Mittwoch, 2. Juli 2014

Fruitvale Station

Zu einer Zeit, in der ein Spike Lee zusehends an Relevanz verliert und mehr mit kontroversen Äusserungen als mit Filmen für Diskussionsstoff sorgt, sieht man sich gezwungen, anderswo nach gewichtigen cineastischen Beiträgen zur Situation der schwarzen Bevölkerung im zeitgenössischen Amerika zu suchen. Lee Daniels konnte 2009 mit dem Coming-of-Age-Drama Precious auf sich aufmerksam machen, verspielte sich seinen Ruf aber mit den darauf folgenden Fehlschlägen The Paperboy und The Butler; 2011 verband Dee Rees' Pariah die Rassenthematik mit der Selbstfindung eines lesbischen Teenagers.

Mit Fruitvale Station ist dem erst 28-jährigen Ryan Coogler jedoch ein Werk gelungen, welches die ganze Bandbreite abdeckt, über die sich Lee in seinen besten Filmen – Do the Right Thing, Jungle Fever, Clockers – definiert: erzählerische Wucht, einen Hang zum harten, nicht selten an der Grenze zum Cinéma vérité wandelnden Sozialrealismus, eine implizite, polarisierende Parteilichkeit, die im Idealfall Ken Loachs Quasi-Manifeste evozieren.

Coogler diente ein realer Vorfall als Inspiration zu seinem Langspielfilm-Debüt als Regisseur und Drehbuchautor. In der Neujahrsnacht 2009 wurde der 22-jährige schwarze Familienvater Oscar Grant III an der Titel gebenden S-Bahn-Station in Oakland, Kalifornien, von Johannes Mehserle, einem Beamten der Bahnpolizei, erschossen, nachdem er und seine Freunde wegen eines im Zug entbrannten Streits dort festgehalten wurden. Mehserle gab später zu Protokoll, im Eifer des Gefechts seine Pistole mit seinem Taser verwechselt zu haben; er wurde wegen fahrlässiger Tötung zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt.

Der Fall führte an der US-Westküste zu schweren Protesten und Unruhen; die politischen Kommentatoren von links bis rechts verloren keine Zeit, Parallelen zu den berüchtigten Los Angeles Riots von 1992 zu ziehen, in denen sich die Wut über den Freispruch jener Polizisten entlud, welche den dunkelhäutigen Rodney King im März 1991 zusammengeschlagen hatten. Beide Ereignisse wurden als Ausdruck eines tief im amerikanischen Bewusstsein verankerten Rassismus rezipiert, deren Besonderheit nicht in ihnen selbst lag, sondern im Umstand, dass sie dank inoffiziellem Filmmaterial – ein Amateur-Filmer hielt Kings Peiniger auf VHS fest, derweil eine ganze Reihe von Zeugen-Handy-Videos nach Grants Tod ins Internet gelangten – einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurden.

An Silvester 2008 versucht Oscar Grant III (Michael B. Jordan) sein Leben in den Griff zu bekommen.
© Ascot Elite

Anders als es bei Lee wohl der Fall gewesen wäre, wird dies in Fruitvale Station so nie explizit gesagt. Coogler belässt es bei feineren Arten des leitenden Kommentars, wie etwa in jener grandiosen Einstellung des losfahrenden Schicksalszuges, dessen unzählige Passagiere verschwommen vor der Kamera vorbei ziehen. Heerscharen von Menschen benutzten die Bahn an diesem Neujahrsmorgen, doch der Zuschauer weiss, spätestens seit der Eröffnungsszene des Films, welche eines der originalen Zeugen-Videos zeigt, dass diese Fahrt im Tod von Oscar Grant (Michael B. Jordan – grossartig) enden wird. Das Opfer ist – wieder einmal – ein Schwarzer, obschon der fatale Streit von einem weissen Gang-Mitglied angezettelt wurde. Coogler scheint andeuten zu wollen, dass der Ablauf der Dinge zu vorhersehbar ist, als dass noch von Zufall gesprochen werden könnte.

Bevor sich Fruitvale Station aber dem effektiven Fall widmet, versucht er, abseits des Archivmaterials, den letzten Tag im Leben des Oscar Grant zu rekonstruieren. Für Coogler ist Grant ein junger Kleinkrimineller auf dem Weg der Besserung; wie viel davon der Realität entspricht, ist ebenso unklar wie letztendlich unerheblich. Die Drogen, die er bis anhin verkauft hat, versenkt er im Pazifik; an einer Tankstelle kümmert er sich um einen streunenden Hund, welcher kurz darauf (ohne dramaturgische Dringlichkeit) überfahren wird; seiner Freundin Sophina (Melonie Diaz in einer Rolle, wie sie Rosie Perez vor 20 Jahren hätte spielen können) will er ein besserer Partner, seiner Tochter Tatiana (Ariana Neal) ein verantwortungsvollerer Vater sein; vor der abendlichen Silvester-Party feiert er mit der ganzen Familie den Geburtstag seiner Mutter (Octavia Spencer – herausragend).

