Donnerstag, 17. Juli 2014

Rico, Oskar und die Tieferschatten

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Kleinere Unstimmigkeiten hindern zwar Neele Vollmars Kinderbuch-Verfilmung Rico, Oskar und die Tieferschatten an wahrer cineastischer Grösse; doch mit seinem verqueren Charme, "geerbt" von Kästner und Lindgren, schafft es der Film dennoch spielend, Klein und Gross zu unterhalten.

Rico (Anton Petzold) ist zehn Jahre alt und nach eigener Ansicht "tiefbegabt". Was das bedeutet, erklärt er dem Zuschauer nach einer hübsch animierten Einleitung gleich selber: Er denke viel nach, mehr als die meisten Leute, die ihn trotzdem gemeinhin für geistig minderbemittelt halten. Bei so vielen Gedanken, die wie Bingo-Kugeln in seinem Kopf herumrollen, kann es schon einmal vorkommen, dass sich der unternehmungslustige Berliner Junge nicht mehr an den Heimweg erinnert, auch wenn ihn nur noch ein Zebrastreifen von der eigenen Haustüre trennt.

Rund um dieses liebenswert exzentrische Kind und dessen Art, die Welt zu sehen, ist Andreas Steinhöfels 2008 veröffentlichter Bestseller Rico, Oskar und die Tieferschatten angelegt, ein Buch, das in einem nicht allzu weit von der Realität entfernten Deutschland spielt. Sowohl der Roman als auch Neele Vollmars werkgetreue Adaption handeln unter anderem von Kindesentführung und der prekären finanziellen Situation der unteren Mittelschicht. Ob sie 2000 Euro Lösegeld denn bezahlen könnte, die der "Schnäppchenentführer" Mister 2000, welcher derzeit in Berlin sein Unwesen treibt, für die von ihm gekidnappten Kinder verlangt, will Rico von seiner hingebungsvollen Mutter (Karoline Herfurth) wissen, die in einem Nachtclub einer nicht näher definierten Arbeit nachgeht. "Seh' ick so aus?", gibt diese trocken zurück. 

Das Berlin von Steinhöfel und Vollmar wirkt mit seinen schrägen Typen – Ekel Fitzke (Milan Peschel), Schnulzen-Fanatikerin Dahling (Ursela Monn), Hausmeister Marrak (Axel Prahl, der eine verblüffende Ähnlichkeit mit Slavoj Žižek aufweist), eine herrische Eisverkäuferin (Anke Engelke) –, mit seinen Yuppies (ein wunderbar gegen den Strich besetzter David Kross) und Hipstern, mit seinen Prostituierten und Stadtstreichern stellenweise wie die Kinderausgabe von Sven Regeners Vision der Bundeshauptstadt. Nicht selten erinnert es, gerade nachdem sich Rico mit dem achtjährigen Oskar (Juri Winkler), einem stets einen Helm tragenden, hochbegabten Sonderling, anfreundet, auch an jenes aus den Büchern Erich Kästners – Ricos Ermittlungen, als Oskar spurlos verschwindet, tragen unverkennbar Züge von Emil Tischbeins Berlin-Odyssee in Emil und die Detektive; sein strategisches Vorgehen wiederum evoziert die Abenteuer von Astrid Lindgrens jugendlichem Meisterdetektiv Kalle Blomqvist. 

Tief- und hochbegabt: Rico (Anton Petzold, mit Eiswaffel) und Oskar (Juri Winkler, mit Helm) werden dicke Freunde.
© 2014 Twentieth Century Fox Film Corporation.
Und wie schon Gerhard Lamprechts 1931 gedrehte Verfilmung des Kästner-Klassikers zeichnet sich auch Rico, Oskar und die Tieferschatten weniger durch die schauspielerischen Glanzleistungen seiner Darsteller – gerade Juri Winkler bekundet Mühe damit, seine Dialogzeilen natürlich wirken zu lassen – oder ästhetische Innovation aus als durch seine feine Darstellung davon, wie ein Kind die deutsche Weltstadt zu einer exakt verorteten Zeit erlebt. Diese immer wider aufblitzende Beobachtungsgabe von Vollmars Film entschuldigt auch für die Forrest Gump-Verklärung, die seinem Protagonisten zuteil wird. Dessen bedenkliche Absage an Oskars Intelligenz – "Deine Laune ist immer im Keller, weil du so schlau bist" – wird als tiefgründige Weisheit dargestellt, was dem ansonsten so sympathischen Film, der im Abspann bereits seine eigene Fortsetzung ankündigt, nicht gut zu Gesicht steht.

★★★

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