Donnerstag, 26. Juni 2014

Locke

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.
In seiner erst zweiten Regiearbeit wagt der britische Drehbuchautor Steven Knight ein cineastisches Experiment: 85 Minuten dauert Locke, und sein Protagonist, gespielt vom herausragenden Tom Hardy, verbringt die gesamte Laufzeit am Lenkrad eines Autos. Mit simpelsten Mitteln vollbringt Knight Erstaunliches.

Dieser Film hat etwas Theaterhaftes an sich, eine bühnenartige Künstlichkeit, was sich in minderwertigeren Arbeiten durchaus als fatal erweisen könnte. Er beschreibt eine unglückliche Verkettung von Zufällen, welche das eigentlich ordentlich geregelte Leben von Ivan Locke (Hardy) ins Chaos – und letztendlich wohl in den seelischen wie materiellen Ruin – treibt. Via Autotelefon geführte Gespräche reihen sich in immer kürzer werdenden, ja geradezu unnatürlich dicht gedrängten Abständen aneinander; dazwischen kommentiert Ivan die Geschehnisse mit zunehmend verzweifelt wirkender Sachlichkeit in mitunter nachgerade überhöhten Soliloquien. Doch Steven Knight schafft es, sowohl mit Hilfe seines straffen Skripts und seiner spartanischen Inszenierung als auch einer ausnahmslos überzeugenden Besetzung, diese potentiellen Brecher der filmischen Illusion nahtlos in seine durch und durch flüssige Erzählung einzubetten. Machen einige Momente, einige Zeilen Dialog den leisen Eindruck artifizieller Verkürzung, so ist das eine notwendige Konzession an das – dramaturgisch wie qualitativ – überragende Konzept.

Locke, in seiner Intensität bisweilen an Steven Spielbergs Auto-Thriller Duel erinnernd, zeigt die Titel gebende Hauptfigur, wie sie am Ende eines langen Arbeitstages in ihren BMW steigt und sich auf eine schicksalhafte Reise begibt, an deren Ende der Fahrer, dessen Gesicht dem Kinozuschauer erst offenbart wird, als er im Fahrersitz Platz genommen hat, nicht mehr derselbe wie zuvor sein kann. Von einer Odyssee kann hier kaum die Rede sein; Ivans Fahrt, praktisch in Echtzeit gefilmt, führt ihn von seinem heimischen Birmingham südostwärts nach London, weg von seiner Frau (Stimme: Ruth Wilson) und seinen Söhnen (Stimmen: Tom Holland, Bill Milner), die sich auf einen familiären Fussball-Fernsehabend mit Ehemann und Vater gefreut hatten, hin zu jener einsamen Frau (Stimme: Olivia Colman), die Ivan in einem kruden One-Night-Stand geschwängert hat und deren Wehen nun rund zwei Monate zu früh eingesetzt haben. Mit diesem Fehltritt riskiert Ivan nicht nur seine private, sondern auch seine berufliche Existenz, denn sein überstürzter Aufbruch gen London bedeutet, dass er, ein angesehener Baustellen-Vorarbeiter und Beton-Fachmann, am darauf folgenden Tag beim komplizierten Fundament-Guss eines neuen Hochhauses nicht anwesend sein kann – was seinen Vorgesetzten (Stimme: Ben Daniels) und seinen Kollegen (Stimme: der grandiose Andrew Scott, oft im selben Satz witzig und tragisch zugleich) in helle Panik versetzt. 

