Dienstag, 27. Oktober 2015

Black Mass

Regisseur Scott Cooper interessiert sich für die düsteren Ecken Amerikas – die gegen den drohenden Untergang kämpfenden Institutionen, die mafiösen Strukturen hinter dem Schleier amerikanischer Geschäftstüchtigkeit, die allzu einfach ausser Kraft gesetzten Prinzipien Moral und Rechtschaffenheit. Drei Filme hat der 45-jährige bislang gedreht, allesamt Psychogramme gescheiterter, verzweifelter Existenzen.

In Crazy Heart (2009), der Jeff Bridges seinen ersten Oscar einbrachte, kämpft ein alternder Countrymusiker gegen Alkoholmissbrauch und die eigene Obsoleszenz. Out of the Furnace (2013) spielt vor dem Hintergrund der bröckelnden Stahlindustrie Pennsylvanias – ein Hauch von Peter Bogdanovichs The Last Picture Show –; im Fokus stehen ein perspektivloser Ex-Sträfling und ein bösartiger Redneck-Drogenbaron.

Black Mass stellt zwar in gewisser Hinsicht einen Bruch mit seinen Vorgängern dar, doch auch hier verfolgt Cooper jene Motive und Themen, mit denen er sich als viel versprechender Filmemacher in Hollywood etabliert hat. Sein neuester Film ist eine faktenbasierte Chronologie des kriminellen Imperiums, das Mafiaboss James "Whitey" Bulger (Johnny Depp), ab den Siebzigerjahren in Boston errichtete.

Es ist eine Geschichte ganz im Sinne Coopers, eine Geschichte, in der Staat und Unterwelt miteinander verschmelzen, in der jenste Ur-Amerikanismen – der erfolgreiche Immigrant, die Macht der Eigeninitiative, das Misstrauen vor regulierender Autorität – aufeinander prallen. 1975 führt Bulger die irische Mafia, die Winter-Hill-Gang, im Süden Bostons an; sein Ziel ist es, den Bandenkrieg mit den Italienern im Norden der Stadt endlich für sich zu entscheiden. Dabei hilft ihm nicht nur sein Bruder, Senator Billy Bulger (Benedict Cumberbatch – als Bostoner überzeugender denn als Südstaatler in August: Osage County), sondern auch sein Jugendfreund John Connolly (Joel Edgerton), der mittlerweile beim FBI arbeitet und ihm einen Handel anbietet: Whitey soll zum Informanten werden. Somit kann er John nicht nur die Italo-Mafia ausliefern, sondern geniesst selber auch eine gewisse Immunität, was es ihm erleichtert, das Diktat in Boston zu übernehmen.

Der irischstämmige Mafiaboss James "Whitey" Bulger (Johnny Depp) schwingt sich während der Siebziger- und Achtzigerjahre zum mächtigsten Kriminellen Bostons auf.
© 2015 Warner Bros. Ent.
Obwohl der Film unaufhaltsam in der Zeit voranschreitet – er bleibt Whitey im Laufe der Achtziger- und Neunzigerjahre auf den Fersen und verliert ihn sodann, wie der Rest der Welt, bis zu seiner Verhaftung 2011 aus den Augen –, bewegt er sich durchgehend in der Tradition des "paranoiden" Watergate-Kinos der Siebzigerjahre, begründet durch Sydney Pollack und Alan J. Pakula und in der jüngeren Vergangenheit wiederentdeckt in Produktionen wie Ben Afflecks Argo oder David O. Russells American Hustle. Verwaschene Grau- und Brauntöne dominieren die körnigen Bilder, die Masanobu Takayanagi im postindustriellen Massachusetts einfängt; die Musik Tom "Junkie XL" Holkenborgs (Mad Max: Fury Road) suggeriert eine Welt, in der in jedem Moment mit Mord und Totschlag gerechnet werden muss.

Die Handlung bestätigt diese Stimmung. Es ist kein sentimentaler Blick, den Cooper hier in die Vergangenheit wirft, kein buntes Treiben unerhörter Frisuren- und Kleidermoden wie noch in American Hustle. Ein falscher Schritt, ein falsches Wort, eine falsche Investition – und schon blickt man in den Pistolenlauf von Whiteys Vollstrecker Johnny Martorano (W. Earl Brown); die Macht des Winter-Hill-Syndikats erstreckt sich – dank freiwilliger und unfreiwilliger Unterstützung von Politik und Justiz von Verkaufsautomaten – von der Organisation ganzer Sportarten. Whiteys Aufstieg zum König von Boston ist zugleich ein Porträt gesellschaftlichen und moralischen Verfalls. Amerika gehört den Gangstern – und das nicht erst seit dem letzten Wall-Street-Kollaps.

