Freitag, 16. Oktober 2020

Favolacce

Die D'Innocenzo-Zwillinge Fabio und Damiano haben nicht viel Sympathie für den gehobenen Vorstadt-Mittelstand übrig. Das ist der vielleicht stärkste Eindruck, den ihr neuestes Werk, das flickenteppichartige Familiendrama Favolacce, hinterlässt.

Darin nehmen die Regisseure von La terra dell’abbastanza (2018) eine anonyme Reihenhaussiedlung irgendwo in der Römer Agglomeration ins Visier, in der die gutbürgerlichen Träume von Familienglück und wirtschaftlicher Unabhängigkeit buchstäblich in einer Sackgasse gelandet sind.

Bei den Placidos hängt der Haussegen schief, weil Mutter Dalila (Barbara Chichiarelli) die Hauptverdienerin ist, während Vater Bruno (Elio Germano) sich aufgrund seiner Arbeitslosigkeit in seiner Männlichkeit gekränkt fühlt. Doch man will sich vor den befreundeten Nachbarn, insbesondere dem grossspurigen Pietro Rosa (Max Malatesta), keine Blösse geben, also prahlt man beim gemeinschaftlichen Grillabend mit den eigenen Kindern Dennis (Tommaso Di Cola) und Alessia (Giulietta Rebeggiani), die, anders als die verschlossene Viola Rosa (Giulia Melilio), in der Schule brillieren.

Alles ist Oberfläche, alles ist Performance. Man übt sich trotz gegenseitiger Verachtung in freundlicher Nachbarschaftlichkeit, weil sich das eben so gehört. Fake it till you make it. Die Protaginist*innen der D'Innocenzos haben sich so sehr von ihren eigenen Emotionen entfremdet, dass Momente, die sich nicht mit antrainierten Floskeln bewältigen lassen, wie groteske Farcen wirken: Als Dennis beinahe an einem Stück Fleisch erstickt, macht ein bizarrer Weinkrampf die Runde am Esstisch, bevor Bruno wutentbrannt von dannen zieht.

Die einzigen Figuren, die noch so etwas wie ein Innenleben übrig haben, sind die Kinder der Siedlung – doch auch sie sind von der gelangweilten Frustration ihrer Eltern nicht unverschont geblieben. Viola und Alessia werden zum Spielball der elterlichen Erwartungen, derweil sich Dennis' aufkeimende Sexualität – unterstrichen von Paolo Carneras mitunter voyeuristischer Kameraführung – darin äussert, der hochschwangeren Vilma (Ileana D’Ambra) hinterherzustarren.

Das sommerliche Vorstadtidyll trügt.
© Filmcoopi / Pepito Produzioni / Amka Film Production
Zum Glück kleiden Fabio und Damiano D'Innocenzo ihren Pessimismus nicht ins Gewand einer handelsüblichen Tragödie, sonst wäre Favolacce wahrscheinlich ähnlich unerträglich in seinem selbstgerechten Bierernst wie Jeanette Nordahls Wildland, der im November in den Schweizer Kinos starten wird. Nein, das Regieduo inszeniert den Zerfall des Vorstadtidylls mit einem gesunden Sinn für schwarzen Humor, der selbst den verstörendsten Szenen – etwa einer unsachgemässen Verwendung von Schädlingsbekämpfungsmittel – noch eine entwaffnende Absurdität abgewinnen kann.

Diese Doppelbödigkeit ist von Anfang an Programm, als ein namenloser Erzähler beschreibt, wie er vom unvollendeten Tagebuch eines Mädchens zur folgenden, mit Nachdruck als fiktiv bezeichneten Geschichte inspiriert wurde. Doch die Rahmenhandlung erweist sich letztlich – trotz Max Tortoras hervorragender Voiceover-Leistung – als weitgehend wirkungsloser Kniff, als vorbeugender Verfremdungseffekt, um angesichts der Mischung von düsterer Satire und geradezu griechischer Tragik nicht der Geschmacklosigkeit bezichtigt zu werden.

Entsprechend fehlt Favolacce die letzte Konsequenz, um wirklich zu beeindrucken. Mit Samthandschuhen führen die D'Innocenzos ihr Publikum durch das ironisch gebrochene Geschehen: Auf eine Reihe ruhiger Sequenzen – quasi erzählerischer Leerlauf, der einen wohl in falscher Sicherheit wiegen soll – folgt ein Paukenschlag, ein Tabubruch mit Ansage, der im besten Fall kurz leeres Schlucken verursacht, letztlich aber kaum aufzuwühlen vermag. Die Provokation bleibt daher spitzbübisch und zahm, die lakonische Dekonstruktion der sich selbst zugrunde richtenden Bourgeoisie stimmungsvoll, aber inhaltlich kaum der Rede wert. Es ist ein ansprechendes Zweitwerk, aber der ganze grosse D'Innocenzo-Wurf lässt noch auf sich warten.

★★★

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