Donnerstag, 27. Juli 2017

Kritik in Kürze: "20th Century Women", "Aquarius", "Beauty and the Beast"

20th Century Women – ★★★★

Der neue Film von Beginners-Regisseur Mike Mills ist etwas irreführend betitelt: "20th Century Women" suggeriert ein Porträt von Frauen aus unterschiedlichen Generationen des 20. Jahrhunderts. Die Beschreibung mag im Kern zutreffen, berücksichtigt aber nicht, dass das Zentrum dieses Porträts ein Junge ist – eine Version des Teenagers Mike Mills.

Sein Name ist Jamie (Lucas Jade Zumann), und im Sommer 1979 beschliesst seine allein erziehende Mutter Dorothea (die grossartige Annette Bening), dass der Teenager beim Übertreten der Schwelle zum Erwachsensein Hilfe braucht. Also beauftragt sie ihre Untermieterin Abbie (Greta Gerwig) und die mit Jamie befreundete Julie (Elle Fanning), Zeit mit ihm zu verbringen und ihn auf das Leben als Mann vorzubereiten.

Wie schon Beginners ist auch 20th Century Women eine feinfühlige, eigenwillig konstruierte Tragikomödie, die weniger an einer linearen Handlung als an Figurenzeichnung und der Frage interessiert ist, wie der kulturelle Kontext die Menschen beeinflusst. Mills zitiert grosszügig – und mit bibliografischer Angabe – aus den feministischen Büchern, die Jamie auf Abbies Empfehlung hin liest. Er nimmt sich die Zeit, die Biografien von Dorothea, Abbie und Julie zu erzählen und unterlegt diese Montagesequenzen mit symbolischen Foto- und Filmeinspielern. So lernt das Publikum die Charaktere, zu denen auch der wunderbare Blue-Collar-Hippie William (Billy Crudup) gehört, sowohl mittels Mills' hervorragender Dialoge als auch durch seine collagierte Inszenierung kennen.

Obwohl 20th Century Women eher die Geschichte eines männlichen Feministen als diejenige dreier starker Frauen ist, besticht der Film als anrührende Hommage an Mutterfiguren im Allgemeinen – ob biologisch oder nicht – und an den Wert der erweiterten, selbst erwählten Familie.



Aquarius – ★★★★

Vor dem Hintergrund der politischen Krise in Brasilien, die im Sommer 2016 in der Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff gipfelte, hat Kleber Mendonça Filho (Neighboring Sounds) ein subversives Drama gegen die im Land herrschende Korruption gedreht.

Clara (herausragend: Sônia Braga) ist eine pensionierte Musikjournalistin, doch von Ruhestand kann nicht die Rede sein. Sie ist die letzte Bewohnerin eines für die Abrissbirne vorgesehenen Mehrfamilienhauses gegenüber dem Strand von Recife. Um die Krebsüberlebende dazu zu bringen, die Wohnung "freiwillig" zu räumen, lassen die lokalen Immobilienhaie nichts unversucht – von Sex-Partys im Appartement über Clara bis hin zu fabrizierten Insektenplagen.

Wer nur eine ungefähre Ahnung der politischen Lage in Brasilien hat, wird von Aquarius unweigerlich mit dem Gefühl zurückgelassen, eine Vielzahl an Anspielungen und Seitenhieben schlichtweg verpasst zu haben. Gerade bei einem 140-minütigen Film kann das frustrierend sein. Doch Mendonça Filho schafft es, auch dank eines ausgezeichneten Casts, seinen Film emotional zu erden: Claras ruhiger, konsequenter Widerstand gegen die Willkür der finanziellen Oberschicht sowie ihre dadurch strapazierte Beziehung zu Freunden und Familie sind starke Motive, die einem über die vereinzelten Längen von Aquarius hinweg helfen und die den Film zu einem eindringlichen Plädoyer für Menschlichkeit und individuelle Rechte machen.



Beauty and the Beast – ★★

Hollywoods grassierendes Remake-Fieber zu beklagen, ist unter Kinogängern zu einer Lieblingsbeschäftigung geworden. Zwar ist das in einer Branche, die sich anscheinend lieber auf alte Erfolge zurück besinnt, anstatt neuen Stimmen eine Chance zu geben, nachvollziehbar. Doch allzu oft führen derartige Diskussion zu einer grundsätzlichen Ablehnung jeglicher Remakes – obschon man ohne diese Disziplin etwa auf Filme wie John Carpenters The Thing (1982), Martin Scorseses The Departed (2006) oder Joel und Ethan Coens True Grit (2010) hätte verzichten müssen.

