gebührend Rechnung. Coco hat es zweifellos verdient, als Fest für die Sinne bezeichnet zu werden.

Im Land der Toten trifft Miguel den verschlagenen Herumtreiber Héctor (Gael García Bernal), mit dem er sich auf einen Handel einlässt.
© The Walt Disney Company Switzerland / Pixar Animation Studios
Doch Pixar wäre nicht Pixar, wenn der Film nicht auch mitten ins Herz treffen würde. Und Coco erreicht dies gleich doppelt: auf der abstrakteren Ebene der Repräsentierung sowie auf der erzählerischen. Wie bereits in Inside Out sind auch hier das Vergessen und der Tod prominente Motive, mit denen sich die Protagonisten befassen müssen. Und Unkrich und Molina verbinden diese Auseinandersetzung auf bewegende Art und Weise mit der stets präsenten Musik.

Mehr sei nicht verraten. Es ist besser, sich unvoreingenommen ins Kino zu setzen, Olaf's Frozen Adventure hinter sich zu bringen, mit der antrainierten Skepsis zu sehen, wie Coco einen klassischen Disney-Plot bemüht und ihn nach und nach in pure Animationsmagie verwandelt. Wer Pixar abschreibt, ist selber schuld.

★★★★★

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