Erzählerisch hat Cooper die goldene Mitte zwar immer noch nicht gefunden: Crazy Heart geriet bei aller Ernsthaftigkeit letztendlich doch zum Märchen, Out of the Furnace zur allzu konturenlosen Milieustudie. Black Mass wiederum versucht, die GoodFellas-Dramaturgie zu emulieren, gewinnt daraus aber wenig Neues. Entsprechend wirkt der Film episodenhaft und nur streckenweise wirklich fesselnd; diverse Entwicklungen in der Winter-Hill-Expansion gehen unter in einem etwas allzu gedämpften Skript.

Einen beträchtlichen Anteil an Whiteys Erfolg hat der FBI-Agent John Connolly (Joel Edgerton), der den Gangster als Edel-Informanten anheuert.
© 2015 Warner Bros. Ent.
Somit bleibt schliesslich neben der stimmig und hervorragend eingefangenen Atmosphäre und der Hitchcock'sch inszenierten Brutalität – Mord ist und bleibt harte Arbeit – vor allem ein Aspekt in Erinnerung: Johnny Depps Darbietung als Whitey Bulger. Vielleicht liegt es daran, dass die Erwartungen an den Superstar nach Flops wie The Tourist, Transcendence oder Mortdecai geschrumpft sind; doch seine durch famose Make-up-Kunst noch verstärkte Interpretation des fast schon apathischen Gangsters gehört, zusammen mit seinen Leistungen in Ed Wood, Dead Man, Fear and Loathing in Las Vegas und Pirates of the Caribbean: The Curse of the Black Pearl, zu den Höhepunkten seiner Karriere. Mit der gespenstischen Ruhe und der kalten Konzentration eines Hais – als Präzedenzfall bietet sich Anthony Hopkins in The Silence of the Lambs an – wandelt Depp durch einen Film, der von unausgeglichenen, impulsiv agierenden Figuren nur so wimmelt; selbst seine joviale Seite hat etwas zutiefst Beunruhigendes und Verstörendes.

Den ganz grossen Wurf konnte Cooper also auch mit Black Mass nicht landen. Doch das soll die beträchtlichen Qualitäten dieses überaus eindringlichen Films keineswegs überschatten. Auch wenn es sich dabei nicht um den künftigen Klassiker handelt, zu dem sein Regisseur durchaus fähig scheint, besticht er doch – neben Depps grandioser Darbietung – auch durch seine grundlegende Hollywood-Solidität, deren Reiz sich zu entziehen fast nicht möglich ist.

★★★★

Sonntag, 25. Oktober 2015

The Little Prince

Je populärer das Quellenmaterial, desto einfacher ist es, ein breites Publikum für eine Adaption davon zu begeistern. Somit dürfte es Mark Osbornes The Little Prince an den Kinokassen vergleichsweise leicht haben: Antoine de Saint-Exupérys Kinderbuch wurde seit seinem Erscheinen 1943 in mehr als 250 Sprachen übersetzt und gehört zu den meistverkauften Büchern aller Zeiten.

Die Kehrseite des Ganzen ist die Gefahr, Millionen von Menschen, die mit der Geschichte des kleinen Prinzen vom Asteroiden B-612 aufgewachsen und vertraut sind, zu enttäuschen. Dutzende von Adaptionen auf Papier, Zelluloid, Bühne und Tonträger sind Osbornes Animationsfilm vorausgegangen; es gilt, der Erzählung aus einem neuen Blickwinkel zu begegnen, ohne sich dabei zu sehr über Sinn und Geist Saint-Exupérys hinwegzusetzen.

Mit Ausnahme eines dritten Akts, der die magische Subtilität von Le petit prince in einen banalen physischen Kampf zwischen Protagonisten und Antagonisten übersetzt, gelingt dies Osborne und den Drehbuchautoren Irena Brignull und Bob Persichetti recht gut. Der kleine Prinz (gesprochen von Riley Osborne) und seine Begegnung mit dem in der Sahara notgelandeten Piloten (Jeff Bridges) werden in eine kontemporäre Handlung integriert, in deren Zentrum ein Schulmädchen (Mackenzie Foy) steht.

Dieses lebt in einer Welt, die wie ein Traum des Sterne zählenden Geschäftsmannes wirkt, dem der Prinz auf seiner Reise von Asteroid zu Asteroid begegnet (und der hier von Albert Brooks mit der gebührenden ernsthaften Monotonie gesprochen wird): Zahlen bestimmen das tägliche Leben; den Kindern wird ein Lebensplan aufgezwungen, der sie zu "essenziellen" Mitgliedern der Gesellschaft formen soll. Das Mädchen lebt mit seiner arbeitswütigen Mutter (Rachel McAdams) in einem kantig-symmetrischen Haus in einer retortenhaften Vorstadt; die Sommerferien verbringt es damit, für seine neue Schule wirtschaftlich relevante Formeln zu lernen.

