Dienstag, 29. Mai 2018

Visages villages

© Filmcoopi

★★★★

"Trotzdem ist Visages villages ein optimistischer Film, der an die Kraft der Kunst glaubt. Varda und JR münzen ihre Trauer und ihre Sorgen in wunderschöne, poetische Werke um – genau so, wie sie die Geschichten ihrer Sujets in riesige vorübergehende Denkmäler an alltägliche Freuden verwandeln. Es ist Varda in Reinform: subtil, spielerisch und menschlich."

Ganze Kritik auf Maximum Cinema (online einsehbar).

Montag, 21. Mai 2018

"Black Panther" und "Isle of Dogs": Die Grenzen der Kritik

Was haben Ryan Cooglers Marvel-Blockbuster Black Panther und Wes Andersons Stop-Motion-Abenteuer Isle of Dogs gemeinsam? Nun, da wäre einmal der Umstand, dass in beiden Titeln Tiere erwähnt werden. Ausserdem handelt es sich bei beiden um amerikanische Filme, die sich unter anderem dadurch auszeichnen, dass sie nicht in den USA spielen.

Doch die beiden wichtigsten Gemeinsamkeiten liegen bei der Rezeption: Nicht nur gehören die beiden zu den besten Filmen des bisherigen Jahres (Meinung); kaum ein anderer Kinostart der ersten Jahreshälfte wurde derart angeregt diskutiert (Tatsache). Sowohl die Meinung als auch die Tatsache prädestinieren die beiden Filme im Grunde dafür, von mir in grösserem Rahmen besprochen und analysiert zu werden.

Seit ich beide Werke im Februar zum ersten – und nicht zum letzten – Mal gesehen habe, drücke ich mich aber um eine Kritik, obwohl mir der Gedanke zuwider ist, zwei Höchstwertungen gänzlich unkommentiert zu lassen. Der Grund dafür ist aber nicht etwa das Fehlen von spannenden Diskussionsansätzen oder anregenden filmemacherischen Eigenheiten, sondern das Wissen, zum bestehenden Diskurs nur wenig von Bedeutung beitragen zu können.

Beide Filme haben, aus unterschiedlichen Anlässen, eine Vielzahl von Autoren und Autorinnen (siehe unten) zu herausragenden Texten inspiriert, deren Argumente und Schlussfolgerungen entsprechend auch meine Gedanken über das Gesehene beeinflusst haben. Eine exklusiv-originelle Facing the Bitter Truth-Interpretation ist somit kaum noch möglich.

Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Black Panther und Isle of Dogs – oder zumindest die Diskussionen, die sich an ihnen entzündet haben – sind ein gutes Beispiel dafür, womit die weiss und männlich dominierte Filmkritik, und mit ihr weite Teile der Gesellschaft, noch umzugehen lernen muss: Nicht alles ist dafür gemacht, von allen mit Autorität debattiert zu werden. Manchmal ist es wichtiger zuzuhören als selber zu sprechen. "This is about what you've been saying and the ways I'm finally listening and getting out of the way", wie es Film Crit Hulk letztes Jahr in seinem wegweisenden Essay "On Criticism in the Intersectional Age" ausdrückte.

Konkret bedeutet dies, dass die beiden vorliegenden Filme zwar dafür prädestiniert sind, im Detail rezensiert zu werden, ich aber nicht der geeignete Kritiker dafür bin. Cooglers Black Panther erzählt vom Titel gebenden schwarzen Superhelden (gespielt von Chadwick Boseman), der in seinem fiktiven afrikanischen Heimatland, dem technologisch fortgeschrittenen, niemals kolonisierten Wakanda, zum König gekrönt wird und seinen Thron gegen den Anspruch des afroamerikanischen Söldners "Killmonger" (Michael B. Jordan) verteidigen muss. Andersons Isle of Dogs wiederum spielt in einer dystopischen Grossstadt in Japan, in der sämtliche Hunde auf eine Müllinsel verbannt werden, und erntete Kritik für seinen Gebrauch der japanischen Sprache und Kultur als Ausstattungselement.

Ich bin nicht die richtige Person, um über die Wichtigkeit von Black Panther für Hollywood als Ganzes zu dozieren – von seinem überwiegend schwarzen Cast und seinen starken Frauenfiguren über seinen finanziellen Erfolg bis hin zu seiner klugen, nuancierten Auseinandersetzung mit den Konsequenzen einer Diaspora. Ebenso wenig Gewicht trägt meine Stimme in einer Debatte darüber, ob und inwiefern sich Wes Anderson in Isle of Dogs der "cultural appropriation", der kulturellen Aneignung, schuldig macht – und welchen Einfluss dies auf den Versuch des Films hat, wie The Grand Budapest Hotel (2014) vor ihm den westlichen Umgang mit Flüchtlingen kritisch zu kommentieren.

Das Produktivste, das ich in diesem Diskurs leisten kann, ist, von anderen Perspektiven etwas zu lernen. Deshalb soll dieser Text auch keine ausführliche Kritik, keine Filmanalyse sein, sondern ein Wegweiser in Richtung all der Menschen, die sich fundiert mit den Fragen befasst haben, die diese Filme aufwerfen – und deren Gedanken mein Verständnis dieser beiden wunderbaren Werke vertieft haben.