"Fight the Power"? Oscar und seine Freunde werden in der Neujahrsnacht an der Oaklander Bahnstation Fruitvale von Polizisten, darunter Officer Caruso (Kevin Durand) festgehalten.
© Ascot Elite
Was man diesen ersten beiden Dritteln des Films ankreiden kann, ist ein Hang zur bisweilen allzu simpler Manipulation. Oscars väterliches Wettrennen mit Tatiana hätte auch ohne verklärende Zeitlupe zur übergreifenden Tragik von Fruitvale Station beigetragen; und es lässt sich darüber streiten, ob die dramatische Verkürzung, eine der Handy-Filmerinnen von Fruitvale schon früher auftreten zu lassen, wirklich nötig war. Doch Cooglers rohe Inszenierung – die mitunter an Dennis Hoppers Colors und David Ayers End of Watch angelehnt scheint –, unterstützt von seinem Drehbuch, in dem er ein makelloses Gespür für die Darstellung von Strassen-Slang beweist, sowie einem durchgehend auf Höchstniveau agierenden Cast, überzeugt auch angesichts solcher Unstimmigkeiten. Der Film erzählt während seiner ersten Stunde von einem ethnisch durchmischten Amerika, in dem klassische Distinktionen längst keine Gültigkeit mehr besitzen, in dem Oscar nicht von einem "bösen Weissen", sondern von einem rational argumentierenden Latino entlassen wird, in dem die gesellschaftlichen und ideologischen Gräben nicht primär zwischen Hautfarben, sondern Lohnsektoren klaffen.

So handelt Fruitvale Station auch von der Wohlstandsschere, die in Amerika den Ausbruch aus der Armut inzwischen beinahe verunmöglicht. Welche Rolle dabei der schwelende, nachhallende Rassismus spielt, beleuchtet Coogler im wuchtigen Schlussdrittel seines Debüts. Hier erhält die Handkamera eine nachgerade nervöse Bewegungsfreiheit; die zum Jahreswechsel nach San Francisco strömenden Menschenmassen verleihen den Szenen eine chaotische Unübersichtlichkeit, welche zunächst noch als utopische Harmonie zwischen Rassen und Klassen inszeniert wird – Oscars Freunde bringen mit Hilfe der Lautsprecher eines Wildfremden einen ganzen S-Bahn-Waggon mit ihrer Rap-Musik zum Tanzen.

"Do the Right Thing": Oscar wird die Neujahrsnacht nicht überleben.
© Ascot Elite
Doch das Unheil naht, wie so oft im libertarisch geprägten US-Kino, in Uniform: Oscar und seine Entourage werden in Fruitvale von den Polizisten Caruso (ein fantastischer Kurzauftritt Kevin Durands) und Ingram (Chad Michael Murray) gestellt; die Emotionen kochen über; der beschwichtigende Oscar wird zu Boden geworfen und angeschossen. Der Jünger des Amerikanischen Traums, dessen Vorsatz zu Neujahr es war, neu anzufangen, wird gewaltsam am Erreichen dieses Ziels gehindert. Grund dafür war ein Fall von menschenunwürdigem Racial Profiling; das Resultat ist eine weitere Familie ohne Vaterfigur, "another one of those broken homes", wie Gil Scott-Heron sie 2011 auf seinem letzten Album besang. Im Moment des Todesschusses konzentriert sich Coogler in einer brillanten Bilderreihe auf Nahaufnahmen der Akteure: Oscar ist gezeichnet von Überraschung statt Schmerz; Schütze Ingram und vor allem Caruso, welche kurz zuvor noch auf ihre Gefangenen eingetreten haben, steht eine Mischung aus Schock, Verzweiflung, Verwirrung und Angst ins Gesicht geschrieben, ein Unglauben über die eigene Tat. Fruitvale Station ist eine Chronik des Chaos, welche die moderne amerikanische Gesellschaft prägt – wo sich vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Malaise unterschwelliger Rassismus und eine gefährliche Unsicherheit über die eigene Identität die Hand reichen.

★★★★

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