In einer allzu ernsthaften Welt freundet sich ein Mädchen (Stimme: Mackenzie Foy) mit einem ehemaligen Piloten (Jeff Bridges) an.
© Impuls Pictures AG
Doch im windschiefen Holzhaus nebenan wohnt ein wunderlicher alter Kerl (Jeff Bridges), der versucht, ein schrottreifes Flugzeug in Gang zu bringen. Und auch sonst scheint er wenig zum ökonomischen Wohl der Gemeinschaft beizutragen: Er bastelt, malt und beobachtet die Tiere in seinem Garten und die Sterne am Himmel. Seiner neuen jungen Nachbarin schickt er, Blatt für Blatt, die Geschichte vom kleinen Prinzen, der ihn in der Wüste einst nach einer Zeichnung von einem Schaf gefragt hat. Nach anfänglichen Schwierigkeiten ist das Mädchen – wie könnte es auch anders sein? – fasziniert.

Gewisse Botschaften aus Saint-Exupérys Buch wendet The Little Prince äusserst gekonnt auf das gegenwärtige soziale Klima an. Die grassierende Obsession auf Wirtschaftslehre und Algebra, die in der Welt der Protagonistin herrscht, erinnert unverkennbar an den zunehmend schweren Stand, den die "nicht rentablen" Künste und Geisteswissenschaften gerade in Europa derzeit haben. Weder die Liebe zur Ästhetik noch der bewundernde Blick zum Sternenhimmel – beides Ausdrucksformen der von Saint-Exupérys so hervorgehobenen neugierigen Fantasie – mögen wirtschaftlich relevant sein, doch kommen sie dem "Wesentlichen", dem Kern der menschlichen Existenz, um ein Vielfaches näher als die Frage, wie eine Aktion das Bruttoinlandprodukt beeinflusst.

Osborne, Brignull und Persichetti sind hier einer ebenso löblichen wie stimmigen Moral auf der Spur, doch strapazieren sie diese während der 110 Minuten Laufzeit des Films übermässig. Ihre Überspitzung hat nicht die kindliche Eleganz von Saint-Exupérys Original; die Entscheidung, in der letzten halben Stunde die allegorische Dimension der Petit prince-Geschichte hinter sich zu lassen, entzieht dem Ganzen ein Stück seiner grundlegenden Magie.

Der Pilot erzählt ihr die Geschichte vom kleinen Prinzen (Riley Osborne) und seiner Reise, auf der er unter anderen einen Fuchs (James Franco) kennen lernt.
© Impuls Pictures AG
Damit wird schlussendlich leider auch die technisch markierte Trennung der Handlungsstränge aufgehoben. Während die primäre, hinzu gedichtete Handlung in sauberer, aber unspektakulärer CGI-Animation gehalten ist, begeistern die Darstellungen von Saint-Exupérys Originalpassagen dank ihrer simplen Stop-Motion-Ästhetik. Hier spielen abstrahierte Holzpuppen vor liebevoll gestalteten Karton-Kulissen die Gespräche zwischen Prinz und Pilot nach, ganz im Sinne der surrealen Entrücktheit des Romans.

Trotz seines eher missglückten Endes hat Osborne mit The Little Prince eine würdige Interpretation von Le petit prince geschaffen, die diverse bekannte Figuren, auch mit Hilfe herausragender Sprecher (Jeff Bridges, Ricky Gervais als der Eitle, Bud Cort als König, James Franco als Fuchs), zu einnehmendem Leinwandleben erweckt. Saint-Exupérys Genie blitzt zumindest sporadisch auf.

★★★

Samstag, 17. Oktober 2015

White God

Der grassierende Rechtspopulismus in Ungarn ist auch an der nationalen Filmkultur nicht spurlos vorüber gegangen. 2011 kündigte Meisterregisseur Béla Tarr (Sátántangó, Werckmeister Harmonies) nach The Turin Horse seinen Rücktritt vom Filmemachen an; die Einmischung der Regierungspartei Fidesz in die Kulturförderung soll einer der Gründe für die Entscheidung gewesen sein.

Die soziale Dimension dieses wieder erstarkten Nationalismus, in dessen Namen die faschistoide Jobbik-Bewegung Xenophobie und Isolationismus zur Tagespolitik erhoben hat, hat sich nun Kornél Mundruczó in seinem parabelhaften Tier-Drama White God zum Thema gemacht. Entstanden ist der Film zwar 2014 – und damit vor der Eskalation der europäischen Flüchtlingssituation, auf die nicht zuletzt in Ungarn mit gewaltsamen Übergriffen gegenüber Asylbewerbern reagiert wurde. Doch Mundruczó assoziiert hier unzweifelhaft seine Erzählung mit der Lage des Landes; die prominente und wiederholte Inszenierung von Franz Liszts zweiter Ungarischer Rhapsodie unterstreicht den nationalen Charakter der Handlung.

Diese dreht sich um die 13-jährige Lili (Zsófia Psotta), die nach dem arbeitsbedingten Umzug ihrer Mutter mit ihrem geliebten Hund Hagen (Luke) vorübergehend bei ihrem Vater Dániel (Sándor Zsótér) einziehen muss. Doch nicht nur möchten weder Dániel noch sein Vermieter einen Hund im Haus haben; die Regierung hat vor kurzem eine Steuer auf nicht "reinrassige" Hunde erhoben, die zu bezahlen sich Lilis Vater weigert. Es dauert nicht lange, bis er die Geduld mit Hagen verliert und ihn am Strassenrand aussetzt.

