Montag, 18. August 2014

Tom à la ferme

Mit nur 25 Jahren blickt der Québecois Xavier Dolan bereits auf eine illustre Karriere zurück. Sein Schauspieldebüt feierte er 1994; seit der Jahrtausendwende gehört er zu den gefragtesten Sprechern in frankokanadischen Synchronisationen englischsprachiger Filme – dazu gehören etwa Auftritte in den den Leinwandinkarnationen von Harry Potter (als Ron Weasley), Twilight (als Jacob Black) und The Hunger Games (als Peeta Mellark). 2009 versuchte er sich erstmals als Regisseur und wurde, im zarten Alter von 20, für seinen Erstling J'ai tué ma mère gleich nach Cannes zur Directors' Fortnight eingeladen, wo er prompt mit drei Preisen ausgezeichnet wurde. Diesem ersten Achtungserfolg liess er bis dato vier weitere Filme folgen: Les amours imaginaires, das Queer-Epos Laurence Anyways, die 2013 uraufgeführte Theateradaption Tom à la ferme sowie Mommy, mit dem er dieses Jahr an der Croisette am Hauptwettbewerb teilnahm.

Dolan als Jungtalent zu bezeichnen, würde der Wahrheit also nur zur Hälfte gerecht, angesichts der stattlichen Erfahrung, die Kanadas cineastisches Enfant terrible bereits vorzuweisen hat. So trägt denn Tom à la ferme auch die Handschrift eines Künstlers, der seine Stimme als solcher, seinen Stil gefunden hat und nun darum bemüht ist, ihn in neue Richtungen weiterzuentwickeln. Die Adaption dse Werks von Michel Marc Bouchard (Les feluettes, Les papillons de nuit, Le désir) stellt einen klaren Bruch mit Dolans vorangegangenem Film Laurence Anyways dar, einer im besten Sinne grossspurigen Biografie einer transsexuellen Liebe.

Wo Laurence Anyways zum beinahe dekadenten Pomp neigte – mit seinen üppigen Einrichtungen, überbordenden Gefühlen und seiner mehrere Jahrzehnte umspannenden Handlung –, optiert Tom à la ferme für intensive Schlichtheit. Inszenierung und Mise en scène – ein Hang zu leicht entsättigten Crèmefarben und Grautönen, unerzwungenen Symmetrien, Nahaufnahmen und Handkamera – mögen sich im Grunde gleich geblieben sein, doch die Schnörkel aus Laurence Anyways sind einer erzählerisch wie ästhetisch vergleichsweise spartanischen Philosophie gewichen. Zwar zeigt sich Dolan nach wie vor als herausragender Stilist, unter dessen scharfen Augen jede Einstellung zur Perfektion komponiert ist – allerdings ohne je dogmatisch zu wirken –, doch der Akzent in Tom à la ferme liegt auf einer unterschwellig bedrohlichen Atmosphäre, die Konflikte, welche unter der dünnen Oberfläche gutbürgerlichen Dekorums brodeln, dem Subtext von Dialogfetzen und verstohlenen Blicken.

Insofern passt sich Dolan als Regisseur dem Stoff an, den er zusammen mit Bouchard fürs Kino adaptiert hat. Als Protagonist figuriert Tom (Dolan selbst), ein junger Mann aus der Montréaler Werbebranche, der sich zur Beerdigung seines Lebenspartners Guillaume in die ländliche Provinz begibt, wo dessen Familie einen Bauernhof bestellt. Mangels eines Hotels zieht Tom vorübergehend dort ein, wo er Guillaumes Mutter Agathe (Lise Roy), welche im festen Glauben lebt, ihr Sohn sei heterosexuell gewesen, und seinen homophoben – und latent homosexuellen – Bruder Francis (Pierre-Yves Cardinal) kennen lernt, der über Guillaumes Sexualität im Bilde ist und alles daran setzt, die Illusion seiner Mutter aufrecht zu erhalten.

Auf dem Bauernhof der Familie seines verstorbenen Liebhabhers trifft Tom (Xavier Dolan, rechts) auf den homophoben Francis (Pierre-Yves Cardinal).
© filmcoopi
Wie genau sich Francis' Bestreben, Tom mittels einer Mischung aus Einschüchterung und faszinierender Verschlossenheit als eine Art Guillaume-Ersatz auf Agathes Hof festzuhalten, in diesen Plan einfügt, darüber gibt Dolans Film kaum schlüssig Auskunft, doch genau das trägt zum Reiz der Affiche bei: Tom à la ferme deutet seine Geschichte mehr an als dass er sie erzählt; es liegt beim Zuschauer, die tieferen dramaturgischen Zusammenhänge aus dem Geflecht von Motivationen, Traumata und psychologischen Eigenheiten herauszulesen, mit dem Dolan seinen auf drei – nach der Ankunft von Toms Arbeitskollegin (Évelyne Brochu), die sich als Guillaumes trauernde Freundin ausgibt, vier – Personen reduzierten Figurenkreis ausstattet.

Emotional mag dies nur über bedingte Zugkraft verfügen, doch erinnert Dolans sorgfältiges, äusserst subtil, ja reduktionistisch vorgetragenes Ausloten zwischenmenschlicher Spannungen und Komplikationen an gewisse Werke Alfred Hitchcocks – eine Assoziation, die durch den gewollt expressiven Score im Stile Bernard Herrmanns noch verstärkt wird. Was aber letzten Endes den stärksten Eindruck hinterlässt, ist die graziöse Leichtigkeit, die Eleganz, mit der Tom à la ferme Stimmung und Atmosphäre konstruiert und so dem Zuschauer die tatsächliche wie metaphorische Beengtheit des Protagonisten ungemein effektiv vermittelt. In seinem vierten Film machen sich bei Dolan keinerlei Anzeichen eines Qualitätsverlustes bemerkbar. Im Gegenteil: Dies ist das Werk eines Regisseurs, der damit begonnen hat, seine Kunst weiter zu entwickeln und zu vertiefen.

★★★★

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