"Drive": Eine folgenschwere Entscheidung veranlasst Ivan Locke (Tom Hardy), Birmingham in Richtung London zu verlassen.
© Impuls Pictures AG
Wie auch über den Realismus des Geschehens liesse sich hier lange über die Subtilität des Unterfangens diskutieren. Sätze wie "You make one little mistake and the whole world comes crashing down" – bezogen auf den Zement-Guss, aber unübersehbar im übertragenen Sinne gemeint – oder Ivans Mantra "That is my decision" (eines von vielen) stecken voller doppeldeutigen Symbolismus, der in weniger kompetenten Händen wohl unerträglich schwerfällig gewirkt hätte. (Eine spannende philosophische Analyse liesse sich wohl aus dem sicherlich nicht zufällig entstandenen Namen des Protagonisten gewinnen. Gerade zwischen dem Geburt-Subplot und John Lockes Thesen zum freien, von allen äusseren Einflüssen unbelasteten Geist eines neugeborenen Kindes scheint sich eine Verbindung aufzudrängen.) Doch Knight und allen voran der ausgezeichnete Tom Hardy, dessen beinahe walisischer Singsang-Dialekt in scharfem Kontrast zum schwer wiegenden Ton der Handlung steht, setzen diesen hypothetischen Gefahren eine veritable Tour de force der Erzählkunst und der Figurenzeichnung entgegen, abgehandelt in klaustrophobischer, niemals aber eintöniger Atmosphäre, die einen eineinhalb Stunden gebannt auf die Leinwand starren lässt.

★★★★★

Mittwoch, 25. Juni 2014

The Fault in Our Stars

Der Titel von John Greens Young-Adult-Weltbestseller The Fault in Our Stars ist Shakespeares Julius Caesar entnommen; "the fault, dear Brutus, is not in our stars, but in ourselves, that we are underlings", verkündet die dem Tode geweihte Titelfigur im ersten Akt. Nicht den Bewegungen der Gestirne, den Launen der Götter seien die Geschicke der Menschen untertan, sondern den fehlbaren Sterblichen selber. Es gehört zu den vielen anregenden Feinheiten in Greens wundervollem Roman, dass er sich sanft gegen dieses Narrativ wendet, indem er ihm seine beiden Protagonisten, die unheilbar an Schilddrüsenkrebs erkrankte Hazel Grace Lancaster, 16, und den um ein Jahr älteren Osteosarkom-Überlebenden Augustus Waters, gegenüber stellt: Wie kann man diese beiden "star-crossed lovers" (um den Barden noch einmal ins Spiel zu bringen) für ihr tragisches Schicksal verantwortlich machen, wenn sie letztendlich doch nichts anderes sind als "gescheiterte Experimente in Mutation"?

Josh Boones Filmadaption des 2012 erschienenen Buches verzichtet auf einen Nennung der Titelquelle, ebenso auf Greens Hommagen an The Great Gatsby und The Catcher in the Rye; nach den hässlicheren Passagen, in denen die traurige physische Wirklichkeit einer Krebserkrankung den Schleier der zentralen Liebegeschichte zerreisst, sucht man, zumindest in dieser Form, vergebens. The Fault in Our Stars ist eine Verfilmung, wie von einem Komitee konzipiert; eine vergleichsweise "saubere" Version eines nicht immer "sauberen" Buches. Das bedeutet jedoch nicht, dass Boones zweites Regieprojekt nach Stuck in Love schlecht wäre – oder gar Verrat am originalen Material beginge.

Im Gegenteil: Ihm ist eine anrührende, oftmals abseitig komische, kathartisch traurige Romanze gelungen, welche ein stimmiges cineastisches Pendant zu ihrer gedruckten Inspiration darstellt. Fault der Film hebt andere Elemente hervor als Fault das Buch; dem Film geht es weniger darum, den Fokus auf die körperliche Realität eines Lebens mit Krebs zu legen, als sich auf die mentale zu konzentrieren. Glich indes der Charakter des Peter Van Houten, des eigenbrötlerischen Autors von Hazels (Shailene Woodley) Lieblingsbuch, den diese zusammen mit Augustus (Ansel Elgort) in den Niederlanden besuchen geht, auf dem Papier trotz aller Hintergrund-Erläuterungen einer eher groben (aber nichtsdestoweniger überzeugenden) Karikatur, erwacht er hier dank einer hervorragenden, geradezu surrealen Darbietung Willem Dafoes zu völlig neuem Leben.