Chadwick Boseman in Black Panther.
© Marvel Studios
Was Black Panther betrifft – seines Zeichens der bislang beste Film im "Marvel Cinematic Universe" –, ist Film Crit Hulks Artikel dazu ein guter Ausgangspunkt, gerade im angesprochenen Kontext. Denn Hulk sitzt im selben Boot wie ich und unzählige andere Kritiker – und macht dieses Eingeständnis zu einem der Grundpfeiler seines Aufsatzes: "What I'm hopefully trying to put forth in this essay is not a product of some white guy explaining how racism works to people who have far more personal understanding, but just a reflection of that same listening. And the willingness to be wrong within this conversation about literally everything I'm putting forth."

Von Hulk führt der Weg direkt zu den besten drei Artikeln, die ich zum Thema gelesen habe: "The Provocation and Power of Black Panther" von Vann R. Newkirk II, "The Tragedy of Erik Killmonger" von Adam Serwer und "Black Panther and the Invention of 'Africa'" von Jelani Cobb. Alle drei lesen den Film hauptsächlich, aber nicht ausschliesslich, durch die postkoloniale Diaspora-Linse und erkunden, wie geschickt Ryan Coogler und Co-Autor Joe Robert Cole die langen Schatten von Kolonialismus und Sklavenhandel in ihren Franchisen-Blockbuster integrieren und ihnen emotional resonant begegnen.

Wem der Sinn mehr nach angeregtem Dialog steht, kann diesen auf der Facebookseite des Zürcher Zentrums Künste und Kulturtheorie finden. Dort steht einem ein 90-minütiger Mitschnitt einer Gesprächsrunde zur Verfügung, in der Danielle Dash, Musa Okwonga, Franziska Meister und Simon Küffer dem Film – auch seinen potenziell problematischen Aspekten – mit Scharfsinn und Humor auf den Zahn fühlen.

Michael B. Jordan in Black Panther.
© Marvel Studios
Ich fühle mich kaum in der Lage, dieser Fülle an inspirierendem und erhellendem Lese- und Visionierungsstoff etwas hinzuzufügen, und kann es somit guten Gewissens bei einer vorbehaltlosen Empfehlung bewenden lassen: Black Panther ist ein visuell atemberaubendes, thematisch hochintelligentes Spektakel mit dem Finger am Puls der Zeit.

Etwas komplizierter gestaltet sich die Sache bei Isle of Dogs, da die ihm gewidmeten Artikel, anders als bei Black Panther, nicht das Resultat weit verbreiteter Ehrfurcht sind, sondern aus dem Gefühl heraus entstanden sind, ein mögliches Problem beleuchten zu wollen. Nicht viele werden die wohlbekannte Kunstfertigkeit von Wes Anderson und seinem Animationsteam in Frage stellen. Was sie hier fabriziert haben, ist von ungemeiner Schönheit – sowohl ästhetisch als auch erzählerisch.

Isle of Dogs ist voller kindlicher Fantasie und Abenteuerlust, voller grossartig eingefangener Haustierliebe, liebenswert-exzentrischem Humor und stimmiger Melancholie. Die Figuren bewegen sich durch eine wunderschön konzipierte, beeindruckend detaillierte, handgemachte Welt, in der, wie so oft bei Anderson, alles fein säuberlich an seinem Platz ist – und dennoch im Chaos zu versinken droht.

Isle of Dogs
© 2017 Twentieth Century Fox Film Corporation
Woran sich hier die Geister scheiden, ist die Art und Weise, in welcher Japan als Schauplatz verwendet wird – insbesondere Andersons Umgang mit seinen japanischen Figuren: Während die wichtigsten Protagonisten, ein Rudel Hunde, Englisch sprechen – mit den Synchronstimmen von namhaften Akteuren wie Bryan Cranston, Bill Murray, Edward Norton oder Jeff Goldblum –, äussern sich die Menschen in Isle of Dogs, mit Ausnahme einer amerikanischen Austauschstudentin (Greta Gerwig) und einer Dolmetscherin (Frances McDormand), nur auf Japanisch, oftmals ohne direkte Übersetzung, niemals untertitelt.

Rund um Andersons verträumte Vision von Japan sowie seine Inszenierung der japanischen Sprache wird in den einschlägigen Medien seit einigen Monaten eine faszinierende Debatte geführt. Und auch hier stosse ich an die Grenzen meiner Urteilsfähigkeit: Ich bin als weisser Westeuropäer schlicht nicht dazu ausgerüstet, einen relevanten Beitrag zu einer Konversation zu leisten, in deren Mittelpunkt in erster Linie Japaner und japanischstämmige Amerikaner stehen.

Hier geht es auch nicht zuletzt darum, Minderheiten nicht als geschlossene Front, sondern als heterogene Gruppen von Individuen wahrzunehmen. Das zeigt etwa Emily Yoshidas ausgezeichneter Artikel, in dem sie sich den japanischen Komponenten des Films gegenüber zwar suspekt zeigt, zugleich aber einräumt, die Muttersprache ihrer Eltern nicht gut genug zu beherrschen, um ein abschliessendes Urteil über die japanischen Dialoge fällen zu können.

Als etwas weniger nachsichtig, aber nicht minder durchdacht und lesenswert, erweisen sich die Denkanstösse von Justin Chang und Angie Han, die in Isle of Dogs eine unterbewusste Marginalisierung der japanischen Figuren ausmachen. Ihnen widerspricht die japanische Auswandererin Moeko Fujii, gemäss welcher der Film seinem japanischsprachigen Publikum mit seinen untertitellosen Passagen eine eigene Dimension zugestehe ("I was hearing voices from home") und darüber hinaus der fundamentalen Unvollkommenheit jeder Übersetzung Rechnung trage.