Die Prämisse würde ein heldenhaftes Hundeabenteuer nach Disney-Art ermöglichen, in dem Hagen den Gefahren der Budapester Strassen trotzt und nach Hause zu Lili zurückfindet. Doch White God ist weniger The Incredible Journey und Homeward Bound als The Plague Dogs; Hagen wird nicht zum gefeierten Rückkehrer, sondern zum mörderischen Rebell. Auf der Flucht vor Hundefängern gerät er an einen Obdachlosen (Tarr-Veteran János Derzsi, der unter anderem die männliche Hauptrolle in The Turin Horse spielte), der ihn an einen Hundekampf-Ring verhökert. Hier wird Hagen unter dem neuen Namen Max (und "gespielt" von einem zweiten Hund namens Body) zum blutrünstigen Kampfhund abgerichtet. Er flieht jedoch nach seinem ersten Kampf und wird schliesslich ins Tierheim verfrachtet. Dort vereinigt er die anderen "Köter" hinter sich, um Rache an den Menschen zu nehmen.

Wegen einer Steuer auf Mischlinge muss Lili (Zsófia Psotta) von ihrem geliebten Hund Hagen (gespielt von Luke und Body) Abschied nehmen.
© Magnolia Pictures
Mundruczó realisiert diese packende Geschichte um tierische Auflehnung und Rache, die in den apokalpytisch-gespenstischen Bildern vom menschenleeren Budapest ihren ästhetischen Höhepunkt erreicht, enorm stimmungsvoll; Musik und Kameraführung verleihen diesen Szenen ein absolut gerechtfertigt wirkendes Pathos. Nicht minder atemberaubend sind in diesem Zusammenhang die Leistungen der tierischen Darsteller, insbesondere von Luke und Body. Oft scheitern vergleichbare Tier-Darbietungen daran, dass ihnen das wochenlange Training nur zu deutlich anzusehen ist; doch die Arbeit von Trainer Árpád Halász, verantwortlich für die insgesamt 280 im Film vorkommenden Hunde, bleibt hier praktisch unsichtbar; Mimik und Bewegung von Luke/Body ist ungemein expressiv, wirkt aber durchgehend völlig instinktiv.

Im Vergleich zu diesem eindringlichen Handlungsstrang droht die menschliche Ebene stellenweise fast zu gewöhnlich zu erscheinen. Lilis Suche nach dem verschwundenen Hagen verläuft in bekannten Bahnen – sie beklebt Wände mit Vermisstmeldungen und lässt sich bis spätabends nicht zuhause blicken –, ihr pubertärer Widerstand gegen ihren Musiklehrer (László Gálffi) funktioniert nur sporadisch als Parallele zu Hagens Entwicklung. Doch Mundruczó bettet auch diese Elemente elegant in seinen Film ein; gerade die schrittweise Wieder-Annäherung Lilis an Dániel macht White God zu mehr als einer nackten politischen Parabel.

Auf sich allein gestellt, schart Hagen eine Armee von Mischlingen um sich, um sich an seinen Peinigern zu rächen.
© Magnolia Pictures
Dennoch bleibt der ideologische Subtext bleibt der kraftvolle Fokus und Motor dieses Films. Seine englische Tagline "The unwanted will have their day" taugt auch als Warnung. In einer Polit-Kultur, die schon länger mit Juden-Registern und Konzentrationslagern für Roma liebäugelt, haben dystopische Visionen einer faschistischen Zukunft nur wenig Zugkraft. Stattdessen dreht Mundruczó den Spiess um: Er ersetzt Immigranten und Asylbewerber mit süssen, wenn auch nicht verniedlichten, Hunden und hetzt sie auf die Bevölkerung der Hundezüchter-Nation Ungarn – ja auf die Mitte der Gesellschaft, denn obwohl Hagen mit seiner Armee zwar gezielt Jagd auf seine Peiniger macht, stoppt sein Aufstand trotzdem nicht vor Passanten.

Es ist eine provokante Meinung, die White God zu vertreten scheint: Der staatliche Rechtsrutsch mag auf die Regierung zurückzuführen sein, doch mit einem entschiedenen Gegenstoss aus der gemässigten Bevölkerung hätte es nicht so weit kommen müssen. Ohne dieses Engagement, so scheint es, ist Ungarn dazu verdammt, im Konflikt zwischen autoritärer Politik und dem (gerechtfertigten) Widerstand der Benachteiligten unterzugehen. In der betörenden letzten Szene ortet Mundruczó das "wahre" Magyarentum weder im Nationalismus noch in der Anarchie, sondern in der reichen kulturellen Vergangenheit Ungarns, am Leben erhalten durch die Jugend, seiner demografischen Zukunft.