Lieben unter dem Damoklesschwert Krebs: Hazel (Shailene Woodley) und Augustus (Ansel Elgort).
© 2014 Twentieth Century Fox Film Corporatio
Wie Jonathan Levines 50/50 gelingt es auch diesem Film, aus einer Geschichte, deren Dreh- und Angelpunkt eine Krebserkrankung ist, ein lebensbejahendes Erlebnis zu machen, das sich den Nicholas Sparks'schen Klischees verwehrt und der Gefahr der thematischen Ausbeutung souverän ausweicht. Mit grossem Einfühlungsvermögen loten die Drehbuchautoren Scott Neustadter und Michael H. Weber ((500) Days of Summer) die Emotionen von Greens Figuren aus, was dem Film auch über zweifelhafte Sequenzen wie etwa Hazels und Augustus' Besuch im Amsterdamer Anne-Frank-Haus (vielleicht der einzige signifikante Fehlgriff, den sich der Roman ankreiden lassen muss), hinweg hilft.

Wer die Defizite in The Fault in Our Stars sucht, wird sie wohl finden – in den durchzogenen Schauspielleistungen von Laura Dern und Lotte Verbeek vielleicht, während schon mancher Kritiker die Handlung der Manipulation beschuldigt hat. Doch gerade für Bewunderer von Greens Buch, zu denen sich dieser Kritiker zählt, hält Boones werkgetreuer Film zahlreiche kleine und grosse Freuden bereit, von den Anspielungen auf ansonsten ausgelassene Aspekte des Romans bis hin zu den perfekt besetzten und harmonierenden Shailene Woodley und Ansel Elgort. Wunderbar, abwechselnd witzig und melancholisch auch die Szenen, in denen der durch Augenkrebs erblindete Isaac (der grossartige Nat Wolff, welcher in der nächsten Green-Adaption, dem für 2015 angesetzten Paper Towns, die Hauptrolle spielen wird) figuriert; derweil der Moment, in dem der beinamputierte Augustus seine verhasste Jungfräulichkeit verliert, mit seiner emotionalen Ehrlichkeit wahrlich zu bewegen und begeistern weiss.

★★★★

Donnerstag, 19. Juni 2014

Ilo Ilo

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Die Filmproduktion von Singapur spielt im internationalen Vergleich eine verschwindend kleine Rolle. Umso bemerkenswerter ist der Erfolg der Tragikomödie Ilo Ilo, die 2013 in Cannes mit stehenden Ovationen bedacht wurde. Darin beleuchtet Regisseur Anthony Chen wirtschaftliche und familiäre Strukturen. 

"The only reason to make films that are a reflection on history is to talk about the present". Dieser gemeinhin dem englischen Filmemacher und Sozialisten Ken Loach (Kes, Riff-Raff) zugeschriebene Satz bewahrheitet sich in Ilo Ilo einmal mehr. Chen erzählt eine Geschichte aus dem Jahr 1997, als eine schwere Wirtschaftskrise die dem Rest der Welt jahrelang so unverwundbar erschienenen asiatischen Tiger-Ökonomien ins Schlingern brachte. Die Arbeitslosenzahlen explodierten und mit ihnen die Selbstmordrate; Menschen versuchten sich an riskanten Investitionen in eigene Geschäftsideen; Laien gingen an die Börse, nur um dort noch das letzte Hemd zu verlieren. Vergleiche mit der seit mehr als einem halben Jahrzehnt andauernden globalen Rezession – welche erneut auch vor Asien nicht Halt gemacht hat – liegen auf der Hand. 