Isle of Dogs
© 2017 Twentieth Century Fox Film Corporation
Da ich von Andersons Film begeistert bin, sympathisiere ich natürlich fast schon automatisch mit Fujiis Artikel, muss mir dabei jedoch bewusst sein, dass ich nicht in der Position bin, ihm mehr Gültigkeit zu attestieren als denen von Yoshida, Chang und Han. Würde ich eine Kritik zu Isle of Dogs schreiben, könnte ich die vorliegende Diskussion um Authentizität und Repräsentierung nicht guten Gewissens ignorieren, wäre aber auch nicht in der Lage, sie angemessen anzusprechen.

Darum ziehe ich hiermit einen Schlussstrich unter meine – ironischerweise immer noch sehr langwierige – Erklärung, warum ich weder Black Panther noch Isle of Dogs im üblichen Rahmen besprochen habe. Stattdessen danke ich Film Crit Hulk, Vann R. Newkirk II, Adam Serwer, Jelani Cobb, Emily Yoshida, Justin Chang, Angie Han und Moeko Fujii für ihre Arbeit und lege es jeder Leserin und jedem Leser ans Herz, ihnen auf Twitter zu folgen. Es ist ein guter Ort zum Zuhören.

Black Panther – ★★★★★
Isle of Dogs – ★★★★★

Samstag, 19. Mai 2018

Ready Player One

Im kollektiven Kino-Bewusstsein existieren zwei Steven Spielbergs, und beide haben das moderne Hollywood nachhaltig geprägt: Der eine ist ein Meisterregisseur und begnadeter Geschichtenerzähler – der andere ein Hersteller leicht verdaulicher Massenware, von allzu niederschwelligem Kintopp, der das zwiespältige Zeitalter der Franchisen und Blockbuster eingeläutet hat.

Die zweite Beschreibung mag, historisch gesehen, einen wahren Kern haben; doch wer dies zum Anlass nimmt, Spielberg seinen Status als Ausnahme-Filmkünstler abzusprechen, verschliesst die Augen vor einer einzigartigen Karriere und einer grossen Handvoll Meisterwerken.

Das bedeutet jedoch nicht, dass Spielberg vor Filmen gefeit ist, die durch und durch der zweiten Beschreibung entsprechen. 1941 (1979) ging in die Richtung, ebenso Hook (1991), The Terminal (2004), The BFG (2016) sowie das eine oder andere Indiana Jones-Sequel. Und auch Spielbergs Neuster, die Romanadaption Ready Player One, gehört dazu.

Der Science-Fiction-Film basiert auf dem gleichnamigen Buch von Ernest Cline und spielt in der nicht allzu weit entfernten Zukunft des Jahres 2045. Die Menschheit lebt in Slums und verbringt die meiste Zeit damit, mittels Virtual-Reality-Technologie vor der tristen Realität in die sogenannte OASIS zu fliehen – einem virtuellen Universum, in dem man mit seinem Avatar alles Mögliche und Unmögliche unternehmen kann. Entwickelt wurde die OASIS vom inzwischen verstorbenen James Halliday (Mark Rylance), der seine Kontrolle über das System derjenigen Person vermacht hat, die eine Reihe von Rätseln lösen und sein goldenes "Easter Egg" finden kann. Erfolgreich war bislang aber niemand.

Hier kommt Wade Watts (Tye Sheridan), in der OASIS bekannt als Parzival, ins Spiel. Der 17-Jährige ist einer jener Glücksritter, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, das sagenumwobene Easter Egg zu finden. Seine stärksten Konkurrenten sind die Agenten des Videospiel-Riesen IOI, deren CEO Nolan Sorrento (Ben Mendelsohn) die werbefreie OASIS übernehmen und zum allmächtigen Multimedia-Monopolisten aufsteigen will.

Wade (Tye Sheridan) verbringt den Grossteil seines Lebens in der OASIS, einem virtuellen Universum.
© 2018 Warner Bros. Ent.
Clines Roman, der in gewissen Kreisen zum Kultbuch geworden ist, war eine einzige grosse, mit detaillierten Querverweisen vollgestopfte Liebeserklärung an die Popkultur der Siebziger- und Achtzigerjahre – eine Ära, die Spielberg aktiv mitgestaltet hat. Dessen sehr freie Adaption hingegen, nach einem Drehbuch von Zak Penn und Cline selbst, ersetzt diese zeitliche Spezifik durch eine heterogenere Sammlung von mehr oder weniger willkürlichen Bezugspunkten. Aus rechtlichen und ästhetischen Gründen – und wohl auch wegen des Alters des Zielpublikums – gibt es hier breiter bekanntes Material wie King Kong, Stanley Kubricks The Shining (1980) oder den Iron Giant (1999) statt eines Reenactments von John Badhams Thriller WarGames (1983) zu sehen.

Letztlich sind diese Unterschiede aber irrelevant, sind die unzähligen Referenzen in Ready Player One doch ebenso austauschbar wie seine Figuren und der Plot. Spielberg setzt einem ein solide erzähltes, durchaus unterhaltsames Abenteuer vor, das jedoch von einer atemberaubenden Oberflächlichkeit ist.