★★★★

Freitag, 16. Oktober 2015

The Wolfpack

Es ist eine unglaubliche Geschichte, die Crystal Moselle in ihrem Regiedebüt The Wolfpack erzählt: Die Dokumentation handelt von den Angulo-Geschwistern – sechs Teenager-Jungs und einer kaum in Erscheinung tretenden, behinderten Schwester –, die den Grossteil ihres Lebens in einem Sozialbau-Appartement im Lower-East-Side-Quartier New Yorks verbracht haben. Um sie vor den Gefahren von Stadt und Aussenwelt zu schützen, hat ihr Vater Oscar, ein peruanischer Einwanderer und begeisterter Anhänger der Hare-Krishna-Religion, ihnen und ihrer Mutter Susanne verboten, die Wohnung zu verlassen.

Entsprechend sind Moselles Protagonisten Mukunda, Narayana, Govinda, Bhagavan, Krisna und Jagadesh auch nicht durch die sporadischen, von Oscar beaufsichtigten Kurz-Ausflüge nach draussen an die Welt gewöhnt worden, sondern durch ihre Liebe zum Film; die Sammlung der Angulos umfasst rund 5'000 DVDs und VHS-Kassetten. Was The Wolfpack also letztlich zeigt – befreit von allen zusätzlichen Informationen, die es ausserhalb des filmischen Rahmens nachzuschlagen gilt –, ist der einstige amerikanische Albtraum: eine Generation, die vom Fernsehen aufgezogen wurde.

Unter diesem Gesichtspunkt offeriert Moselle ein erfrischendes Gegen-Narrativ zum gängigen Klischee des abgestumpften, verdummten Medienkindes. Die Angulo-Brüder, allen voran ihr Quasi-Anführer Mukunda, sind ausnahmslos einnehmende Persönlichkeiten – freundlich, humorvoll, selbstironisch und einfühlsam. Nicht ihre Liebe zu den die Eintönigkeit vertreibenden Hollywood-Filmen – die sie als Erweiterung ihres Hobbys gerne selber nachspielen, insbesondere den wie für sechs Brüder gemachten Reservoir Dogs – hat ihnen geschadet, sondern ihr übermächtiger Vater, der Moselle gegenüber zwar keine Reue erkennen lässt, seinen Kindern ihren unumgänglichen Ausbruch aber auch nicht übel zu nehmen scheint ("I taught them to make their own decisions").

Die Angulo-Brüder haben fast ihr ganzes Leben im New Yorker Appartement ihres Vaters verbracht.
© Xenix Filmdistribution
Der Bruch im System Oscar Angulo – und damit Moselles Freundschaft mit der Familie – begann im Jahr 2010, als Mukunda, damals 15, beschloss, die Wohnung verkleidet zu verlassen, wenig später von der Polizei aufgegriffen wurde und vorübergehend in die psychiatrische Abteilung eines Krankenhauses verfrachtet wurde. Im Laufe der darauf folgenden Monate bröckelte Oscars Regime weiter; die Geschwister begannen, gemeinsam Manhattan zu erkunden; Moselle ist dabei, als sie in einem Park am East River die Bäume und den Fluss bestaunen, als sie die Touristen-Attraktion Coney Island besuchen, als sie das allererste Mal einen Film im Kino sehen (David O. Russells The Fighter).

Das ist alles durchaus interessant und dank der charismatischen Menschen im Fokus – trotz der schwierigen Thematik – sogar höchst unterhaltsam; doch das Gefühl, The Wolfpack enthalte einem gewisse Punkte vor, lässt sich nur schwer abschütteln. Wie Moselle die Angulos kennen gelernt hat, wird so gut wie gar nicht beleuchtet; noch weniger die Frage, unter welchen Bedingungen Susanne und vor allem der inzwischen von seinen Söhnen entfremdete Oscar dem Porträt zugestimmt hatten. Die Identifikation der zentralen Figuren erweist sich besonders zu Beginn als Herausforderung; das Fehlen von Zeit-Einblendungen erschwert die Einordnung gewisser Szenen, da der Film offenkundig nicht chronologisch geschnitten ist.

Eines der grössten Hobbys der Angulos ist das Nachspielen ihrer Lieblings-Hollywoodfilme.
© Xenix Filmdistribution
In Anbetracht der zu Drehbeginn allesamt minderjährigen Protagonisten, der behinderten Visnu sowie des wahrscheinlich alkoholkranken und mental instabilen Oscar drängt sich auch die Frage nach ethischen Bedenken auf: War es richtig – oder zumindest journalistisch integer –, diesen Film zu machen? Liegt auf dem Grund von Moselles Projekt ein entmenschlichender "Guck mal, die da"-Impuls?

