Mittwoch, 14. November 2012

Dans la maison

Ein gutes Jahr, nachdem er mit dem zahnlosen Potiche einen nur mässig gelungenen Ausflug ins Fach der reinen Komödie unternommen hat, kehrt der renommierte französische Regisseur François Ozon nun zu seinem Kerngeschäft zurück. Dans la maison, ein bissiger Rundumschlag gegen die Marotten von Bourgeoisie und Möchtegern-Bohème, ist sein bestes Werk seit Jahren.

Kurz vor dem Ende der Sommerferien begibt sich der Französischlehrer Germain (Fabrice Luchini) ins Lycée Gustave Flaubert zur jährlichen Startkonferenz. Dort kündigt der Rektor an, das Gymnasium sei auserwählt worden, in einem Pilotprojekt das neueste pädagogische Mittel zu erproben: Schuluniformen. Wider Erwarten stösst das antiquierte Konzept nicht auf auf wütende Proteste, sondern eher desinteressiertes Schulterzucken, unter Lehrern und Schülern gleichermassen. So hat Germain zu Beginn des Schuljahres auch andere Sorgen: Seine neuen Zöglinge sind ein schreibfauler, ungebildeter Haufen, von denen, wie der frustrierte Pauker konstatiert, "kaum einer zwei gerade Sätze zu Papier bringt". Die Ausnahme bildet Claude (Ernst Umhauer), der in seinem eloquenten Aufsatz davon berichtet, wie er das Haus eines Freundes erkundet und sich dabei speziell für die Dame des Hauses (Emmanuelle Seigner) interessiert. Der Text endet mit einem schlichten "A suivre" – Fortsetzung folgt. Der Lehrer ermuntert den Schüler, die Geschichte weiterzuentwickeln. Während Germain und seine Frau (Kristin Scott Thomas) die weiteren Episoden richtiggehend verschlingen, werden Claudes Abenteuer immer gewagter. Aber das Ganze ist selbstverständlich nur Fiktion, oder?

Die Stärken und Schwächen François Ozons gehen oft Hand in Hand. Sein Stil ist unverkennbar: klare Farbgebung, manchmal knallig, manchmal schlicht; stilisierte, ja geradezu künstliche Erzählungen; in sich geschlossene Handlungsräume; unterschwellig erotische Spannungen, oft ausserhalb der gesellschaftlichen Norm; immer eine satirische Komponente. Mitunter funktioniert dies gut (Sous le sable, Swimming Pool), hin und wieder klappt es trotz arger Überzeichnung (8 femmes), mal ist die Angelegenheit schlicht zu überladen, zu künstlich, zu pastellfarben, um zu überzeugen (Potiche).

Literarische Abenteuer: Claude (Ernst Umhauer) nähert sich der Mutter (Emmanuelle Seigner) seines Freundes an.
Entsprechend erfreulich ist die Erkenntnis, dass sich der Regisseur der "Nouvelle Nouvelle Vague" in Dans la maison auf der Höhe seines Könnens befindet. Selten ist Ozon die Mischung aus Satire, Gesellschaftskritik, Charakterkomik, Handlung und Inszenierung so gut gelungen, kaum je fiel das Zusammenspiel des scheinbar leicht verdaulichen Inhalts und des gnadenlosen Subtexts so harmonisch aus. Auf den ersten Blick wirkt der Film harmlos, vielleicht nicht so putzig wie 8 femmes oder Potiche, aber sicher leichter als Swimming Pool. Unter der Fassade schlummert jedoch eine kleine, gemeine, bitterböse Abrechnung mit dem Selbstbetrug, den Heucheleien, den Unzulänglichkeiten der modernen Pädagogik – Schüler sind nicht mehr "élèves", sondern "apprenants", Prüfungen werden in grün korrigiert, denn rot ist "menaçant" – und der Bourgeoisie als solcher.

Dieses urfranzösische Motiv, welches jüngst auch in der Theaterverfilmung Le prénom aufgegriffen wurde, weiss Ozon äusserst elegant in seine Erzählung einfliessen zu lassen, welche sich an der Oberfläche – im Gegensatz zu The Words durchaus erfolgreich – mit der Macht der Worte auseinandersetzt, wobei Germain die Rolle des Shahryar, Claude die der Scheherazade, einnimmt. Die Bourgeoisie in Dans la maison ist eine, die sich in vielen Formen zeigt und dementsprechend auf unterschiedliche Weisen angegangen wird. Germain möchte ein "Artiste" der Bohème sein, kann die Ambition aber mangels Schreibtalent nicht erfüllen und ist darüber hinaus auch noch mit einer Galeristin verheiratet, deren Sexpuppen-Exponate er weder versteht noch gut heisst. Claude hingegen schreibt in seinem Porträt der Familie Artole den Durchschnitt gross: "Normal" sei die Sippe, "Musterbeispiele der Mittelklasse". Es klingt nicht wie ein Kompliment. Zu guter Letzt ortet Ozon die Bourgeoisie auch in der Politik. Seine Anfangsmontage, in welcher er Hunderte von Schülern – europäisch, nord- und südafrikanisch, asiatisch – in ihren Uniformen mittels Jump Cuts zeigt, ist so virtuos wie sprechend: Bourgeoise Anpassung ist eine Illusion.

Blattkritik: Lehrer Germain (Fabrice Luchini) berät den Schreiberling.
Gezeigt werden diese Aspekte mit komödiantischen Einschlägen, welche versuchen, eine realistische Alternative zu Luis Buñuel darzustellen; mit schöner Regelmässigkeit beruft sich der Film auch auf das Chabrol'sche Psychodrama; in gewissen Momenten schwingt sogar eine Spur von Michael Haneke mit; in einer Szene verneigt sich Ozon obendrein vor Woody Allens düsterer Gesellschaftssatire Match Point. Zwar droht das ganze wunderbar geschliffene, sorgfältig aufgebaute Gebilde im letzten Akt auseinanderzufallen, doch genau dann wird der Wert eines guten Casts erkennbar. Fabrice Luchinis Darbietung pendelt stets zwischen der leichten Muse und der grossen Tragödie und erreicht in Germains finalem psychischen Bankrott ihren Höhepunkt.

Der perfekte Film mag François Ozon noch immer nicht gelungen sein, doch Dans la maison ist zweifellos ein bedeutender Schritt in die richtige Richtung. Nie war seine Kritik an der Bourgeoisie kraftvoller als im rabenschwarzen Schlussbild des Films, in dem sich die in ihre Einzelteile aufgespaltene Mittelklasse wortwörtlich selbst zerstört. Claude Chabrol wäre stolz.

★★★★

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