Weder Wade noch seine Mitstreiterin – die Rebellin Art3mis (Olivia Cooke), welcher der Film aufgrund eines Muttermals einen abstrusen Selbstbild-Komplex verpasst – entwickeln sich je bedeutungsvoll weiter. Nichts hinterlässt hier emotionale Spuren. Die Handlung bleibt stets Mittel zum Zweck – eine Reihe von Hindernissen für die Protagonisten auf ihrem Weg zu Hallidays Easter Egg. Ereignisse stossen ihnen zu, scheinen sie aber in ihrem Innersten nicht im Geringsten zu berühren. Folgerichtig ändert sich auch an der Welt ausserhalb der OASIS bis zum Schluss nichts: Die Slums sind immer noch da, der ökologische Kollaps steht immer noch vor der Tür. Als Happy End gilt, dass der Held einen Lebensstandard erreicht hat, wo er sich dafür nicht mehr interessieren muss.

In der OASIS sucht Wade als Parzival nach dem goldenen Easter Egg.
© 2018 Warner Bros. Ent.
Wer unbedingt will, könnte hier möglicherweise einen kritischen Kommentar über die Zerstreuungen der digitalen Welt und die kapitalistische Heiligsprechung des Egoismus ausmachen. Doch dazu fehlt Ready Player One schlicht die Tiefe. Er ist in gewisser Hinsicht der perfekte postmoderne Film: In Abwesenheit jeglicher Eigensubstanz weist er mit seinen Anlehnungen an popkulturelle Marksteine unablässig über sich selbst hinaus und unterstreicht damit nur seine eigene Leere, seine eigene Identitätslosigkeit. Die Tragödie, die diesem Film innewohnt, ist die Tatsache, dass er niemals den Status jener Werke erreichen kann. Er referenziert, ohne zu ahnen, dass er nie selbst Referenz sein wird.

Oder ahnt er es etwa doch? Kurz vor dem Ende hält der Film plötzlich inne und überlässt einem melancholischen, introspektiven Avatar Hallidays das Wort. Halliday, vom herausragenden Mark Rylance als eine spannende Mischung aus BFG und Rudolf Abel interpretiert, trauert und bereut, spricht von der Verlockung von Eskapismus und der unheimlichen Schönheit der Realität. Es ist ein trauriger Moment voller aufrichtiger Gefühle – ein Stückchen Spielberg-Magie in einem seelenlosen Spektakel. Und er verdampft wie der Tropfen auf dem heissen Stein.

★★

Donnerstag, 17. Mai 2018

Deadpool 2

© 2018 Twentieth Century Fox Film Corporation

★★★★

"Aber natürlich liegt die ganz grosse Stärke des Films in seinem Humor, seinem flott vorgetragenen Zynismus. Blutiger Slapstick wechselt sich ab mit rasanten Dialogen, Verweisen auf die fundamentale Lächerlichkeit von Superhelden und Seitenhieben auf allerlei Popkultur, die auch vor dem Marvel-Rivalen DC nicht Halt machen (Stichwort: 'Martha')."

Ganze Kritik auf Maximum Cinema (online einsehbar).

Montag, 14. Mai 2018

Jupiter's Moon

Obwohl er seit gut 20 Jahren in der europäischen Kunstszene mitmischt, musste der ungarische Regisseur Kornél Mundruczó bis 2014 warten, um von einem vergleichsweise breiten Publikum richtig wahrgenommen zu werden. In jenem Jahr brachte er White God in die Kinos, ein Aufmerksamkeit erregendes Drama über einen verstossenen und misshandelten Hund, der mit seinen Artgenossen einen Rachefeldzug durch Budapest führt.

Die symbolische Dimension dieser Affiche war unübersehbar: In Viktor Orbáns zunehmend autokratischem Ungarn – dem Land der Grenzschliessungen und der xenophoben, antisemitischen und rassistischen Parolen – schliessen sich die "unerwünschten" Elemente der Gesellschaft zusammen, um sich gegen ihre staatlich sanktionierte Zerstörung zu wehren. Doch der Film reitet nicht auf seiner Metapher herum, sondern konzentriert sich ganz auf seine Handlung, deren Wendungen den vorgefertigten Interpretationsschablonen mitunter auch zuwider laufen.

Mundruczó, der neben dem Kino auch eine Karriere als erfolgreicher Theater- und Opernregisseur pflegt, arbeitet an der Schnittstelle zwischen Allegorie und reiner Erzählung. Er interessiert sich für das Unterlaufen von Erwartungshaltungen, das Aufeinanderprallen scheinbar inkompatibler Formate. Mit Johanna (2005) drehte er ein Musical über Jeanne d'Arc; als Schauplatz diente ihm ein Krankenhaus. In Tender Son (2010) zerlegt er Mary Shelleys Frankenstein und bastelt sich aus den Einzelteilen ein Meta-Experiment über das Filmemachen – und einen Mörder. 2014 liess er in der Flämischen Oper in Gent die düstere Bartók-Oper Herzog Blaubarts Burg zu den sanften Klängen von Schuberts Winterreise aufführen.

Das alles vereint er mit einem unübersehbaren Interesse an seinem Heimatland, das innerhalb eines Jahrhunderts zahlreiche Entwicklungen durchgemacht hat – von der Monarchie zum Nazi-Vasallenstaat, vom antidiktatorischen Hoffnungsträger zum Sowjetsatelliten, vom postsowjetischen Aufbruch zur neonationalistischen Kleptokratie. In diesem Kontext wirkt sein neuer Film, das von der Kritik bestenfalls lauwarm aufgenommene Fantasydrama Jupiter's Moon, wie eine logische Fortsetzung seines Schaffens, im Guten wie im Schlechten.