Bill Condons Neuinterpretation des Beauty and the Beast-Stoffs, mit dem Disney 1992 eine Oscarnomination für den besten Film landete, erinnert einen jedoch daran, wie Remakes im schlechteren Fall aussehen können. Condon – mal Künstler (Gods and Monsters, Mr. Holmes), mal farbloser Auftragsfilmemacher (The Twilight Saga: Breaking Dawn) – präsentiert mit Beauty and the Beast ein Disney-Märchen ohne Fantasie, Innovation und künstlerische Distinktion – und somit ohne triftige Daseinsrechtfertigung.

Emma Watson (Harry Potter), deren Gesangseinlagen durch unüberhörbare Autotune-Effekte ins Roboterhafte "korrigiert" wurden, spielt Belle, welche die Avancen des Dorfschönlings Gaston (Filmhöhepunkt Luke Evans) ablehnt und sich in den Entführer ihres Vaters, das mysteriöse Biest (Dan Stevens) verliebt. Nach Neuem sucht man hier vergebens. Gewissen Details aus dem originalen Märchen, die im Zeichentrickfilm von 1991 übergangen wurden, wird zwar halbherzig Rechnung getragen, doch im Grossen und Ganzen bietet Beauty and the Beast weder ästhetisch noch erzählerisch einen Mehrwert gegenüber dem animierten Neoklassiker. Gastauftritte und hübsch anzusehende Sets und Kostüme täuschen darüber nicht hinweg.

Dienstag, 25. Juli 2017

Valerian and the City of a Thousand Planets

Das moderne Kino hat nicht viele Regisseure im Angebot, die selbstbewusster auftreten als der Franzose Luc Besson. Hat er eine Idee, dann reizt er diese aus – egal wie abgedreht, schrill und gewöhnungsbedürftig das Endresultat auch sein mag. Viele seiner Werke geben seinem Vertrauen in die eigene Kreativität Recht: Besson hat Meisterstücke wie Le grand bleu (1988), Nikita (1990) und Léon (1994) gemacht; auch bei Kultfilmen wie Subway (1985) und The Fifth Element (1997) führte er Regie.

Doch gerade im neuen Jahrtausend wurden die Fragezeichen um den massentauglicheren Seelenverwandten von Leos Carax (Les amants du Pont-Neuf, Holy Motors) immer grösser. Er drehte kritische Flops wie Angel-A (2005) und Malavita (2013). Das Aung-San-Suu-Kyi-Porträt The Lady (2011) zeigte, dass Bessons Stärken mit seriösen Biopics nicht gedient ist. Und man darf annehmen, dass künftige Retrospektiven einen Bogen um seine Arthur-Trilogie, eine Adaption der von ihm selbst verfassten Kinderbücher, machen werden.

Kurzum: Besson liebt grosse, mutige Ideen; er liebt das Spektakel; und um seine Visionen verwirklicht zu sehen, nimmt er auch kritische und kommerzielle Flops in Kauf. Das ist bewundernswert – ausser man ist Produzent. So musste Besson für sein neuestes Projekt, die Weltraumoper Valerian and the City of a Thousand Planets, die rund 200 Millionen Euro, die zum Dreh nötig waren, sowohl aus der eigenen Tasche als auch via Crowdfunding bezahlen. Damit ist die Verfilmung der französischen Comicreihe Valérian et Laureline nicht nur der teuerste europäische Film aller Zeiten, sondern auch die teuerste Independent-Produktion, die das Kino je gesehen hat. Diese Statistik sagt vielleicht mehr über den Regisseur aus als jeder Karriere-Rückblick.

Wofür das Geld ausgegeben wurde, ist unübersehbar. Valerian ist ein knallbuntes CGI-Abenteuer voller kreativer Szenarien, das unterhält, überfordert und frustriert – ein typisches Besson-Vehikel, in dem das Brillante und das Haarsträubende oft nicht weit voneinander entfernt sind.