Es ist kein Zufall, dass Ilo Ilo in Singapur spielt: Der Stadtstaat gehört zusammen mit Kuala Lumpur, Bangkok, Manila und Jakarta zu den wichtigsten Finanzmetropolen Südostasiens, nicht zuletzt dank seiner zentralen geografischen Lage; auf engstem Raum prallen hier unzählige Ethnien, Kulturen und Sprachen aufeinander. Neben Englisch ("Mein Chef spricht nur Englisch. Ein Snob") fungiert Tagalog als Lingua Franca, eine Sprache, deren Lehnwortschatz sich – unter anderem – aus Englisch, Chinesisch, Japanisch, Arabisch, Hindi, Sanskrit und Malaiisch speist. Vor diesem geradezu globalisierten Hintergrund entwirft Chen eine transnationale Handlung voller Nuancen: Teresa (Angeli Bayani) ist von den Philippinen nach Singapur gekommen, um sich eine geregelte Arbeit zu suchen. Fündig wird sie beim berufstätigen Ehepaar Teck (Chen Tianwen) und Hwee Leng (Yeo Yann Yann), welche sie als Haushälterin und Kindermädchen für ihren widerborstigen Sohn Jiale (Koh Jia Ler) einstellen. 
Das philippinische Kindermädchen Teresa (Angeli Bayani) kümmert sich in Singapur um den kleinen Jiale (Koh Jia Ler).
© trigon-film
Zwar leidet Ilo Ilo über weite Strecken an seinen öfter mal bemühend wirkenden Figuren, denen dramaturgisch allzu dienliche Probleme, Spannungen und Sorgen angedichtet werden, welche sich innerhalb eines einzigen offenen Gespräches klären liessen – Hwee Lengs Misstrauen gegenüber Teresa, Jiales Abneigung gegen die neue Nanny, Tecks Geheimniskrämerei, was seine Machenschaften und Gewohnheiten angeht. Doch dies geschieht zugegebenermassen nicht ohne Grund: Ähnlich wie Jia Zhangke in seinem wuchtigen Episodenfilm A Touch of Sin zeigt Chen auf, wie tief sich ökonomische Umwälzungen ins soziale Gefüge eingraben und dadurch zwischenmenschliche Beziehungen korrumpiert werden. 


Allerdings erinnert Chens Modus operandi hier weniger an den verbittert-satirischen Stil Jias als an die frühen sozialrealistischen Werke Ang Lees. Wie Eat Drink Man Woman folgt Ilo Ilo einem weitgehend losen Plot, in dem die vier Hauptakteure sich auf unterschiedliche Art und Weise mit den neuen Begebenheiten zu arrangieren versuchen. Als besonders pointiert erweisen sich in diesem Zusammenhang die Ressentiments, die Hwee Leng der Immigrantin Teresa gegenüber hegt, die besser kocht, sich mit Jiale auseinanderzusetzen weiss und, in einem hochgradig symbolischen Bild, am Steuer eines stehen gebliebenen Autos sitzt, während Hwee Leng, Teck und Jiale draussen anschieben. So handelt Ilo Ilo auch von den interkulturellen Konflikten, die in Singapur, aller Internationalität zum Trotz, nach wie vor schwelen – obschon es gerade der Schmelztiegel-Charakter des Landes ist, der ihm zu einer besseren Zukunft verhelfen könnte. Es ist schade, dass Chens thematisch gewichtiger Film auf der emotionalen Ebene nur sporadisch zu packen weiss.

★★★

Donnerstag, 12. Juni 2014

Boyhood

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat. 

Richard Linklaters Boyhood bildet eine ganze Kindheit ab, von der Einschulung bis zum College-Eintritt. Zwölf Jahre nahm die Realisierung des Projekts in Anspruch; die Darsteller blieben durchgehend dieselben. Das Resultat ist ein faszinierendes soziokulturelles Zeitbild der USA nach 9/11.

Zu den Vorbildern des texanischen Regisseurs Richard Linklater zählen unter anderen der Japaner Yasujiro Ozu und der Franzose Robert Bresson, Meister der siebten Kunst, deren Filme nicht zuletzt durch ihre Nähe zum Leben und ihre tief greifende emotionale Kraft zu Klassikern geworden sind. In dieser Tradition bewegt sich auch Linklater: Sein Zweitwerk Slacker (1991) zeigte den ziellosen Alltag eines Bohémiens aus Austin; Dazed and Confused (1993) gilt als quintessentielles Werk über die Jugend in den späten Siebzigerjahren; sein wohl berühmtester Beitrag zur Filmgeschichte ist das Beziehungs-Triptychon Before Sunrise (1995), Before Sunset (2004) und Before Midnight (2013), in dem er zwei Liebende an verschiedenen Stationen ihres Lebens 90 Minuten lang Gespräche führen lässt.