Der syrische Flüchtling Aryan Dashni (Zsombor Jéger) kann fliegen.
© Outside the Box
Zu Beginn des Films wird das Publikum über den eigenwilligen Titel informiert: Um den Planeten Jupiter kreisen nach neuestem Wissensstand 67 Monde. Einer davon ist von Eis überzogen und könnte noch unbekannte Lebensformen beherbergen. Sein Name: Europa. Von Bedeutung ist dieser astronomische Exkurs deswegen, weil Jupiter's Moon von der anhaltenden Flüchtlingskrise handelt.

In seinem Zentrum steht Aryan Dashni (Zsombor Jéger), ein junger Syrer, der mit seinem Vater vor dem Bürgerkrieg flüchtet. An der serbisch-ungarischen Grenze werden die beiden getrennt und ein Polizist (György Cserhalmi) schiesst Aryan an. Doch anstatt zu sterben, beginnt er plötzlich zu fliegen. Diese Gabe führt er wenig später in einem nahe gelegenen Auffanglager dem in öffentliche Ungnade gefallenen Arzt Gábor Stern (Merab Ninidze) vor, der darin die Chance aufs grosse Geld wittert.

Wer hier ein konventionelles Drama über Ungarns Umgang mit Flüchtlingen erwartet, wird genauso enttäuscht wie jene, die sich von White God eine saubere Allegorie auf den neuen ungarischen Nationalismus versprachen. Mundruczó mag zweifellos ein gesellschaftskritischer Künstler sein, doch wenn er in Jupiter's Moon etwas beweist, dann dass er sich in erster Linie immer noch als Geschichtenerzähler versteht.

Aryan wird an der serbisch-ungarischen Grenze aufgegriffen.
© Outside the Box
Er belässt es nicht beim magischen Sozialrealismus – was widerfährt einem fliegenden Flüchtling im modernen Budapest? –, sondern spinnt eine reich ausstaffierte Erzählung über Korruption, Glauben und Terrorismus: Stern will sich in privilegiertere Kreise zurück kaufen, indem er seinen Patienten Aryan als engelsgleichen Wunderheiler verkauft, während als Flüchtlinge getarnte Terroristen Schindluder mit Aryans Pass treiben.

Und doch wird unter der Oberfläche der Handlung eine faszinierende Auseinandersetzung mit den historischen Kräften angedeutet, die sich hier entladen. "There is no escape from the injuries of history", lautet eine der Schlüssellinien im bisweilen hyperliterarischen Drehbuch von Mundruczó und Kata Wéber. Geflüstert wird sie von Stern, dem Namen nach ein Mann mit jüdischem Hintergrund, der sich schon in seiner ersten Szene, wohl nur halbwegs ironisch, zum Glauben an "die Wiederauferstehung der Nation" bekennt. Mit seiner eigennützigen Motivation, Aryan zu helfen, ist er offenkundig ein Produkt des komplizierten ideologischen Geflechts, das dieser Nation zugrunde liegt: Die Generation seiner Eltern wurde verfolgt und systematisch umgebracht, während er und seine Altersgenossen nach Jahrzehnten des Gulaschkommunismus die Privatwirtschaft übernahmen und eine exklusive nationale Identität schufen.

Dass der innere Kampf, der hier ausgetragen wird, von historischem Ausmass ist, unterstreicht Mundruczó mit Hilfe von Marcell Révs durchgehend brillanter Kameraarbeit auf subtilste Art und Weise. Immer wieder bleibt Révs Kameraauge an den Schuhen der Figuren hängen: lose oder gar nicht gebunden, herrenlos, im Wasser treibend. Zuschauerinnen und Zuschauer in ganz Europa werden darin einen sachten Verweis auf den Holocaust erkennen können, doch gerade für ein ungarisches Publikum muss die Symbolkraft dieser Bilder unverkennbar sein – besteht doch das Budapester Mahnmal an die Pogrome an den ungarischen Juden aus einer 300 Meter langen Reihe leerer Schuhpaare.

In Budapest findet Aryan im Arzt Gábor Stern (Merab Ninidze) einen zwielichtigen Freund.
© Outside the Box
Lokalisierte Bezüge wie dieser stellen die Flüchtlingsgeschichte in Jupiter's Moon in einen klug-provokativen Zusammenhang. Ironischerweise ist diese effektive Spezifität auch die Kehrseite der Medaille: Indem Mundruczó den ganz grossen Bogen von Ungarns – und Europas – turbulenter Gegenwart zu ihrer düsteren Vergangenheit schlägt, droht Aryans Seite der Handlung zur Nebensache zu werden.

Man erfährt nicht viel über seine Historie: Er kommt aus Homs, hatte eine PlayStation und mag Pommes – und damit hat es sich. Das kann natürlich Absicht sein – ein Kommentar auf die entmenschlichende Natur der Flucht. Flüchtlinge verlieren im kollektiven Bewusstsein ihre Individualität, werden zu Zahlen und Statistiken ohne Vorgeschichte und komplexes Innenleben; statt der Unschuldsvermutung gilt für sie der Generalverdacht.

Dieser präventive Ausschluss aus der Gesellschaft könnte sich sogar in Aryans zweifelhaftem Casting widerspiegeln: Gespielt wird er von Zsombor Jéger, einer ungarischen Schauspielhoffnung ohne unmittelbarem Migrationshintergrund. Will man diese kreative Entscheidung in ein wenigstens einigermassen positives Licht rücken, könnte man sie als zu Ende gedachte Flüchtlingspolitik Marke Orbán interpretieren: Ein Ungarn ohne Einwanderung ist ein kulturell armes Land. (Auch diese Lesart ist problematisch, da sie davon ausgeht, Immigranten wären nur für Flüchtlingsrollen prädestiniert. Zudem ist Stern-Darsteller Merab Ninidze Georgier.)