Die intergalaktischen Valerian (Dane DeHaan) und Laureline (Cara Delevingne) ermitteln auf der Raumstation Alpha.
© Pathé Films
Hauptschauplatz ist die intergalaktische Raumstation Alpha, in der im 28. Jahrhundert Hunderte von Spezies friedlich miteinander leben. Doch im tiefsten Innern der Station befindet sich eine gefährliche, unbewohnbare Zone, die stetig grösser zu werden scheint. Was es damit auf sich hat, versuchen die Spezialagenten Valerian (Dane DeHaan) und Laureline (Cara Delevingne) aufzudecken. Dabei stossen sie auf eine Verschwörung gegen ein mysteriöses, als ausgestorben geltendes Alien-Volk.

Diese simple Prämisse wird mit zahlreichen Umwegen und erzählerischen Komplikationen auf fast 140 Minuten gestreckt. Dass sich während dieser Zeit kaum Langeweile einstellt, spricht für den Film. Trotz einer stark an Disneys Zootopia (2016) erinnernden Geschichte, einer Spezialeffekt-Ästhetik, die auf Avatar (2009) und George Lucas' Star Wars-Prequels zurückzugreifen scheint, und einem Hang zum Selbstzitat – Stichwort The Fifth Element – steckt genug Eigenes in Valerian, um durchgehend zu unterhalten.

Die mysteriösen Vorkommnisse auf Alpha scheinen mit der Zerstörung eines fernen Planeten zusammenzuhängen.
© Pathé Films
Es stellt sich allerdings streckenweise die Frage, wie gewollt dieser Unterhaltungswert denn eigentlich ist. Besson mag sich weniger ernst nehmen als die Wachowski-Schwestern in ihrem stilistisch ähnlichen Machwerk Jupiter Ascending (2015), doch es fällt bisweilen schwer, zwischen einer gelungenen Szene und amüsiertem Unglauben darüber, dass eine besonders aberwitzige Szene den Schnittprozess überstanden hat, zu unterscheiden.

Für jede gute Vignette – wie etwa die Auftritte dreier geschäftstüchtiger Aliens, die wie eine Anlehnung an Donald Ducks Neffen wirken – enthält der Film mindestens eine zwar interessante, aber unausgereifte oder gar vollkommen unnötige Szene. Welche Rolle spielt der Verteidigungsminister (Herbie Hancock) in dem Ganzen? Was ist der Hintergrund des verrückten Piraten Bob (Alain Chabat), dessen Auftritt keine fünf Minuten dauert? Und was sollte Rihanna als amorphe Gestaltwandlerin, die als Stripperin für eine Figur namens Jolly the Pimp (Ethan Hawke) arbeitet?

Luc Bessons Tick, Trick und Track.
© Pathé Films
Valerian ist insofern Besson in Reinform, als er nach wie vor Probleme damit bekundet, gute und schlechte Einfälle voneinander zu trennen – oder wenigstens schlüssig zu entwickeln. Szenen, Actionmomente und Spezies-Exposition bleiben allesamt isolierte Elemente, die wenig bis gar nichts zur grundlegenden Handlung beitragen. Das Gut-gegen-Böse-Schema, auf das der Film letztendlich hinausläuft, ist weniger organisch als obligat; die Romanze zwischen Valerian und Laureline – gespielt von masslos überforderten Darstellern – entbehrt jeglicher Chemie oder erzählerischer Rechtfertigung.

Was das Experiment schliesslich fallieren lässt, ist Bessons Unschlüssigkeit, welchen Tonfall sein Film anschlagen soll. Zugegeben: Ernstes Kino kann mitunter lustig sein – und umgekehrt. Doch Valerian weiss nicht, in welchem Verhältnis seine ironisch-komödiantische Seite zu seinen unausgegorenen politischen Untertönen und seinem verwirrten Verständnis von Liebe stehen soll. Von einem Film mit einem Jolly the Pimp ist nur selten ein fundierter Kommentar über imperialen Genozid zu erwarten. Doch es macht Spass zuzusehen, wie er es versucht.

