Donnerstag, 3. Mai 2012

L'enfant d'en haut

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Vier Jahre nach Home, ihrem international beachteten Kinodebüt, wurde die Franco-Schweizerin Ursula Meier an der Berlinale für ihr Zweitwerk mit einem Sonderpreis ausgezeichnet. L'enfant d'en haut ist ein persönliches und politisches, wenn auch etwas kühles Drama.

Das Leben ist nicht einfach für den zwölfjährigen Simon (Kacey Mottet Klein, der für seine Nebenrolle in Home einen Schweizer Filmpreis erhielt) und seine ältere Schwester Louise (Léa Seydoux). Die beiden leben "en bas" in einem Wohnblock in einem Walliser Industriegebiet, während einige tausend Meter oberhalb, "en haut", Urlauber sich dem Wintersport hingeben. Louise jobbt als Putzfrau, wofür sie eher schlecht als recht bezahlt wird. Simon begibt sich derweil ins Skigebiet und stiehlt allerlei Skizubehör, welches er zu reduzierten Preisen Freunden und Hotelangestellten verkauft. Das Geschäft hält die Geschwister zwar einigermassen über Wasser, doch die Fischzüge werden für den geschickten Jungen immer komplizierter, was auch seine Beziehung zu Louise nicht einfacher macht.

Die Familie wird bei Ursula Meier gross geschrieben. Schon im hervorragenden Home interessierte sie sich für Dynamiken und Spannungen, denen ein familiärer Verbund unter gewissen Umständen ausgesetzt ist. Damals waren es Menschen, deren trautes Heim von einer Autobahn quasi unbewohnbar gemacht wurde; heute ist es ein Kind, das sich Verantwortung aufhalst, weil seine Schwester sich derselben entziehen will. Dieser Konflikt wird mit viel Einfühlungsvermögen und einer glaubwürdigen Charakterentwicklung geschildert, von zwei stark aufspielenden Hauptdarstellern unterstützt und einem chabrolesken "Sans fin" abgerundet. Dabei fehlt der ein wenig zu episodischen Geschichte allerdings, trotz der sehr intimen Atmosphäre, etwas der emotionale Bezug zu den Protagonisten, der in Meiers Erstling reichlich vorhanden war; es gelingt keiner der beiden zentralen Figuren so richtig, das Herz des Zuschauers zu packen.

Fliegender Händler: Simon (Kacey Mottet Klein) versucht, gestohlenes Skizubehör zu verkaufen.
Für diesen Makel entschädigt jedoch der raffinierte Subtext, den die Regisseurin und Autorin in den persönlichen Rahmen eingearbeitet hat. Wie auch Home ist L'enfant d'en haut, der international als Sister in die Kinos kommt, ein eminent politischer Film. Sein Vorgänger beleuchtete die Schattenseiten wirtschaftlicher Aufbruchsstimmung, er selbst ist tiefgreifend von der anhaltenden, die ganze Welt betreffenden Krise von Politik und Finanz geprägt. Er spielt in einer Welt, in der Klassenunterschiede kein veraltetes, von linken Radikalen missbrauchtes Konzept, sondern ein hochaktuelles Problem sind. Im grauen Tal, wo der Schnee schmutzig und matschig am Strassenrand liegt, kämpfen die unteren Schichten ums Überleben, manchmal indem sie sich, wie Simon, auf den von Agnès Godard brillant eingefangenen Berg, der allzu hell, allzu weiss leuchtet, begeben und die Konsumgesellschaft bestehlen. Die können den Krempel ja neu kaufen, so Simon.

So ist L'enfant d'en haut, obgleich er in der Schweiz spielt und von einer halben Schweizerin inszeniert und geschrieben wurde, auch ein sehr europäischer Film, ein Produkt, welches sich direkt aus der Krise Europas herausgebildet hat. Meier zeigt auf äusserst subtile Art und Weise, wie soziale Ungerechtigkeit und Ausgrenzung auch hierzulande keine unbekannten Phänomene sind. Und gerade deshalb ist sie mit grossem Abstand die zurzeit spannendste und beste Filmemacherin unseres Landes.

★★★★

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