Samstag, 18. Mai 2013

Boys Are Us

Zieht man Bilanz über das Schweizer Spielfilm-Kino der letzten zehn Jahre, bietet sich einem ein tristes Bild: Höhepunkte wie Home oder L'enfant d'en haut sind so dünn gesät, dass sogar formelhafte Wohlfühlkomödien (Sternenberg, Jeune homme, Stationspiraten) rückblickend als Höhenflüge taxiert werden müssen; derweil bringen die penetranten Streifen eines Michael Steiner die Kinokassen zum Klingeln. Ausreisser finden abseits blasser Genre-Versuche (Cargo, One Way Trip, Hell) und inzwischen zum Trend gewordener Heimat-Dokumentationen (Arme Seelen, Die Kinder vom Napf) allenfalls bei Peter Luisi statt, der sich immerhin stets von der Masse abzuheben weiss. Dass die Zukunft der Schweizer Filmkultur aber nicht mit dem Anderssein allein gesichert werden kann, zeigt Luisis Boys Are Us, ein ungewöhnlich aufgezogenes, aber gänzlich konventionell versagendes Jugenddrama.

Die Probleme beginnen schon im Ansatz: Mia (Joëlle Witschi), 16, wird Off-Screen von ihrem Freund Andi verlassen, woraufhin ihre zwei Jahre ältere Schwester Laura (Deleila Piasko) sie dazu ermutigt, sich an ihm und den Männern ("alles die gleichen Scheisstypen") zu rächen. Zu diesem Zweck hecken die beiden einen fiesen Plan aus: Auf einer Onlinedating-Plattform suchen sie sich einen arglosen Teenager, den Mia verführen und wenig später so herzlos wie möglich abservieren soll. "Aber wie räche ich mich so denn an Andi?", will Mia verständlicherweise wissen. Lauras Reaktion ist keine Antwort, sondern eine vitriolische Tirade gegen das männliche Geschlecht; danach wird das Thema nie wieder aufgegriffen. Somit basiert Boys Are Us auf der Idee, dass ein Mädchen ihrem Ex-Freund den von ihm verursachten Schmerz heimzahlt, indem sie jemanden schikaniert, den weder er noch sie jemals zu Gesicht bekommen hat. Lasst, die ihr eintretet, alle Logik fahren.

Luisi mag seinen Film unter das Motiv der emotionalen Gewalt und deren Auswirkungen auf menschliches Handeln gestellt haben, womit sich obiges Plotloch vielleicht wenigstens notdürftig erklären lässt, doch auch dieses bleibt sträflich unterentwickelt – allerdings nicht auf Grund fehlenden Bemühens. Im Gegenteil: Um dem Publikum seine ungeschickt an die Handlung geheftete Ideologie – prätentiöses, seltsam fehlplatziertes Geschwurbel über die Individualität des Einzelnen – zu vermitteln, hat Luisi die Rolle des Opfers von Mia und Laura gleich dreifach besetzt: Nicola Perot, Peter Girsberger und Rafael Mörgeli spielen Timo, einen sensiblen 18-jährigen Hobby-Gitarristen, dessen Facetten bei jedem der drei Jungschauspieler verschieden akzentuiert werden: Girsberger gibt den psychisch angeschlagenen Optimisten, Mörgeli den sich langsam im "echten Leben" zurechtfindenden jungen Erwachsenen, Perot den Charmeur. Natürlich lässt sich der von der Liebe gleichermassen enttäuschte Rekrut von Mia bezirzen; natürlich sieht sie in ihm, zum Ärger ihrer Schwester, bald mehr als ein Opfer.

Intrige im Internet: Mia (Joëlle Witschi) sucht sich einen arglosen Teenager, dem sie den Laufpass geben kann.
© Secondo Film GmbH
Warum Boys Are Us mit drei männlichen Protagonisten jongliert, wird nie schlüssig gerechtfertigt. Angesichts der Tatsache, dass Luisi selbst bei der bescheidenen Laufzeit von 73 Minuten – 15 Minuten kürzer als der genauso wenig überzeugende, aber dafür stringentere Der Sandmann – Platz für schlicht irrelevante Szenen gefunden hat, drängt sich der Gedanke auf, dass die Dreifachbesetzung hauptsächlich dazu dient, den Film auf Spielfilmlänge zu strecken. Dank eines souveränen Schnitts gelingt es Luisi zwar, die Handlungsstränge nachvollziehbar miteinander zu verschalten und mitunter sogar die Darsteller innerhalb einer Szene auszuwechseln, doch die Tatsache, dass er dies kann, bedeutet in diesem Fall nicht, dass er es auch sollte.