★★

Samstag, 22. Juli 2017

Grave

Schon zum zweiten Mal in diesem Jahr stellt ein französischsprachiger Film die Regeln des Horrorgenres auf den Kopf. Nach Olivier Assayas' eindringlicher digitaler Geistergeschichte Personal Shopper experimentiert Julia Ducournaus Langspielfilmdebüt Grave (auch bekannt als Raw), Gewinner des FIPRESCI-Kritikerpreises in Cannes (2016), mit den Konventionen von Body-Horror und Zombie-Fiktion.

Der Verweis auf das florierende Zombie-Subgenre ist jedoch mit Vorsicht zu geniessen. In Grave gibt es keine Untoten im engeren Sinn; die Bezugspunkte der 33-jähirgen Regisseurin sind weniger George A. Romero und John Carpenter als David Cronenberg und Dario Argento. Und doch scheint im deutlich von der Aussenwelt abgegrenzten Mikrokosmos, in dem der Film spielt, etwas Düsteres heranzuwachsen, sodass es nicht schwer fällt, das Ganze als Ouvertüre zu den Zombie-Apokalypsen von Night of the Living Dead (1968) und 28 Days Later (2002) zu lesen.

Im Zentrum von Grave steht Justine (Garance Marillier), die jüngste Tochter einer vegetarisch lebenden Familie, die am Anfang ihrer Ausbildung zur Tierärztin steht. Die Universität, an der auch ihre Schwester Alexia (Ella Rumpf, bekannt aus den Schweizer Filmen Chrieg und Die göttliche Ordnung) studiert, ist für Neuankömmlinge aber kein angenehmes Pflaster. Es ist Tradition, dass die älteren Studenten, die "Veteranen", den Anfängern während der ersten Semesterwoche das Leben zur Hölle machen.

Ducournau inszeniert diese bizarre Gegenwelt mit Schwindel erregender Virtuosität: In langen Einstellungen folgt Ruben Impens' Kamera dem wilden Treiben in den überfüllten Zimmern, Gängen und Kellergewölben des Studentenheims, wo Abend für Abend wilde Partys steigen. Überbordende Bild- und Toneindrücke, wie man sie in vergleichbarer Form in Sebastian Schippers Victoria (2015) gesehen hat, treffen auf absurdes, geradezu infernalisches Treiben, das dem Luis Buñuel von Viridiana (1961) und El ángel exterminador (1962) seine Reverenz erweist.

Justine (Garance Marillier) muss zu Beginn ihres Veterinärstudiums sadistische Initiationsriten durchlaufen.
© Focus World
Buñuels Geist macht sich auch im Charakterbogen bemerkbar, den Ducournaus Hauptfigur beschreibt. Wie einst Viridiana ist auch Justine zu Beginn des Films eine fast schon religiös überhöhte Präsenz – Wunderkind, Vegetarierin, Jungfrau. Doch die Ikone erhält Risse, als die Veteranen die jungen Studenten dazu nötigen, rohe Kaninchennieren zu essen: Denn neben einer allergischen Reaktion, die Teile ihrer Haut abblättern lässt, scheint der Verzehr von Fleisch in Justine einen unstillbaren Hunger auf mehr auszulösen.

Es wird nie explizit darauf eingegangen, was genau hinter Justines Impulsen, die schlussendlich in Kannibalismus münden, steckt. Doch das macht Grave umso effektiver. Der Film ist ein seltsames Horrorwerk, das sich über weite Strecken nicht wie eines verhält – wodurch der Eindruck, den die wahrlich erschreckenden Momente machen, maximiert wird. Von ihren verstörenden Traumbildern bis hin zu ihrer schonungslosen Inszenierung von abgetrennten und angekauten Gliedmassen – Ducournau versteht es hervorragend, ihr Publikum zu packen und nicht wieder loszulassen, ob es nun will oder nicht.

Nicht zuletzt dank ihrer Schwester Alexia (Ella Rumpf) entdeckt die Vegetarierin Justine ihren Appetit für Menschenfleisch.
© Focus World
Wie bei den besten filmischen Tabubrüchen verbirgt sich unter der blutigen Oberfläche eine grosse Auswahl an Motiven und möglichen Interpretationsansätzen. Will man den Buñuel-Vergleich weiterziehen, lässt sich Grave – insbesondere die sexuelle Dimension von Justines "Fleischeslust" – als subversiver Kommentar auf das gestörte Verhältnis der patriarchalischen Gesellschaft zum weiblichen Körper auffassen. Trotz vereinzelter Sexszenen wird dieser hier sozusagen "entsexualisiert", der "Male gaze" ausgehebelt: Entblösste Brüste entbehren jeder erotischen Darstellung; die Kamera fokussiert sich auf Justines blutig gekratzte Haut, die Haare, die sie erbricht, die Schamhaare, die Alexia ihr entfernen will. So widersetzt sich der Film der sexistischen Inszenierungskonvention, die Frauen nur dann Körperlichkeit zugesteht, wenn diese "sauber" und "jungfräulich" daherkommt.