Zumindest teilweise vermag der fertige Film derartige Zweifel auszuräumen. Es darf angenommen werden, dass Moselles Anwesenheit den Angulos bei ihrer Sozialisation geholfen hat. Und gerade Mukunda und Narayana, deren Traum eine Arbeit im Filmgeschäft zu sein scheint, dürften bei der Stellensuche einen gewissen Vorteil aus Moselles Vernetztheit ziehen können. Die Offenheit, mit der die Geschwister wie auch Susanne die Regisseurin in ihr Leben aufnehmen, bildet den Kern des Reizes von The Wolfpack. Er ist nicht viel mehr als ein solider Dokumentarfilm, der genauso in einen Arte-Themenabend wie auf die Kinoleinwand passen würde; doch der natürliche Charme der Figuren im Mittelpunkt lässt einen bisweilen vergessen, dass ein Film höhere Ambitionen haben könnte.

★★★★

Freitag, 9. Oktober 2015

Inside Out

© Disney

★★★★★

"Indeed, in terms of message and subtext, Inside Out very probably ranks as Pixar’s most mature effort to date, managing to blend its impeccable sense of cartoonish fun with raw emotional power. Maturing processes, rites of passage, and letting go of the past have featured prominently in Docter’s previous two directing efforts – Monsters, Inc. and Up –, and it does not come as a surprise that these motifs crop up here as well. Like the best films of its kind, Inside Out embraces ambiguity instead of avoiding it, offering a potent take on what it means to grow up."

Ganze Kritik auf The Zurich English Student (online einsehbar).

Mittwoch, 7. Oktober 2015

45 Years

© filmcoopi

★★★★★

"45 Years is an exceptional film, rich in depth thanks in no small part to Haigh’s brilliant script, whose perfectly weighted dialogue has the serious wit and the incisiveness of Ozon, Leigh, and Bergman while still being as evocatively open as a relationship-themed story from Joyce’s Dubliners. It is fitting that such a screenplay is played out by two actors of such grace and distinction as Tom Courtenay and Charlotte Rampling."

Ganze Kritik auf The Zurich English Student (online einsehbar).

Dienstag, 6. Oktober 2015

Ich und Kaminski

Wurde dem deutschen Film in der jüngeren Vergangenheit gerne eine zahme Genormtheit vorgehalten, die weder Überraschungen bereit hielt noch tiefe Spuren hinterliess, so scheint Wolfgang Beckers kurios-chaotische Adaption von Daniel Kehlmanns Roman Ich und Kaminski darauf bedacht, diesem Vorwurf um jeden Preis entgegen zu wirken.

Becker, der 2003 – im gleichen Jahr, in dem Kehlmanns Buch veröffentlicht wurde – mit der anrührenden DDR-Tragikomödie Good Bye, Lenin! quasi ein Standardwerk des deutschen "Mainstreams mit Anspruch" geschaffen hatte, setzt sich in Ich und Kaminski unbekümmert über stilistische, ästhetische und inszenatorische Konventionen hinweg – ganz im Sinne von Kehlmanns hochgradig selbstreflexiver Farce über Kunst, Künstler und den Mythos des grossen Narrativs.

Wer genau im Zentrum dieser skurrilen Geschichte steht, ist, wie der Titel suggeriert, nicht ohne weiteres klar. Der Vorspann stellt uns mittels eines - nicht untertitelten – Sprachen- und Clipgewirrs die legendenumrankte Figur Manuel Kaminski (Jesper Christensen) vor, einen fiktiven Maler aus den Dunstkreisen von Picasso, Matisse, Oldenburg und Warhol. Sie alle und noch mehr soll er getroffen haben; im New York der späten Fünfzigerjahre wurde er der Pop-Art-Szene wegen einer Sehschwäche als "blinder" Künstler schmackhaft gemacht; von da an war ihm sein Ruf als Ikone sicher.

Doch plötzlich ist inmitten der vermeintlichen Archivaufnahmen ein Talkshow-Ausschnitt zu sehen, in dem ein junger Mann referiert, den man weder als Künstler noch als Kritiker noch als Moderator kennt: Es ist Daniel Brühl, Hauptdarsteller in Good Bye, Lenin!, gefeierter Nebendarsteller in diversen Hollywoodproduktionen der 2010er Jahre (Inglourious Basterds, Rush, The Fifth Estate), der in der Rolle des Journalisten Sebastian Zöllner Auskunft über seine soeben publizierte Biografie des offenbar gerade erst verstorbenen Kaminski gibt. Die brennendste Frage auf den Lippen seiner Interviewerin: "War Kaminski wirklich blind?" Zöllners ungefällige Antwort: "Da müssen Sie mein Buch lesen."

In den Schweizer Alpen sucht der Journalist Sebastian Zöllner (Daniel Brühl) das Gespräch mit dem blinden Maler Manuel Kaminski.
© Ascot Elite Entertainment Group
Mit schriftstellerischem Selbstvertrauen spricht Zöllner über seine Kaminski-Biografie; in seiner Darstellung wird aus der Gattung, die der britische Autor George Gissing einst als "Farce" abkanzelte, ein Nährboden für grosse literarische Werke, zu denen er seines selbstverständlich auch zählt. Im Folgenden jedoch wird eben dieser Anspruch genüsslich der Lächerlichkeit preisgegeben. Ich und Kaminski ist ein Making-of von Zöllners Biografie, welches – zwischen Satire, Drama, Komödie und Roadmovie irrlichternd – die Idee der grandiosen Künstler-Vita mit Nachdruck entmystifiziert.