Stern gibt Aryan als Wunderheiler aus.
© Outside the Box
Doch bei aller Rationalisierung bleibt der erzählerische Fokus von Jupiter's Moon enttäuschend. Während es ein Aki Kaurismäki in The Other Side of Hope (2017) hervorragend verstand, sowohl dem Einheimischen als auch dem Flüchtling einen detailliert ausgearbeiteten Handlungsstrang zuzugestehen, drängt sich bei Mundruczó der Ungare in den Weg des Syrers, der in allen Belangen die einnehmendere Figur ist.

So ist es mit Experimenten nun einmal: Manche Ideen treffen ins Schwarze, andere nicht. Mundruczós neuer Film ist kompromisslos unvollkommen und übt nicht zuletzt deswegen eine nicht von der Hand zu weisende Faszination aus. Mit bewundernswertem Selbstbewusstsein lässt er Realitätsnähe, Aktualitätsbezug und einen ausgeprägten Sinn für Geschichte und Symbolik auf Fantasy-, Science-Fiction- und Thriller-Versatzstücke treffen und erzielt damit immer wieder eindrucksvolle Resultate. Konstant brillant sind hier nur die mitunter Schwindel erregenden Bilder sowie Jed Kurzels pulsierender Musikscore. Der Rest mag qualitativ schwanken, doch die Intelligenz und die Menschlichkeit dahinter stehen zu keinem Zeitpunkt in Frage.

★★★★

Donnerstag, 10. Mai 2018

I Am Not a Witch

© Outside the Box

★★★★

"Die Absurdität dieser Situation entgeht Nyoni keineswegs; doch ihre Satire liegt nicht in der expliziten Persiflage. Vielmehr lässt sie sich auf diese Welt ein, begegnet ihr auf Augenhöhe und lässt all die Ungereimtheiten und Ungerechtigkeiten, die Shula erlebt, für sich selbst sprechen. I Am Not a Witch ist grossartig darin, die Diskontinuitäten zwischen Tradition und Moderne aufzudecken."

Ganze Kritik auf Maximum Cinema (online einsehbar).

Dienstag, 8. Mai 2018

This Is America

© Donald Glover / Glassnote Records

"Mit gnadenloser Schärfe verweben hier Glover und Murai Tanz-Memes mit amerikanischem Waffenwahn, (dem buchstäblichen) Jim Crow und – als Glover die Schnellfeuerwaffe auf den Gospel-Chor richtet – dem Terroranschlag von Charleston, South Carolina, bei dem am 17. Juni 2015 ein weisser Nationalist neun schwarze Kirchenbesucher ermordete. Heraus kristallisiert sich ein messerscharf kritischer Blick auf eine Kultur, die sich durch Aufmerksamkeit heischende Manöver – etwa einen shirtlos tanzenden Donald Glover – von der tief in der Geschichte verwurzelten Gewalt des amerikanischen Alltags ablenken lässt."

Ganze Kritik auf Maximum Cinema (online einsehbar).

Mittwoch, 2. Mai 2018

In den Gängen

Seit einigen Jahren zeichnet sich im westeuropäischen Kino eine ganz spezielle Art des Alltagsdramas ab: Unverkennbar mitinspiriert von Ken Loach, dessen sozialistische Filme stets das Ideologische mit dem Emotionalen verbinden, zeigen diese Werke die entmenschlichende Natur von Arbeit unter dem Spätkapitalismus – ganz im marxistischen Sinne.

Die Tragikomödie Samba (2014) von Éric Toledano und Olivier Nakache gehört zu diesem Kanon dazu – ein Porträt des modernen Paris, in dem Freizeit ein unerreichbarer Luxus geworden ist. Im oscarnominierten Deux jours, une nuit (2014) der Dardenne-Brüder opfert Marion Cotillard ein Wochenende, um ihre Arbeitskollegen davon zu überzeugen, sie nicht wegzurationalisieren. Stéphane Brizés La loi du marché (2015) erzählt davon, wie Arbeitgeber ihre Arbeitnehmer gegeneinander ausspielen. Loach selbst steuerte mit seinem Palme-d'or-Gewinner I, Daniel Blake (2016), einer Tragödie über die Absurdität des ausgehöhlten britischen Sozialstaats, zu diesem inoffiziellen Subgenre bei.

Thomas Stubers In den Gängen, nach einer Kurzgeschichte von Drehbuch-Co-Autor Clemens Meyer, schlägt in die gleiche Kerbe. Schauplatz des Dramas ist ein abgelegener Grossmarkt irgendwo im Leipziger Umland. Hier tritt der junge Christian (der einmal mehr hervorragende Franz Rogowski) seine neue Stelle an: Gemeinsam mit dem alten Grossmarkt-Hasen Bruno (grossartig: Peter Kurth) kümmert er sich um die Getränkeabteilung. Nach Schichtende, lange nach Sonnenuntergang, wartet Christian allein auf seinen Bus, der ihn nach Hause bringt – in seine marode Plattenbauwohnung in einer gesichtslosen Vorstadt.