Und nun hat seine Faszination mit dem realitätsnahen Abbilden des Lebens mit Boyhood einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Sieben Jahre alt war Ellar Coltrane, als Linklater ihn 2002 für die Hauptrolle in diesem Mammutprojekt castete; diesen Sommer feiert er seinen 20. Geburtstag. In den zwölf dazwischen liegenden Jahren traf sich Linklater immer wieder mit Coltrane und dem erweiterten Cast, um der Vita des Protagonisten Mason (Coltrane) einige weitere Kapitel hinzuzufügen. Über die Jahre wird er mit dem harten Schulalltag konfrontiert, zankt sich mit seiner älteren Schwester Samantha (Lorelei Linklater), erlebt die erste Liebe, macht Bekanntschaft mit Drogen und Alkohol. Auch an seinen getrennt lebenden Eltern geht die erste Dekade des 21. Jahrhunderts nicht spurlos vorbei: Während sich sein Vater Mason Sr. (Ethan Hawke) von einem unsteten Abenteurer in einen sesshaften, verantwortungsbewussteren Menschen entwickelt, gerät seine Mutter Olivia (Patricia Arquette), eine angehende Lehrerin, immer wieder an die falschen Männer, was die Familie zu zahlreichen Umzügen innerhalb von Texas zwingt.

Wie schon die magistrale Before-Reihe zeichnet sich der makellos fliessende Boyhood nicht in erster Linie durch eine markante ästhetische Gestaltung aus. Linklaters Kino setzt andere Akzente: Figurenzeichnung, hintersinniger Humor, dramaturgische Finessen, simpel-expressive Dialoge. Nicht selten sind hier Charaktere in einem ausgedehnten Zwiegespräch zu sehen, gefilmt in einer einzelnen langen Einstellung, sich über scheinbare Nebensächlichkeiten unterhaltend – Mason Sr. gibt seinem langsam das Pubertätsalter erreichenden Sohnemann Ratschläge, worüber er sich mit Mädchen unterhalten könnte; Mason Jr. tauscht sich mit einer Klassenkameradin über die Kleinstadt aus, in die er gezogen ist, was nach und nach in eine Anekdote über den Selbstmordversuch eines befreundeten Teenagers mündet. Einem stringenten Plot folgt der Film indes nicht; vielmehr werden hier Schlaglichter auf kleine und grosse Momente im Leben eines Mitte der Neunzigerjahre geborenen Kindes gerichtet – eine Kindheit im Zeitraffer.

"Where Are You Now, My Son?": Boyhood porträtiert die Kindheit von Mason (Ellar Coltrane).
© Universal Pictures Switzerland
Politik, Kultur und Gesellschaft spielen hier dementsprechend auch nur im Hintergrund eine Rolle; doch auch sie sind untrennbar mit der Geschichte von Masons Jugend verbunden. Trällert Samantha zu Beginn noch Britney Spears' "Oops!... I Did It Again", ist im weiteren Verlauf Gnarls Barkleys Electro-Soul-Hit "Crazy" zu hören; Mason Sr. hält Brandreden gegen George W. Bush und den Irakkkrieg und verteilt mit seinen Kindern im an sich urrepublikanischen Texas Obama-Plakate; Olivia steht symbolisch für Millionen allein erziehender Mütter, deren Kinder Zeugen werden, wie die klassisch-patriarchalischen Geschlechterrollen zerbröseln. Boyhood ist ein zugleich erhebendes und leise betrübliches Filmerlebnis voller Hoffnung und Melancholie. Man wird dazu animiert – man könnte auch sagen: gezwungen –, das letzte Jahrzehnt Revue passieren zu lassen, mit all seinen Hochs und Tiefs. Das ist der Film einer Generation. 

★★★★★

Mittwoch, 11. Juni 2014

La belle et la bête

Ein längst nicht nur unter Disney-Skeptikern verbreiteter Witz besagt, dass Beauty and the Beast, der Zeichentrick-Meilenstein aus dem Jahr 1991, basierend auf einem französischen Volksmärchen, auch als verfilmtes Stockholm-Syndrom betitelt werden könnte. Die schöne Belle wird von einem Prinzen, der durch einen Fluch in ein haariges Biest verwandelt worden ist, in seinem Schloss eingesperrt, wo ihre Angst nach und nach der Faszination und schliesslich der Liebe weicht.