Buchstäblich wird diese Subversion, diese Umkehrung, durch Ducournaus Sexualisierung von Justines Kannibalismus: Das Verspeisen eines Fingers wird zum Höhepunkt der Erotik; beim Sex mit ihrem (homosexuellen) Mitbewohner Adrien (Rabah Naït Oufella) geht ihr Orgasmus damit einher, dass sie ihren eigenen Arm blutig beisst; der vielleicht intimste Moment zwischen ihr und Alexia ist das Verarzten der einander zugefügten Bisswunden. (Inzestuöse Tendenzen sind bei einem klassisch subversiven Kunstfilm wie Grave nie allzu weit.)

Bei Justine wechseln sich Angstzustände und animalischer Hunger ab.
© Focus World
Aus einem anderen Winkel betrachtet, scheint Ducournau auch eine zynische Parabel auf die Normalisierung von Tierfleischkonsum gedreht zu haben. Wiederholt wird auf die Beziehung zwischen Mensch und Tier eingegangen, auf die Frage, welche Rechte Letztere haben oder haben sollten. Über welche mentalen Kapazitäten verfügen Schweine? Leidet ein vergewaltigter Affe gleich wie eine vergewaltigte Frau? Und akzeptiert man die Prämisse, dass tierische Selbsterkenntnis existiert, bleiben als Konsequenz nicht nur noch Fleischverzicht oder Kannibalismus übrig?

Der Film entlässt einen mit einem flauen Magen und einem Kopf voller unbequemer Fragen wie diesen aus dem Kino. Grave ist ein gleichermassen stürmisches wie verstörendes, faszinierendes und Genre sprengendes Debüt, dessen thematische und ästhetische Selbstsicherheit schlichtweg atemberaubend ist. Julia Ducournau lautet der Name – man sollte ihn sich merken.

★★★★★

Freitag, 21. Juli 2017

Spider-Man: Homecoming

Es gibt wohl kein besseres Beispiel für die oft kritisierte "Reboot-Manie", die in Hollywood derzeit herrscht, als die auf den gleichnamigen Marvel-Comics basierende Spider-Man-Franchise.

Zusammen mit den X-Men begründete der Teenager mit den Spinnenkräften das Superheldenkino des frühen 21. Jahrhunderts; zwischen 2002 und 2007 drehte Sam Raimi drei Filme mit Tobey Maguire in der Titelrolle. Lediglich fünf Jahre nach dem von den Fans ungeliebten Spider-Man 3 erfolgte der erste Reboot: (500) Days of Summer-Regisseur Marc Webb beerbte Raimi, Andrew Garfield trat in Maguires Fussstapfen, und es entstanden die unterbewerteten The Amazing Spider-Man (2012) und The Amazing Spider-Man 2 (2014).

Die für Marvel-Verhältnisse unbefriedigenden Reaktionen von Publikum und Kritik auf diese Filme lieferten der Disney-Tochtergesellschaft die ideale Rechtfertigung, Webbs Fortsetzungspläne auf Eis zu legen und Peter Parker alias Spider-Man endlich ins seit 2008 laufende "Marvel Cinematic Universe" (MCU) einzuführen. Keine zwei Jahre nach The Amazing Spider-Man 2 war der erneute Reboot beschlossene Sache; besetzt wurde die Rolle mit Tom Holland (The Impossible, In the Heart of the Sea), der bereits im Frühjahr 2016 in Captain America: Civil War sein Debüt im rot-blauen Spider-Man-Anzug feierte.

Hollands Auftritte gehörten zu den Höhepunkten in einem ohnehin schon überdurchschnittlichen Actionfilm und liessen auf einen lohnenswerten Reboot hoffen. Diesen präsentiert Marvel Studios nun mit Spider-Man: Homecoming, der die Erwartungen zweifellos erfüllt, sie allerdings auch nicht übertrifft.