Trotz leichter Überlänge und einer bisweilen allzu losen Erzählstruktur ist In den Gängen ein subtiles, äusserst menschliches Drama über den Alltag im Dienstleistungssektor und den ewigen Kampf, im ewig gleichen Trott Verstand und Identität nicht zu verlieren. So findet der schweigsame Christian in Bruno einen väterlichen Freund, im Vorarbeiter Rudi (Andreas Leupold) einen einfühlsamen Chef und in der unglücklich verheirateten Süsswarenangestellten Marion (Sandra Hüller) eine Kollegin, in die er sich verliebt.

Christian (Franz Rogowski) findet im Grossmarkt Gefallen an Marion (Sandra Hüller).
© Xenix Filmdistribution GmbH
Diese Konstellation hat diverse Kommentatoren, wie etwa Michael Sennhauser und Selim Petersen, dazu verleitet, den Film als "beschwingend" zu bezeichnen. In den Gängen mag diesen Aspekt haben – seine Inszenierung von Arbeitsfreundschaften und seine gänzlich ostalgiefreie Würdigung des DDR-Solidaritätsgedankens sind das schlagende Herz der Geschichte.

Doch muss man sich schlussendlich dennoch fragen: Wäre all dies nicht auch unter besseren Bedingungen möglich? Stuber und Meyer beleuchten eine Welt, in der, willentlich oder nicht, alles Leben am Arbeitsplatz stattzufinden scheint: "In den Gängen" wird gelacht, geraucht, geflirtet, getrauert und Geburtstag gefeiert, doch stets mit der Uhr im Augenwinkel und der unsichtbaren Chefetage im Hinterkopf. Nach Arbeitsende wartet hingegen nur Dunkelheit, Kälte, einsamer Alkoholkonsum und ein verlottertes oder – in Marions Fall – totes Zuhause. Hier wird tatsächlich nicht gearbeitet, um zu leben, sondern gelebt, um zu arbeiten – und das wohl für wenig mehr als den Mindestlohn.

In seiner mitunter an Aki Kaurismäki erinnernden Lakonie lässt der Film offen, was als romantisch und was als tragisch aufzufassen ist. Ohne moralischen Zeigefinger konzentriert sich In den Gängen ganz auf seine klar umrissenen Figuren und ihr Streben nach Menschlichkeit und ermöglicht einem so einen differenzierten Blick auf die emotionale wie auch auf die ideologische Ebene: Wenn Christian und Marion das Meeresrauschen im Gabelstapler hören, ist die Poesie dieser Entdeckung nicht von der Hand zu weisen. Doch gleichzeitig kann man sich auch fragen, warum die beiden denn eigentlich nicht ans Meer fahren können.

★★★★

Avengers: Infinity War

ACHTUNG: Diese Rezension enthält Spoiler.

In seiner Kritik des heiss erwarteten 19. Films der "Marvel Cinematic Universe"-Reihe (MCU) liess sich der New Yorker-Autor Richard Brody zu einer reichlich zweifelhaften Behauptung hinreissen: "Avengers: Infinity War", heisst es schon im Titel des Artikels, "ist eine zweieinhalbstündige Werbung für alle vorhergehenden Marvel-Filme."

Und damit nicht genug, moniert Brody doch obendrein das Fehlen klassischer Figurenzeichnungen: Die zahlreichen Superhelden-Charaktere, deren Abenteuer das Zielpublikum des dritten Avengers-Ensemblefilms in nicht weniger als 18 Grossproduktionen mitverfolgen konnte, "werden nicht eingeführt; sie treten einfach auf, ihr Verhalten definiert von den Schablonen der anderen Filme."

Die beste Antwort auf diese Vorwürfe lieferte der kanadische Autor und Akademiker Anthony Oliveira in einem ebenso witzigen wie klarsichtigen Twitter-Thread: "Man könnte dasselbe über die Figuren in Homers Ilias sagen." Was einst der Olymp war, ist heute die serialisierte Popkultur, "die davon ausgeht, dass man ein gewisses Grundwissen mitbringt". Ein Theaterbesucher im alten Griechenland wusste genauso von den Eigenheiten des Zeus wie ein einigermassen aufmerksamer Kinobesucher des 21. Jahrhunderts mindestens eine vage Ahnung davon hat, wer Iron Man ist.

Es ist diese bemerkenswerte kulturelle Wiedererkennbarkeit, welche die Filmabteilung von Marvel Comics, inzwischen von Disney aufgekauft, in den letzten zehn Jahren vorangetrieben hat. Innert vergleichsweise kurzer Zeit avancierten Figuren wie Captain America, Thor oder die Guardians of the Galaxy dank des MCU vom hauptsächlich amerikanischen Comic-Phänomen zu globalen Ikonen.

Was diese Ikonen seit Jon Favreaus Iron Man (2008) durchgemacht haben, kulminiert nun in Avengers: Infinity War, dem vielleicht ambitioniertesten Crossover aller Zeiten. Nachdem in seinen Vorgängern Helden, Bösewichte und das ultimative Objekt der Begierde – die sogenannten "Infinity Stones", mit deren Hilfe eine mächtige Person das Universum unterjochen könnte – eingeführt wurden, findet diese Konstellation hier nun einen vorläufigen Höhepunkt.

Thanos (Josh Brolin) plant, mit Hilfe der sogenannten "Infinity Stones" die Hälfte allen Lebens im Universum auszulöschen.
© Marvel Studios
Die Avengers sind seit den Ereignissen in Captain America: Civil War (2016) – inszeniert von den Infinity War-Regisseuren Anthony und Joe Russo – zerstritten. Tony Stark alias Iron Man (Robert Downey Jr.) hat sich den Superhelden-Regulierungsmassnahmen ergeben und widmet sich zunehmend seinem Privatleben, während Captain America (Chris Evans) als Staatsfeind Nummer eins im Untergrund weilt.