An sich scheint das zynische Bonmot durchaus seine Berechtigung zu haben. Doch es ist kein Zufall, dass das Musical zur ersten vollständig animierten Produktion avancierte, die eine Oscarnomination für den besten Film erhielt, auf rangierten Disney-Retrospektiven immer wieder unter den Spitzenplätzen zu finden ist und nicht selten in einem Atemzug mit Jean Cocteaus legendärer Adaption des Stoffs genannt wird. Die belesene Belle gehört nach wie vor zu den ausgereiftesten Disney-Heldinnen; dem Verlauf ihrer Beziehung mit dem monströsen Königssohn wurde die nötige Aufmerksamkeit geschenkt; die Figurenentwicklungen sind nachvollziehbar und vermögen der potentiell verdächtigen Prämisse mühelos entgegen zu wirken.

Als weitaus würdigerer Adressat für den Vorwurf der Romantisierung des Stockholm-Syndroms bietet sich die von Christophe Gans (Le pacte des loups, Silent Hill) inszenierte Neuverfilmung an, eine französisch-deutsche Koproduktion, reich an CGI (35 Millionen Euro kaufen viele Pixel), arm an Substanz. La belle et la bête stellt ein eindrückliches Fallbeispiel dafür dar, wie eine unbeholfene Konzeption eine simple, inhaltlich verständlicherweise nur begrenzt ausgearbeitete Fabel in eine unangenehme Entführungs-Romanze verwandeln kann, wie Fantasie zu Firlefanz und Poesie zu blankem Humbug werden kann.

Der Film besteht nicht so sehr aus einer stringenten Handlung als vielmehr aus einer heterogenen Ansammlung von Szenen, zwischen denen sich anscheinend Entwicklungen abspielen, welche für den Verlauf des Plots zwar alles andere als unwichtig wären, Gans und Co-Autorin Sandra Vo-Anh aber nicht für essentiell genug befunden haben, um das Publikum damit zu belästigen. Eine überzeugende Geschichte kommt somit natürlich kaum zustande. Tatsächlich schafft es der knapp zweistündige Film, gefühlte fünf Handlungsstränge aufrecht zu erhalten, ohne auf einen einzigen zufrieden stellend einzugehen.

Belle (Léa Seydoux) wird vom Biest in einem verwunschenen Schloss festgehalten.
© Pathé Films AG
Da wäre der Ruin eines napoleonischen Kaufmannes, gespielt von André Dussollier, dem beim besten Willen nicht anzumerken ist, dass er in seiner Karriere unter anderen für Paolo und Vittorio Taviani, Costa-Gavras, Jacques Rivette, Éric Rohmer, Claude Chabrol, François Truffaut und Alain Resnais vor der Kamera gestanden ist. Nach einem Schiffsunglück sieht sich der Mann gezwungen, samt Nachwuchs aufs Land zu ziehen, um dem Hohn der Stadtbevölkerung zu entfliehen. Eines Nachts kommt er im Wald vom Weg ab und landet in einem verwunschenen Schloss, in dessen Garten er für seine jüngste Tochter Belle (Léa Seydoux) eine Rose pflückt, woraufhin er vom Schlossherren, einem haarigen Löwenmonster (Vincent Cassel), angegriffen und dazu gezwungen wird, ihm Belle als Opfer auszuliefern.

Ohne die Situation jemals zu hinterfragen, gehorcht der verängstigte Händler, und Belle begibt sich in die verzauberten Ländereien des sich stets verborgen haltenden Monsters, dessen verworrene Vergangenheit der jungen Frau im Traum offenbart wird: Der einstige Prinz verlor im selben Moment die Liebe seines Lebens (Yvonne Catterfeld), in dem er den Gott des Waldes gegen sich aufbrachte und in seine gegenwärtige Form verwandelt wurde. Dass seine Gefährten derweil in steinerne Riesen verwandelt wurden – der Grund dafür bleibt ein Rätsel –, trägt ebenso zur Lächerlichkeit des actionreichen dritten Aktes bei wie der Umstand, dass Belles Brüder bei nicht näher definierten Schurken, deren Anführer eine scheinbar bedeutungsvolle Beziehung mit einer Hellseherin verbindet, nicht näher definierte Schulden haben.