Höchst vergnüglich erzählt Becker davon, wie Sebastian zwecks Recherche ins Alpen-Refugium des greisen Kaminski reist und sich dort mit dessen Tochter (Amira Casar), dem sich um ihn kümmernden Arzt (Andrea Zogg), diversen skurrilen Dorfbewohnern sowie den wütenden Anrufen seiner Noch-Freundin (Jördis Triebel) auseinandersetzen muss. Bevor er sich schliesslich mit dem schlagfertigen Blinden ins Auto setzt, um an der flämischen Küste dessen ehemalige Geliebte (Geraldine Chaplin) zu besuchen, zeigt der Film zahlreiche Vignetten, die Sebastian im Gespräch mit Zeitgenossen Kaminskis zeigen.

Für den Möchtegern-Biografen Zöllner erweist sich Kaminski (Jesper Christensen) als herausforderndes Interview-Objekt.
© Ascot Elite Entertainment Group
In diesen Szenen, die zweifellos zu den komödiantischen Höhepunkten gehören, mutet der Film – nicht nur wegen des oft allzu offensichtlich entstellenden Makeups – wie eine Groteske an. Hier ist Karl Markovics (Die Fälscher, The Grand Budapest Hotel) in der Doppelrolle zweier verbitterter Atonal-Komponistenzwillinge zu sehen; dort verschlingt der schmächtige Jacques Herlin (Des hommes et des dieux) in seiner letzten Rolle – er starb 2014 86-jährig – Unmengen an Austern und Würsten ("Dass in so wenig Mensch so viel Eiweiss passt").

Die Autofahrt ans Meer wiederum ist geprägt von Rückschlägen – zu denen auch ein Gastauftritt von Denis Lavant (Les amants du Pont-Neuf, Holy Motors) gehört –, Hindernissen und einem Kaminski, der mehr als einmal verkündet, nach Hause gehen zu wollen, nur um Sekunden später auf der Weiterfahrt zu beharren. Und am Ende der Reise – brillant antiklimaktisch – steht die Erkenntnis, dass die Geschichte vom bedeutungsvollen, schicksalshaft überhöhten (Künstler-)Leben letztlich nichts anderes ist als ein tröstlicher Mythos, um der Unvorhersehbarkeit der Existenz die Bedrohlichkeit zu nehmen.

Erschwerend hinzu kommt das Misstrauen von Kaminskis Umfeld, insbesondere das seiner Tochter Miriam (Amira Casar).
© Ascot Elite Entertainment Group
Entsprechend passend erscheint denn auch die Tatsache, dass Ich und Kaminski ein Film mit unübersehbaren Defiziten ist. So wunderbar absurd das Ganze auch ist, es täuscht nicht über die Überlänge von 125 Minuten hinweg. So lustig viele Szenen auch sein mögen, Beckers vereinzelte Abstecher ins Territorium plumperer Komödien sind dem positiven Gesamteindruck abträglich. So fantasievoll und variantenreich der Film mit seinen verschiedenen Zeitebenen und seinen bildlichen Anspielungen auf die Kunstszene auch inszeniert ist, stechen gewisse Sequenzen doch durch eine irritierende Sprödheit heraus.

Auch seine grundsätzliche Kritik an der Verklärung von Prominenten-Biografien fügt sich nicht zu einer stimmigen Einheit zusammen. Vielmehr gründet der diesbezügliche Anspruch von Ich und Kaminski auf den einzelnen, isolierten Szenen, deren Essenz in diese Richtung zeigt. Somit scheiterte Becker zwar dabei, einen rundum scharfsinnigen Film über den Irrsinn der Genie-Verehrung zu machen; doch eine kluge satirische Komödie mit herausragend perzeptiven Momenten ist ihm nichtsdestotrotz gelungen.

★★★★

Donnerstag, 1. Oktober 2015

El botón de nácar

In seinem neuesten Projekt schliesst der chilenische Dokumentarist Patricio Guzmán nahtlos an seine zahlreichen Filme an, die er über sein Land und dessen Vergangenheit unter Diktator Augusto Pinochet gemacht hat (La batalla de Chile, Le cas Pinochet, Salvador Allende, Nostalgia de la luz). Auch El botón de nácar – übersetzt "Perlmutterknopf" – ist ein assoziatives Filmessay, in dem Guzmán in der Rolle des Erzählers gedankliche Brücken zwischen den Elementen, Südamerikas präkonquistadorischer Geschichte, der unvorstellbaren Weite des Universums und Pinochets Schreckensherrschaft schlägt.

