Montag, 7. September 2015

Die Demokratie ist los!

"Wir Schweizer sind ein glückliches Volk. Wir dürfen über alles abstimmen, was uns wichtig ist", sagt Dokumentarist Thomas Isler zu Beginn von Die Demokratie ist los! per Voiceover. Hat das Volk ein Anliegen, kann dieses nach einer erfolgreichen Unterschriftensammlung zur Abstimmung gebracht werden; will es einen Parlamentsbeschluss anfechten, so ist auch das ohne weiteres möglich. Doch wohin führt dieses System, wenn es ins Extrem getrieben wird?

Dieser für Schweizer Verhältnisse durchaus provokanten Frage – sowohl die eidgenössische Direktdemokratie als auch der abstimmende Souverän gelten im öffentlichen Diskurs als heilige Kühe, so der interviewte Völkerrechts-Professor Oliver Diggelmann – geht Islers Film vor dem Hintergrund von Minarettverbot, Ausschaffungs- und Masseneinwanderungsinitiativen nach. Auf den stereotyp-helvetischen Deckmantel der Neutralität verzichtet er bewusst: Schon in der Einleitung gibt Isler zu, sich an Wahlsonntagen "meistens auf der Seite der Verlierer" zu befinden; die erste Szene der Dokumentation kontrastiert die triumphale Einreichung der völkerrechtlich problematischen SVP-Durchsetzungsinitiative mit dem Grünen Jo Lang, der in Bern, scheinbar erfolglos, Unterschriften gegen neue Kampfflugzeuge sammelt.

Um dem Vorwurf der Indoktrination zuvorzukommen, bemüht sich der Film, wie etwa Ken Loachs The Spirit of '45, seinen linken Standpunkt so überzeugend wie möglich darzustellen – was ihm auch mühelos gelingt. Nur in vereinzelten Momenten muss Isler zum journalistisch zweifelhaften leitenden Schnitt greifen; ansonsten präsentiert sich Die Demokratie ist los! – dank anschaulicher, mit Ausnahme der Minarettinitiative eingehend besprochener Fallbeispiele und eines breiten Angebots an autoritativen Interview-Gästen – als überaus fundierte Diskussion einer über 100-jährigen Schweizer Tradition, die in den vergangenen Jahren auf Grund von Entscheidungen, die nach internationalem Recht nicht vorbehaltlos umsetzbar sind, wiederholt für negative Schlagzeilen gesorgt hat.

Während die Schweizer Rechte – hier SVP-Exponenten beim Einreichen der Durchsetzungsinitiative – mit Hilfe von Volksinitiativen zunehmend erfolgreich gegen das internationale Völkerrecht vorgehen...
© cineworx
Das Problem orten Isler und seine Probanden nicht bei der direkten Demokratie an sich, sondern bei ihrer Auslegung durch gewisse – sprich: rechte – Politiker, Populisten und Demagogen. (Man ist nicht überrascht, Islers Kamera bei mehreren Reden Christoph Blochers anzutreffen.) Mit Hilfe von Oliver Diggelmann, des ehemaligen Bundesgerichtspräsidenten Giusep Nay und des emeritierten Rechtsprofessors Philippe Mastronardi argumentiert Die Demokratie ist los! auf filmisch unspektakuläre, aber wirkungsvolle Art und Weise, dass auch nach eidgenössisch-liberalen Idealen der Volkswille nicht über den Menschenrechten und dem Minderheitenschutz stehen soll und stehen darf. "Sonst haben wir eine Diktatur der Mehrheit", so Mastronardi. "Wer Demokratie mit absoluter Selbstbestimmung des Volkes gleichsetzt, der hat das Prinzip nicht verstanden."

Aus den angesammelten Expertenmeinungen leitet der Film, ohne unbegründete Mutmassungen, das definitiv plausible Narrativ ab, dass aus der Schweizer Volksinitiative im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte unter dem Einfluss der "neuen Rechten" – darf man eigentlich schon von "Blocherismus" sprechen? – eine Politikerinitiative geworden ist. Diente sie einst dem Volk als ureigene Garantie der Gewaltenteilung, ist sie mittlerweile zum politischen Instrument von Parteien und Politikern geworden, die so ihre Programme ins Gewand des Volkswillens kleiden können.

...haben die Linken bei der Mobilisierung des Volkes einen eher schweren Stand.
© cineworx
Isler konfrontiert nicht nur Schweizer Politiker von der Rechten bis zur Linken mit diesen Überlegungen – pikanterweise macht Blocher im Interview von allen SVP-Exponenten die beste Figur –, sondern richtet seinen Blick auch ins nahe Ausland, wo sich diverse rechtsextreme Gruppierungen, von FPÖ bis Front National, nach einem direktdemokratischen System nach Schweizer Vorbild sehnen. Er spricht mit rechten und linken Direktdemokratie-Verfechtern, mit kritischen Politikern – "Wenn ich mir die eine oder andere Stammtischmeinung anhöre, dann weiss ich nicht, ob eine Volksentscheidung das Richtige wäre", sagt der Bürgermeister einer deutschen Kleinstadt –, und mit Menschen auf der Strasse. Man merkt: Abstimmungen und Volksbefragungen, Musterbeispiele für den heiklen Balanceakt Demokratie, sind nicht nur ein delikates Thema, sondern auch ein internationales, in dem die kleine Schweiz im Endeffekt bloss eine marginale Rolle spielt.

Hier wird nicht gegen das Schweizer System Polemik betrieben. Im Gegenteil: Mit seinem "linken", hoffnungsvoll-idealistischen Schluss kann der Film auch als Verneigung vor der dem Ganzen zu Grunde liegenden Idee gelesen werden. Worauf Die Demokratie ist los! schlussendlich hinaus will – und was ihn letztlich auch besser macht als der vergleichbare, aber weniger tief greifende Mais im Bundeshuus –, ist, dass Kritik an etablierten nationalen Strukturen nicht einem Landesverrat gleich kommt, dass eben diese Strukturen kontinuierlich vernunftgesteuerter, kritischer Auseinandersetzungen unterzogen werden müssen, um ihre Legitimität sicherzustellen. Chauvinismus, Tradition und patriotische Rhetorik allein sind keine Basis für eine erfolgreiche, demokratische Zukunft.

★★★★

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