Die neue Generation: Spider-Man (Tom Holland) ist wieder ein High-School-Schüler.
© Sony Pictures Releasing Switzerland GmbH
Homecoming ist anders als das, was man von Raimi und Webb gesehen hat – und nicht nur, weil der Film als MCU-Puzzlestück sowohl erzählerisch als auch stilistisch nicht in sich geschlossen ist. So überspringt Regisseur Jon Watts, dessen Hauptwerk bislang aus den eher obskuren Filmen Clown (2014) und Cop Car (2015) besteht, die Tragödie, die Spider-Man zu dem macht, was er ist: den indirekt durch ihn verschuldeten Tod seines Onkels.

Das ist eine mutige Entscheidung, ist doch gerade Spider-Man einer jener Superhelden mit einer glasklar umrissenen Mission: "With great power comes great responsibility", bekommt er von seinem Onkel Ben auf den Weg gegeben. Soll heissen: Peter Parkers übermenschliche Kräfte verpflichten ihn dazu, sie zum Schutz der Kleinen und Schwachen einzusetzen. Es ist das, was Spider-Man im Kern von Iron Man, Captain America und Thor unterscheidet: Er ist ein Teenager mit alltäglichen Problemen, der sich darum bemüht, die Strassen von New York sicher zu machen; Welt- und Universumsrettung gehören nicht zu seinem Portfolio.

Es droht Gefahr: Adrian Toomes alias Vulture (Michael Keaton) will sich mit hochexplosiver Alien-Technologie bereichern.
© Sony Pictures Releasing Switzerland GmbH
Puristen werden mit Bens Auslassung ihre Mühe haben, doch die Entscheidung von Watts und seinen fünf Mitautoren hat auch Vorteile: Homecoming ist ein heitererer Film als Raimis Spider-Man und Webbs The Amazing Spider-Man. Der zweite Reboot innert fünf Jahren bemüht sich, dem Publikum eine Geschichte zu zeigen, die es so noch nicht zu sehen bekommen hat – eine Geschichte ohne neuerliches Aufrollen des bereits Bekannten: wie Peter von einer radioaktiven Spinne gebissen wird und in einem Moment der Wut den künftigen Mörder seines Onkels fliehen lässt.

Homecoming erzählt von einem 15-jährigen Spider-Man, der schon eine Weile mit seinen besonderen Kräften vertraut ist. Sein freundlicher Populismus, sein Einsatz für seine Mit-New-Yorker als "friendly neighborhood Spider-Man" wird nicht über eine einschneidende Familientragödie definiert, sondern über seine Beziehung zu seinem distanzierten Mentor Tony Stark alias Iron Man (Robert Downey Jr.). Während Peter als maskierter Ordnungshüter Fahrraddiebe dingfest macht und alten Damen den Weg erklärt, jettet Stark rund um den Globus, derweil er die Avengers staatlich regulieren und in einen Militärkomplex umziehen lässt. Raimis Spider-Man war eine Hommage an den Geist des Zusammenhalts in New York nach 9/11; Watts konstruiert eine – nicht restlos überzeugende – Allegorie auf den anhaltenden Konflikt zwischen Populismus und Globalisierung.

Zusammen mit seinem besten Freund Ned (Jacob Batalon) versucht Peter Parker alias Spider-Man, Vulture auf frischer Tat zu ertappen.
© Sony Pictures Releasing Switzerland GmbH
Der Subtext des MCU bewegt sich spätestens seit Avengers: Age of Ultron (2015) in diese Richtung; den Höhepunkt hat es vorerst mit Captain America: Civil War und Spider-Man: Homecoming erreicht. Entworfen wird ein Spektrum zwischen den beiden Positionen, auf dem Iron Man einen elitären Technokraten, Captain America einen freiheitsliebenden Libertarier und Spider-Man einen integren Idealisten darstellt. Das mag ein spannender Ansatz sein, wird der weitaus komplizierteren Realität, wo sich Populismus zunehmend mit Neofaschismus und Korporatismus vermengt, aber kaum gerecht.

