Dienstag, 15. März 2016

La loi du marché

Der neue Film des allzu oft übersehenen französischen Ausnahme-Regisseurs Stéphane Brizé erinnert an eine jener Aufgaben, die manche Menschen vielleicht noch aus dem Ethik-Unterricht kennen. Man bekommt eine kleine Geschichte vorgesetzt, deren ProtagonistIn scheinbar unfair behandelt wird. Doch es gilt, die Akteure nicht in Helden und Bösewichte einzuteilen, sondern sie als Subjekte – oder Objekte – in einem grösseren System von sozialen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten zu begreifen. Die Erkenntnis: Einfühlsamkeit ist selten instinktiv.

Das mag arg theoretisch klingen, doch Brizé ist mit La loi du marché ein hervorragender Film in eben diesem Sinn und Geist gelungen. Seine Hauptfigur ist der arbeitslose Thierry Taugourdeau (ein grossartiger Vincent Lindon, zu Recht mit dem Schauspielpreis in Cannes ausgezeichnet), Anfang 50, der versucht, in der Arbeitswelt wieder Fuss zu fassen, um mit seiner Frau (Karine De Mirbeck) und seinem cerebral gelähmten Sohn (Matthieu Schaller) über die Runden zu kommen und im Eigenheim wohnen bleiben zu können.

Brizé treibt den spartanischen Stil, den er bereits in Werken wie Je ne suis pas là pour être aimé, Mademoiselle Chambon oder Quelques heures de printemps mit grossem Erfolg angewandt hat, hier in ein radikales Extrem: Szene wird nüchtern an Szene gereiht; die wenigsten davon bestehen aus mehr als drei, vier Einstellungen; die Kamera bewegt sich im beobachtenden Modus zwischen den Figuren hin und her. So entstehen intensive, unmittelbare Miniaturen, die von den starken Dialogen von Brizé und Olivier Gorce sowie von den wohl auch selber improvisierenden Darstellern, viele von ihnen Laien, getragen werden.

Es sind Szenen aus dem Alltag, wie man sie gerade aus dem italienischen Neorealismus Marke Vittorio De Sica und Umberto D. kennt: Thierry auf dem Arbeitsamt, Thierry beim Vorstellungsgespräch via Skype, die Familie Taugourdeau beim Abendessen; in der zweiten Hälfte, als Thierry, ein gelernter Maschinen-Experte, eine Anstellung als Kaufhausdetektiv findet, schaltet Brizé den Sozialrealismus noch einen Gang höher, indem er, wie Adrián Biniez in Gigante, die Bilder seiner Filmkamera durch ungefiltertes CCTV-Material ersetzt.

Der arbeitslose Thierry (Vincent Lindon, rechts) versucht mit aller Kraft, in der Arbeitswelt wieder Fuss zu fassen.
© Xenix Filmdistribution
So verschwindet auch Thierry zunehmend in der Peripherie von Einstellungen, unscharf vom Bildrand abgeschnitten. Sobald er seiner neuen Arbeit nachgeht, wird er zu einem Zahnrädchen in der Maschinerie des Kaufhauses, seinen Kollegen, vom Abteilungsleiter bis zur Kassiererin, visuell beinahe gleich gestellt.

In dieser Phase kristallisiert sich denn auch heraus, woran Brizé hier, abgesehen von einer minimalistisch-humanistischen Charakterstudie, gelegen ist. Der Titel verrät es eigentlich schon: "La loi du marché", "das Gesetz des Marktes", bezieht sich eben nicht nur auf Thierry, der in einem nordfranzösischen Supermarkt für Recht und Ordnung sorgt – es muss makroökonomisch gedacht werden. Gezeigt werden hier Szenen aus dem ganz alltäglichen Kapitalismus, von der frustrierenden, mitunter niederschmetternden Stellensuche, bei der Thierry von Beratern, Experten und Leidensgenossen das letzte Bisschen Menschlichkeit wegdiskutiert wird, bis zur Neuanstellung, wo das Unterordnen der eigenen Person und der eigenen Prinzipien zum Gebot der Stunde wird.

Beim Versuch, ein mobiles Ferienhäuschen am Meer zu verkaufen, geraten sich Thierry und die potenziellen Käufer wegen einiger hundert Euro in die Haare. Im Kaufhaus werden offenbar regelmässig Arbeiter entlassen, weil sie Rabattmarken einstecken; derweil die ertappten Ladendiebe sämtliche Segmente der Bevölkerung abdecken. Aber der Film verurteilt weder die pingelig feilschenden Hauskäufer noch den Kaufhausleiter, der seine treuen Angestellten vor die Tür setzt. Auch die Käufer haben ein Budget, an das sie sich halten müssen; derweil der Chef, das unterstreicht der Film, höheren Instanzen Rechenschaft darüber schuldig ist, was in seiner Filiale passiert. Unter dem herrschenden System werden alle Beteiligten zu austauschbaren Seriennummern.

Als Kaufhausdetektiv macht Thierry neue Erfahrungen und neue Bekanntschaften.
© Xenix Filmdistribution
Diese triste Realität durchbricht Brizé einmal mehr mit Hilfe der sporadischen "kleinen Sprünge", die er seinen Charakteren erlaubt. Der engagierte Tanzlehrer, der mit Thierry eine Schrittfolge vortanzt, sorgt für einen wunderbaren Kontrast zu den unablässig negativen Kommentaren, welche die Hauptfigur während der ersten Hälfte hinnehmen muss. Das zaghafte Einsetzen eines äusseren Soundtracks markiert zum Schluss die Rückkehr einer gewissen moralischen Autonomie, die jedoch hart erkämpft sein will.

Es sind diese Momente, die La loi du marché endgültig in eine Linie mit De Sica und Loach – und damit für den Vorwurf des Betroffenheitskinos in unerreichbare Ferne – rücken. In einer Zeit der politischen und sozialen Unsicherheit, in der es für viele Leute verlockend einfach ist, Krisen an klar definierten Feindbildern festzumachen, hat Brizé einen Film gemacht, der sein Publikum dazu auffordert, die Welt in ihrer ganzen Komplexität zu sehen. Ein Mensch wird nicht aus angeborener Verdorbenheit zum Ladendieb, ebenso wenig wie eine Entlassung das Resultat chronischer Inkompetenz sein muss. Suggestiv, subtil und menschlich – so sieht ein modernes Meisterwerk aus.

★★★★★

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