Vor seiner Verfluchung war das Biest (Vincent Cassel) ein angesehener Prinz.
© Pathé Films AG
Diese aufgeblähte, durch klaffende Löcher in der Erzählung unnötig verkomplizierte Geschichte verunmöglicht jegliche Form der Charakterisierung. Zwar kann man im Falle von Belles eingebildeten Schwestern noch darüber diskutieren, dass es sich bei diesen (unlustigen) Figuren um klassische Märchen-Stereotypen handelt; doch diese Eindimensionalität wiegt im Zusammenhang mit den beiden Hauptfiguren umso schwerer. Während das Biest über weite Strecken kaum nachhaltig in Erscheinung tritt, beschränkt sich Belles Entwicklung darauf, ihre zu Beginn gepriesene Bescheidenheit abzulegen und sich zu einer quengelnden Adligen mit einem bestenfalls losen Bezug zur Realität zu wandeln. Anders lässt sich ihr Voiceover-Kommentar, die nach dem Frevel des Prinzen zu bizarren kleinen – dramaturgisch sinnlosen – Anime-Monstern gewordenen Hofhunde seien im Schloss ihre besten Freunde gewesen, jedenfalls nicht deuten, denn sobald sie den Tieren gegenüber steht, ergreifen diese die Flucht.

Am schlimmsten steht es in La belle et la bête aber um die Vorstellung von Liebe. Nachdem die finale Schlacht geschlagen ist, Teile des in jeder Hinsicht wunderschön gestalteten Zauberschlosses in sich zusammengefallen sind, namenlose Nebenfiguren von plötzlich beseelten Steinriesen zu Tode getrampelt oder im Stile Wile E. Coyotes zu Boden geschleudert wurden, stehen sich Belle und Biest endlich auf mehr oder minder gleicher Ebene gegenüber. (Eine frühere Konfrontation auf einem zugefrorenen See führte zu einem versuchten Kuss seitens des Prinzen, der das Eis prompt zum Bersten und Belle an den Rand des Ertrinkens brachte.) "Mit genügend Zeit und etwas Geduld", haucht Vincent Cassel ins Ohr der das schauspielerische Mittelmass zelebrierenden Léa Seydoux, "werdet ihr vielleicht lernen, mich zu lieben". Damit treten Gans und Vo-Anh nicht nur den Märchen-Topos der einzig wahren Liebe mit Füssen – nicht auszudenken, was dies für den Tod von Yvonne Catterfelds Prinzessin bedeutet; sie bedienen damit auch ein plump reaktionäres Frauen- und Beziehungsbild, nach dem das weibliche Geschlecht keine andere Wahl hat, als sich einem Mann hinzugeben. Derart sexistische Anklänge mindern das Bisschen Freude, das sich diesem oft unfreiwillig komischen Film abgewinnen liesse.

A Million Ways to Die in the West

© Universal Pictures Switzerland

★★★

"As A Million Ways attempts to juggle Pythonesque absurdity, bone-crunching physical comedy, socially and culturally conscious jabs, and base humour mainly concerned with sex and fecal matter, whilst developing several interweaving narrative strands over an ambitiously timed two-hour period, some of the boyishly immature charm that made Ted such a surprisingly arresting affair is lost in the mix."

Ganze Kritik auf The Zurich English Student (online einsehbar).

Donnerstag, 5. Juni 2014

The Two Faces of January

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

In einem Hollywood, dem der Aktualitätsbezug seiner Filme wieder vermehrt ein Anliegen ist, debütiert der renommierte Drehbuchautor Hossein Amini mit einer nachgerade antiquitiert wirkenden Romanadaption als Regisseur. The Two Faces of January ist ein aus der Zeit gefallenes Kuriosum.

