Montag, 19. August 2013

Les invisibles

Wie hängen Kunst und Realität zusammen? Ken Loach sagte einmal, der einzige Grund, einen Film über die Vergangenheit zu machen, sei das Bestreben, etwas über die Gegenwart sagen zu wollen. Wie, wenn überhaupt, fügt sich der Dokumentarfilm in dieses Schema ein? Einige, zum Beispiel der Genre-Pionier Robert Flaherty, versuchen just dies – zeitgenössische Ideale hinterfragen –, andere (Searching for Sugar Man, Martin Scorseses einschlägige Projekte) wollen eine Geschichte erzählen, viele (Blackfish, The Invisible War, das Gesamtwerk von Michael Moore) zielen auf Agitation und politische Veränderung.

Bei Les invisibles gestaltet sich die Kategorisierung schwieriger. Politisch aufgeladen ist der Film an sich nicht, jedenfalls nicht explizit, obgleich er unter der Regie des bekannten Queer-Regisseurs Sébastien Lifshitz entstand. Seine aktuellsten politischen Äusserungen betreffen französische Provinzpolitik, die konkreten Parolen fallen lediglich im Zusammenhang mit der Pariser 68er Bewegung. Dass der ausladende, klassisch inszenierte Zeitzeugenbericht kein Wort über seine mutmassliche Motivation verliert, ist, so scheint es, raffiniertes Kalkül seitens von Lifshitz.

Denn Les invisibles handelt von Homosexuellen, ein Thema, welches seit geraumer Zeit die Gemüter in Frankreich erhitzt und seit einigen Monaten sogar – lange nachdem der Film bei den Césars als beste Dokumentation ausgezeichnet wurde – die Menschen zu Hunderttausenden auf die Strassen treibt. Stolz bezeichnen sich die Demonstranten, oftmals jünger als 30 Jahre, als "les homophobes"; die von Präsident François Hollande initiierte Gleichstellung von Homo- und Heteroehe finden sie inakzeptabel.

Lifshitz tritt dieser wachsenden konservativen Bewegung mit einer simplen Affiche entgegen: Seine Gesprächspartner sind schwule/lesbische Menschen im Spätherbst ihres Lebens, geboren in den Zwischenkriegsjahren. Sie alle haben miterlebt, wie die LGBT-Gemeinschaft in den letzten 65 unaufhaltsam gewachsen ist und sich ihren Platz in der Gesellschaft erstritten hat, gegen staatliche Diskriminierung und soziale Prüderie. Sie sind lebende Beweise, dass nicht-heteronormative Vorlieben keine Jugendflausen sind, dass Homosexualität nicht eine rebellische Trotzreaktion, sondern eine natürliche Veranlagung ist. "Warum soll ich mich dauernd quälen", fragt der Mittachtziger Pierrot, "indem ich mich frage, ob ich mit Männern oder Frauen glücklicher bin"? Liebe, wo die Liebe hinfällt – ob das Objekt dieser Zuneigung nun männlich oder weiblich ist, ist letztlich zweitrangig.

Monique, die Alt-68erin.
© Arthouse Commercio Movie AG
Pierrot, stolzer bisexueller Ziegenhirte, ist ohnehin der lebendigste von Lifshitz' Interviewten. Ohne Hemmungen erzählt er, wie er als Teenager einem Knecht bei der Selbstbefriedigung assistierte ("Das hat mir gefallen"); sein Gesicht verzieht sich zu einem breiten Grinsen, wenn er erklärt, dass auch Ziegenböcke grossen Gefallen am Masturbieren finden. In diesen Anekdoten enthalten ist ein direkter Angriff auf jene prüden Apologeten, welche damals (und wohl auch noch heute) keusche Enthaltsamkeit respektive Sex als blosses Mittel zur Fortpflanzung – worin homosexuelle Verhältnisse natürlich nicht eingeschlossen sein können – als höchstes Ideal der Natur zu verstehen glauben. (Als wollte er diese Verehrung von zielgerichteter Fortpflanzung ironisch kommentieren, eröffnet Lifshitz seinen Film mit der wunderschönen Geburtshilfe, welche das Paar Yann und Pierre, offenbar Betreiber einer Volière, einem schlüpfenden Vogel leisten.)