Bruce Banner alias Hulk (Mark Ruffalo) und Thor (Chris Hemsworth) befinden sich nach Thor: Ragnarok (2017) indessen auf einem Irrflug durchs Universum. Dort machen sie in der ersten Szene des Films erstmals persönlich Bekanntschaft mit Marvels Erzschurken: dem Titanen Thanos (Josh Brolin), der sich die Infinity Stones unter den Nagel reissen will, um die Hälfte allen Lebens im Universum auszulöschen – aus "humanitären" Gründen.

Unmöglich, alle Handlungsstränge, die in Infinity War zusammengeführt werden, aufzuzählen, sind doch ausser Jeremy Renners Hawkeye und Paul Rudds Ant-Man sämtliche bekannten MCU-Gesichter auf der Leinwand zu sehen. Darin liegt auch der primäre Reiz dieses Films: Rasante Actionsequenzen wechseln sich ab mit dem Aufeinandertreffen von Figuren, die sich entweder noch gar nie oder schon lange nicht mehr gegenüber gestanden haben. Wer hätte gedacht, dass sich die Guardians of the Galaxy (Chris Pratt, Zoe Saldana, Dave Bautista, Pom Klementieff, Bradley Cooper, Vin Diesel) so gut mit Thor verstehen? Wer freute sich nach Black Panther (2018), dem besten Marvel-Film, nicht darauf, Shuri (Letitia Wright), der technisch versierten Schwester des Black Panther (Chadwick Boseman), dabei zuzusehen, wie sie die designierten Avengers-Tüftler in den Schatten stellt?

Superhelden-Gipfeltreffen: Hier kämpfen Spider-Man (Tom Holland, links), Iron Man (Robert Downey Jr., 2. v. l.) und die Guardians of the Galaxy Drax (Dave Bautista, Mitte), Star-Lord (Chris Pratt, 2. v. r.) und Mantis (Pom Klementieff) Seite an Seite.
© Marvel Studios
Richard Brody hat insofern Recht, als Infinity War ohne Hintergrundwissen – sei es ein grober Überblick über den MCU-Kanon oder eine emotionale Anbindung an seine Protagonisten – nicht funktioniert, nicht funktionieren kann. Dem Film dies anzukreiden, ist aber weder fair noch produktiv. Es ist schlicht nicht möglich, ein gigantisches Crossover-Event zu produzieren und gleichzeitig die in 18 Abenteuern dargelegten Charakterzüge und Konflikte der Beteiligten noch einmal aufzurollen. Franchisen verlangen nun einmal mündige Zuschauerinnen und Zuschauer – und Marvel belohnt diese Mündigkeit einmal mehr.

Die Kehrseite des Ganzen ist jedoch, dass auch Infinity War noch nicht der Endpunkt der Infinity-Stones-Saga ist. Diese Rolle wird (nach aktuellem Wissensstand) seiner noch titellosen Fortsetzung zufallen, dem insgesamt 22. Eintrag ins MCU, ebenfalls inszeniert von den Russo-Brüdern – vorgesehener Kinostart: Mai 2019.

Somit ist dieser Film keine Werbung für seine Vorgänger, wie Brody argumentiert, sondern eher ein Cliffhanger in Spielfilmlänge – der Prolog für den letzten Teil des letzten Teils. Für das vorliegende Werk bedeutet das konkret, dass er eines seiner zentralen Versprechen nicht halten kann: Einer der Gründe, warum Fans Infinity War entgegenfieberten, war die Aussicht, etablierte Helden sterben sehen zu müssen. Denn schon länger wird erwartet, dass Marvel – wie Thanos – sein von Schauspielern mit auslaufenden Verträgen bevölkertes Universum in absehbarer Zukunft zurechtstutzen wird: Nicht nur neue Helden sollen her, sondern auch neue Darsteller in alten Rollen.

Auch der Black Panther (Chadwick Boseman) ist mit von der Partie.
© Marvel Studios
Doch Infinity War reicht es nur zu einem Lippenbekenntnis. Abgesehen von zwei bis drei mehr oder weniger definitiv wirkenden Todesfällen belassen es die Autoren Christopher Markus und Stephen McFeely bei einem zunächst schockierend wirkenden, aber letztlich bedeutungslosen Massaker: Ein gutes Dutzend Helden – darunter mehrere Figuren mit bereits angekündigten Sequels – löst sich kurz vor dem Abspann in seine Einzelteile auf. Dass die Überlebenden in gut einem Jahr – Infinity Stones sei Dank! – versuchen werden, dies rückgängig zu machen, steht zu keinem Zeitpunkt in Frage. Alles andere wäre ein für Marvel uncharakteristischer Akt der Selbstsabotage – und, ganz nebenbei, Vertragsbruch.

Das MCU bleibt damit seinem Ruf des ewigen Aufschubs treu. Allzu frustrierend ist diese faule Ausrede von einem Ende aber dennoch nicht: Zum einen steht davor ein gerade für langjährige, treue Zuschauer hochgradig unterhaltsames Actionspektakel – ein 19. Teil, der frisch genug ist, um einen die Teile 20, 21 und 22 freudig erwarten zu lassen. Zum anderen wirkt ein Jahr Wartezeit in einer Franchise, die zwischen zwei direkt aufeinander aufbauenden Filmen gerne drei Jahre wartet, schon fast wie ein Schnellschuss.

★★★★