Zwei auf den ersten Blick nicht im Geringsten miteinander verbundene Werke in einen gemeinsamen Zusammenhang zu stellen, gehört zu den kleinen Freuden in der Arbeit eines Kritikers – selbst wenn der Berührungspunkt lediglich darin besteht, dass die beiden Titel in ihm ein ähnliches Gefühl der faszinierten Frustration auslösten. Obwohl sie sich, mit Ausnahme des zeitlichen Settings – den Sechzigerjahren –, nirgendwo so richtig tangieren, fühlte sich dieser Rezensent nach der Visionierung von The Two Faces of January an das eigenartige Erlebnis von Michael Winterbottoms Biopic The Look of Love (2013) über den Londoner Nachtclub-Magnaten Paul Raymond erinnert. Beide Filme scheinen in einer Art Vakuum zu existieren; ihnen fehlt der – vielleicht nötige, vielleicht einengende – Bezug zum historischen Kontext, in dem sie gemacht wurden. Niemals gab Winterbottoms Variation auf den Midas-Mythos ihre Motivation preis; und auch Hossein Aminis Verfilmung des gleichnamigen Buches von Patricia Highsmith aus dem Jahre 1964 lässt einen klaren Anlass zur Produktion vermissen, ausser einem angepassten Plot, der eine der drei Hauptfiguren von einem Betrüger in einen Quasi-Spekulanten verwandelt – was dem Schauplatz Griechenland zumindest ein wenig Resonanz verleiht.

Dass dies nicht inhärent schlecht sein muss, hat The Look of Love gezeigt. Trotz fehlender Dringlichkeit, das Leben des Paul Raymond filmisch zu bearbeiten, wusste Winterbottoms Drama immerhin als zeitgeschichtlich akkurate Charakterstudie zu gefallen. The Two Faces of January hingegen muss ohne wahre Begebenheiten auskommen, auf die er sich stützen könnte, ist jedoch in der Lage, auf die raffinierte Erzählung Highsmiths zurückzugreifen – ein Stoff wie gemacht für den gelernten Skripteur Amini (The Wings of the Dove, The Four Feathers, Drive). Darin gerät das Ehepaar Chester (ein bis zur Lächerlichkeit überspitzt agierender Viggo Mortensen) und Colette MacFarland (Kirsten Dunst) im Jahr 1962 ins Fadenkreuz der griechischen Behörden, nachdem er in einem Athener Hotel versehentlich einen auf ihn angesetzten amerikanischen Privatdetektiv totschlägt. Mit Hilfe des sprachbegabten Fremdenführers und Kleinkriminellen Ryland (Oscar Isaac) fliehen die beiden nach Kreta, wo sie sich bis zur Lieferung ihrer neuen, gefälschten Pässe verstecken müssen. Die Wartezeit vertreibt Chester sich mit ausuferndem Alkoholkonsum, während sich Ryland und Colette stetig näher kommen.

Fremdenführer Rydal (Oscar Isaac, links) verhilft dem Ehepaar MacFarland (Viggo Mortensen, Kirsten Dunst) nach einem unabsichtlichen Verbrechen zur Flucht aus Athen.
© Impuls Pictures AG
The Two Faces of January wirkt wie ein Relikt aus dem Hollywood Alfred Hitchcocks – welcher sich mit Strangers on a Train (1951) selber einmal eines Highsmith-Stoffs annahm –, aus der Zeit der prestigeträchtigen Romanverfilmungen und unterhaltsamen "Crime Capers". Dieses Erbes ist sich Amini augenscheinlich bewusst, reichert er doch sein Griechenland, ein zauberhaft pittoreskes, wenngleich arg romantisiertes Postkarten-Idyll, mit Anlehnungen an Psycho – die Ruinen von Knossos ersetzen die Villa Bates – und, mit dem Motiv der in der Fremde gestrandeten Amerikaner, The Man Who Knew Too Much an. Doch das alles wirkt weniger kunstvoll und erhaben als steif und angestaubt; The Two Faces of January ist nicht in der Lage, seinen Verzicht auf thematische Relevanz gänzlich zu rechtfertigen. Und doch lässt sich dem Film ein gewisser Unterhaltungswert nicht absprechen – Highsmith sei Dank.

★★★