Andere erzählen von ihrer Kindheit, von der Entdeckung der eigenen Präferenzen, von den Erlebnissen, die sie über die Jahre gemacht haben. Es sind Geschichten von allumfassender Ausgrenzung: Pierre wurde streng katholisch erzogen und nach seinem Coming-Out von Freunden und Familie verfemt; Yann widerfuhr dasselbe in seinem kommunistisch geprägten Umfeld; Christian war so stark von seiner religiösen Erziehung geprägt, dass er jahrzehntelang mit Depressionen kämpfte; derweil Catherine und Eilsabeth, nachdem sie beide auf Grund ihrer Sexualität entlassen wurden, den Entschluss fassten, der Stadt den Rücken zu kehren und im Südwesten ein altes Bauerngut zu übernehmen.

Lifshitz, der niemals durch hörbare Fragen in den Vordergrund tritt, lässt sich Zeit, dem Publikum diese Atmosphäre der Intoleranz, wie sie in Frankreich noch weit bis in die Achtzigerjahre herrschte, zu vermitteln, um dann vom kleinen zum grossen Rahmen überzugehen und einige seiner Gegenüber, vornehmlich die Frauen, von den Studentenunruhen im Frühsommer 1968 erzählen zu lassen. Mit grosser Leidenschaft erzählt Monique, begleitet von illustrierenden Originalaufnahmen, wie ihre feministischen Proteste von begeisterten Grossmüttern am Strassenrand lauthals unterstützt wurden und wie, trotz nach wie vor weitreichender Ablehnung, der Triumph der Frauenbewegung auch ein Triumph der LGBT-Sache war. Les invisibles funktioniert auch als verständnisvolle Verteidigung des blauäugigen, heute gerne verspotteten Idealismus jener Tage; das Video einer jungen Demonstrantin, welche ein Traktat gegen die traditionelle Familie verlautbart, wird mit einem dünkelhaften englischen Bericht über eine Schwulenbar und zaghaften, ja ängstlichen, Berichten aus der damaligen französischen Presse über "le phénomène homo" gekontert.

Spätes Glück: Bernard und Jacques.
© Arthouse Commercio Movie AG
Der Film verliert sich stellenweise in diesen interessanten, aber repetitiven Passagen. Mit zunehmender Dauer verwandeln sich die ergreifend dargelegten Einzelschicksale in nacherzählte historische Abhandlungen. Les invisibles müsste nicht 115 Minuten lang sein. Doch Lifshitz findet schlussendlich in die Spur zurück, indem er seine Protagonisten nicht bloss als Homosexuelle, sondern als homosexuelle Senioren versteht, welche die gleichen Dinge umtreiben wie ihre heterosexuellen Alterskollegen. Thérèse spricht davon, wie Sex im Alter zur Unmöglichkeit wird, wenn man sich erst einmal davon losgesagt hat. Mit tränenverhangenen Augen philosophiert Monique über den Bahnhof in ihrem Heimatort und wie die alten Gemäuer eine eigene Erinnerung haben müssen. Pierrot ist zufrieden mit seinem Leben, welches erfüllt war von zahllosen "Eroberungen", wie er es nennt. "Gott ist nichts!", resümiert er. "Deinen Nächsten sollst du lieben". Lifshitz beendet seinen Film, der erst mit dem Wissen des Zuschauers um seinen politischen Hintergrund zum wichtigen Werk wird, mit den spät zusammen gekommenen, stets liebevoll flachsenden Bernard und Jacques auf einer Marseiller Fähre. Der eine legt den Arm auf die Schulter des anderen; gemeinsam geniessen sie das Panorama – ein schönes Bild. Warum sollte irgendjemand Anstoss daran nehmen, dass es sich bei den beiden um zwei Männer handelt?

★★★★

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