Als Aussgangspunkt dient ihm dazu ein 3000 Jahre alter Quarzblock, der in der lebensfeindlichen Atacama-Einöde in Nordchile gefunden wurde. Darin gefangen ist ein einzelner Wassertropfen, der stellvertretend steht für die Grundlage fast allen Lebens auf der Erde – wie auch für den Pazifik, die längste Grenze Chiles, zu dem das Land über die Jahrzehnte nur bedingt einen emotionalen, identitätsbildenden Bezug aufgebaut hat.

Anders die Ureinwohner Feuerlands: Jahrhundertelang lebten sie als Wassernomaden im eisigen Archipel im Süden Patagoniens; ihr Lebensinhalt waren ihre Kanus und die Feuer, welche in ihnen brannten und welche dem "Tierra del Fuego" seinen Namen gaben. Doch 1830 tauschte der humanistisch gesinnte Captain FitzRoy der britischen HMS Beagle – das Schiff, welches wenige Jahre später Charles Darwin zu den Galápagosinseln bringen sollte – einen Perlmutterknopf gegen einen indigenen Jungen und brachte ihn nach England, wo der "wilde Gentleman" unter dem Namen Jemmy Button Berühmtheit erlangte. Damit begann, so Guzmán, die gezielte Ausrottung und gesellschaftliche Marginalisierung der patagonischen Ureinwohner, deren Anzahl seit der Ankunft europäischer Glücksritter im 19. und frühen 20. Jahrhundert auf heute nur noch einige Dutzend geschrumpft ist.

In seinem neuen Film thematisiert Patricio Guzmán unter anderem das tragische Schicksal der Ureinwohner Südpatagoniens.
© Atacama Productions
Die Auseinandersetzung mit dieser "unsichtbaren" Bevölkerung Chiles führt Guzmán wiederum zum Pinochet-Regime, dessen Schergen politische Gefangene in dieselben feuerländischen Konzentrationslager verfrachtete, in denen knapp 100 Jahre zuvor die indigene Kultur systematisch ausgemerzt worden war. Auch hier spielt das Wasser eine Rolle: Exekutierte Staatsfeinde wurden aus Hubschraubern in den Pazifik geworfen; von ihrer Existenz zeugen inzwischen nur noch die Gleisträger, mit denen die Leichen beschwert wurden und an denen bisweilen noch kleine Überbleibsel der buchstäblichen "Verschwundenen" zu finden sind – wie in einem Fall etwa ein Perlmutterknopf.

Macht sich El botón de nácar auch der Romantisierung und der impliziten Projizierung der eigenen Probleme auf äussere Faktoren schuldig – die Indigenen werden vorbehaltlos als gut und edel dargestellt, derweil eine der ersten Tatsachen, die man über Pinochets Putsch erfährt, ist, dass er von den USA finanziert wurde –, so ist er dennoch ein faszinierender Gedankenstreifzug und ein zutiefst persönliches Porträt eines vielschichtigen Landes. Guzmán sucht nicht nach geschichtswissenschaftlichen, sondern der – frei nach Werner Herzog – "ekstatischen" Wahrheit, einer poetischen Annäherung an seine Heimat, ihre sozialen Gräben und ihre historischen Problematiken. So überrascht es auch nicht, dass hier mindestens ebenso viele Künstler und Schriftsteller wie Professoren und Offizielle zu Wort kommen.

El botón de nácar handelt vom Kleinsten und vom Grössten – so auch vom Wasserdampf, das in einem gigantischen Quasar in den endlosen Weiten des Weltraums zu finden ist.
© Atacama Productions
Diese poetische Freiheit erlaubt es Guzmán, ausserhalb der Grenzen strikt journalistischer Dokumentationen zu operieren. Wie Herzog in Cave of Forgotten Dreams wagt Guzmán hypothetische Szenarien, spontane Sprünge und subjektive Assoziationen – begleitet von berückenden, oft computergenerierten Bildern, welche diese Fantasien zu Bildern werden lassen. Was wäre, fragt er sich, wenn die verfolgten Ureinwoher auf einem der wasserbedeckten Gliese-Exoplaneten, die – mit Hilfe von rieisgen Teleskopen in der Atacama-Wüste – entdeckt wurden, einen Zufluchtsort gefunden hätten. Was, wenn sie, frei von allen zeitlichen, räumlichen und physischen Einschränkungen, in zwölf Milliarden Lichtjahren Entfernung ein neues Leben beginnen könnten, in jenem kürzlich entdeckten Quasar, in dem riesige Mengen an Wasserdampf – das 140-billionenfache allen Meerwassers der Erde – ein schwarzes Loch umkreist.

Man kann Guzmán der Überspitzung, Verkürzung und Ausblendung bezichtigen; doch zu sehen, mit welcher Grazie und Poesie er sich vom mikroskopisch Winzigen ins astronomisch Allumfassende bewegt, ist ein nicht selten eindrückliches Erlebnis. El botón de nácar begibt sich auf die Suche nach der ekstatischen Wahrheit und findet sie – im Perlmutterknopf in den Tiefen des Meeres und der Geschichte, im einsamen Wasserteilchen im Universum, im Kosmos im Wassertropfen.

★★★★