Grund dafür ist sein nur oberflächlich originelles Drehbuch, welches dermassen schwerfällig daherkommt, dass der gute Geschmack es verbietet, die sich wiederholenden Szenen mit Groundhog Day in Verbindung zu bringen. Nicht nur leidet der Film unter der hölzernen Helvetisierung hochdeutscher Dialoglinien ("Lass eus det hi ga"), sondern auch unter Luisis eklatanter Missdeutung jugendlichen Verhaltens. Konnte sich unlängst ein Regisseur wie Stephen Chbosky (The Perks of Being a Wallflower) dadurch profilieren, die Stimmung dieses Milieus mit viel Verständnis und frei von Klischees eingefangen zu haben, bietet Boys Are Us die Vogelperspektive eines Erwachsenen, dem jegliche Jugendkultur fremd zu sein scheint. Er vermittelt seine gezwungene Botschaft, indem er sich in eine peinlich überzeichnete Welt scheinbar elternloser Adoleszenten stürzt, welche sich naiv und ohne jede Vorsicht in virtuelle Liebesabenteuer stürzen, während in der echten Welt oft ein Augenkontakt genügt, um gemeinsam im Bett zu landen.

Inmitten dieser Ansammlung kulturpessimistischer Gemeinplätze, welche zweimal, womöglich unbeabsichtigt, David Finchers Meisterstück The Social Network zitiert, sich in ihrer Darstellung des Internets und der Web-Gemeinde aber eher auf dem Niveau von Gregory Hoblits Schund-Thriller Untraceable bewegt, bleibt kaum einem Beteiligten genug Raum zur Entfaltung. Wie schon in Verflixt verliebt, Luisis bestem Film, bewegt sich Nicolo Settegrana mit seiner Kamera behände durch die engen Appartements der Figuren, was wegen der steril-einfallslosen Inszenierung jedoch weniger dessen frechen Pseudo-Naturalismus, sondern eher die leere Ästhetik der Fernsehwerbung evoziert. Auch seinen Schauspielern tut der sich inhaltlich wie stilistisch penetrant um sich selber drehende Film keinen Gefallen: Gefangen in künstlichen, eindimensionalen Rollen, ist ihr ausnahmslos leidenschaftliches Spiel das einzig Lebendige an den drei Hauptfiguren, im Guten (Witschi, Girsberger) wie im Schlechten (Piasko, Mörgeli).

Opfer gefunden: Timo (Peter Girsberger, einer von drei Darstellern) frühstückt mit Mia und ihrer hinterhältigen Schwester Laura (Deleila Piasko).
© Secondo Film GmbH
Neben seiner unsinnigen Prämisse, seiner zweifelhaften Auffächerung der männlichen Hauptrolle (wollte Luisi keinen der Casting-Finalisten enttäuschen?) und seiner verwirrten Darstellung der "heutigen Jugend" verweigert Boys Are Us darüber hinaus die Antwort auf eine weitere, eigentlich unausweichliche Frage: Was mag Peter Luisi dazu bewogen haben, seinen grundsätzlich passenden, wenn auch ein wenig platten, Arbeitstitel Mias Blog durch eine allzu offensichtliche, völlig aus der Luft gegriffen wirkende Anspielung auf eine internationale Ladenkette zu ersetzen? Verweist die Entscheidung etwa auf die mehrfach wiederholte Äusserung, Mia und Laura betrieben ein sadistisches Spiel ("Boys Are Ours"?), ein "funny game" nach Michael Haneke? Luisi provoziert keine Diskussionen, weder über die digitale Generation, noch über emotionale Gewalt. Er beweist sich und der Welt, dass er nonlineare Geschichten erzählen kann. Da dies aber keinen erkennbaren gefühlsmässigen, intellektuellen oder cineastischen Wert hat, verwandelt sich der Kinobesuch in eine entmutigende, weil fruchtlose, Sinnsuche, an deren Ende die Schlussfolgerung steht: Boys Are Us ist ein sinnloser Film.

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