Man könnte lange darüber diskutieren, ob der Bösewicht des Films, Adrian Toomes alias Vulture (ein herausragender Michael Keaton), mit seiner Entwicklung vom betrogenen Arbeiter mit nachvollziehbarer Motivation zum zynischen, gewalttätigen Opportunisten die Korruption des Bernie-Sanders-Populismus zum rechtsnationalen Trumpismus symbolisiert. Doch glücklicherweise hält sich der Film nicht allzu lange mit der konfusen MCU-Politik auf.

Peter hofft, mit seinen Einsätzen als Spider-Man einen guten Eindruck bei den Avengers, geleitet von Tony Stark alias Iron Man (Robert Downey Jr., Mitte), zu machen.
© Sony Pictures Releasing Switzerland GmbH
Seine Stärken liegen in seinen liebenswerten Figuren – insbesondere Tom Hollands Peter Parker, seine Tante May (Marisa Tomei) und sein bester Freund Ned (Jacob Batalon) – sowie seinem Humor. Watts schlägt viel Kapital aus der Tatsache, dass Peter, anders als bei Webb, wieder ein unbeholfener High-School-Schüler sein darf, der sich für Star Wars-Lego-Bausätze interessiert, mit der ersten Liebe konfrontiert wird, sich mit nervigen Klassenkameraden wie Flash (Tony Revolori, bekannt aus The Grand Budapest Hotel) herumschlagen muss und zu einer bestimmten Zeit zuhause sein muss. Homecoming mag nicht der beste Spider-Man-Film sein – diese Ehre dürfte Spider-Man 2 gehören –, doch er ist ohne Zweifel der lockerste. Dazu trägt auch der wunderbare Running Gag bei, dass Captain America vor Civil War neben den Avengers offenbar widerwillig eine Zweitkarriere als Schauspieler in schulischen Lehrfilmen verfolgte.

Doch so sehr sich Homecoming von seinen Franchisen-Vorgängern abhebt, so bekannt fühlt er sich an. Man bekommt einen Superheldenfilm vorgesetzt, der kaum kompetenter gemacht sein könnte. Zu keinem Zeitpunkt besteht hier das Risiko, dass Peter, wie in Spider-Man 3, plötzlich zu tanzen beginnt. Die erratischeren Momente in The Amazing Spider-Man hätten es niemals in die Endfassung dieses Films geschafft. Und das ist an sich gut so. Doch diese saubere Präsentation raubt dem Ganzen auch eine gewisse Identität. Spider-Man: Homecoming ist hochgradig unterhaltsam und ungemein sympathisch – wenn auch schlussendlich mehr ein Serieneintrag als ein eigenständiges Werk.

★★★

Mittwoch, 19. Juli 2017

Un profil pour deux

© Frenetic Films

★★

"Mit seiner Mischung aus stiller Würde, grossväterlicher Unschuld und verschlagenem Schalk ist Pierre Richard der Höhepunkt in einer raffiniert konstruierten, letztlich aber unbefriedigenden Komödie. Robelins Humor fusst auf Missverständnissen und dem fast schon theaterhaften Stilmittel, den Informationsaustausch zwischen den Figuren möglichst fantasievoll zu unterbinden. Das mag clever sein, führt aber kaum zu grossen Lachern."

Ganze Kritik auf Maximum Cinema (online einsehbar). Eine alternative Kritik wurde im Filmmagazin Frame (Juli-September 2017) abgedruckt.

Montag, 10. Juli 2017

The Transfiguration

© Xenix Filmdistribution GmbH

★★

"Michael O’Shea erzählt hier eine interessante, dank Margaret Chardiets schaurig-effektiver Filmmusik äusserst atmosphärische Geschichte, die sich gerade dank ihrer schwarzen Hauptfigur von so manch anderem Horrordrama abhebt. Doch darin liegt auch das Grundproblem von The Transfiguration: Er eifert mit seinem Porträt eines benachteiligten schwarzen Jugendlichen dem Oscargewinner Moonlight (2016) nach, bedient sich dabei aber – womöglich unbeabsichtigt – rassistischer Klischees, die eigentlich längst der Vergangenheit angehören sollten."

Ganze Kritik auf Maximum Cinema (online einsehbar). Eine alternative Kritik wurde im Filmmagazin Frame (Juli-September 2017) abgedruckt.