Donnerstag, 26. Februar 2015

National Gallery

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

In seinen nicht selten mehrstündigen Dokumentationen fühlt der heute 84-jährige Frederick Wiseman den unterschiedlichsten Institutionen auf den Zahn. Mit dem dreistündigen National Gallery legt er ein monumentales filmisches Essay über Kunst an sich und das Konzept Museum vor.

Die besten Dokumentarfilme lassen einen die Welt mit anderen Augen sehen. KZ-Überlebende eröffnen einem in Claude Lanzmanns Shoah (1985) eine erschütternde mikrohistorische Sicht auf den Holocaust. Ken Burns versetzt einen in The Civil War (1990) zurück ins Amerika der 1860er Jahre und erläutert Schritt für Schritt, wie der amerikanische Bürgerkrieg zur Formung der modernen USA geführt hat. Leviathan (2012) von Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel gelingt es, Hochseefischerei gleichsam aus der Perspektive der gefangenen Meeresbewohner zu zeigen. Und in Joshua Oppenheimers The Act of Killing (2012) erhalten antikommunistische Paramilitärs, die im Indonesien der Sechzigerjahre mehr als eine halbe Million Menschen hinrichteten, eine Plattform, um ihre Taten zu rechtfertigen. Frederick Wisemans Kino ist alltäglicher, aber nicht minder tief greifend. Ein halbes Jahrhundert lang schon porträtiert er die Routine, die sich in öffentlichen Räumen (Central Park, Aspen, Belfast, Maine) und hinter den Mauern jener Institutionen abspielen, die das Rückgrat der westlichen Gesellschaft und Kultur bilden (High School, Hospital, Juvenile Court, Zoo, Ballet, Public Housing, At Berkeley). Sein Stil ist der des Cinéma vérité: Er führt keine Interviews, verzichtet auf Kommentar und Erklärungen; seine Kamera übernimmt die Beobachterrolle, sodass sie von ihren Subjekten nach und nach vergessen wird. In Wisemans Filmen erhält der Alltag eine poetisch überhöhte Note.

National Gallery lädt ein zum Nachdenken über den Stellenwert von Kunst und die Bedeutung der vergleichsweise jungen Institution Museum. Auch knapp 200 Jahre nach der "Erfindung" des öffentlichen, von äusseren Einflüssen grösstenteils abgeschotteten Ausstellungsraums sehen sich Nicholas Penny, der scheidende Direktor der Londoner National Gallery, und seine Mitarbeiter noch mit dem Problem konfrontiert, dass in Museen letztlich der Tod über die Lebendigkeit regiert. "These pictures are going to be here forever, or certainly longer than I will", sinniert einer der diversen Museumspädagogen, der im Laufe von Wisemans Film in Erscheinung tritt. Van Eycks Arnolfini-Hochzeit, Holbeins Gesandte, Turners Fighting Temeraire oder da Vincis Felsgrottenmadonna werden von der Bevölkerung im Idealfall noch jahrhundertelang betrachtet werden können – doch durch eben diese Platzierung im riesigen neoklassizistischen Gebäudekomplex am Trafalgar Square wird den Werken jedweder Kontext entzogen; sie fristen ein archiviertes Dasein fernab von den ursprünglichen Überlegungen und Erwägungen ihrer Urheber.

Frederick Wisemans Film beobachtet das Vorgehen hinter den Kulissen der Londoner National Gallery.
© Xenix Filmdistribution
Doch Wisemans immersiver Gang durch die Bildersäle, die Spezialausstellungen, die Konferenzzimmer, die Restaurationswerkstätten, die Seminarräume geht, gerade dank seiner – absolut gerechtfertigten – Länge, tiefer als etwa Nicolas Philiberts La ville Louvre oder Johannes Holzhausens Das grosse Museum, die einem ähnlichen Museums-Diskurs nachspüren. National Gallery stellt mit seinem Minimalismus und seinem steten Zurückkehren zu gewissen anhaltenden Entwicklungen hinter den Kulissen die bildende Kunst in einen faszinierenden Zusammenhang mit Literatur, Film (Wiseman "ertappt" wiederholt andere Filmcrews) und dem menschlichen Bezug zu kreativem Schaffen. Die emotionale und intellektuelle Auseinandersetzung mit jeglicher Form von Kunst wird zu einem zentralen Element der Conditio humana. Es liegt am Menschen, dem mausoleumartigen Museum Leben einzuhauchen.

★★★★★

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