Donnerstag, 16. Januar 2014

La vie d'Adèle

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

La vie d'Adèle, Abdellatif Kechiches skandalumwittertes, in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnetes Coming-of-Age-Epos, fasziniert sowohl mit seinen Qualitäten als auch mit seinen Defiziten: Hier behandelt ein virtuoser Cineast ein Thema, welches ihm nur bedingt liegt.

"Je suis femme et je raconte mon histoire" – so lautet einer der ersten Sätze, die im Film gesprochen werden, und er entbehrt, streng genommen, jeglicher Berechtigung. Denn Regisseur und Co-Autor Kechiche ist ein Mann und als solcher, so scheint es zumindest auf dem Papier, nicht die ideale Person, um den Graphic Novel Le bleu est une couleur chaude (2010) auf die Leinwand zu bannen. Verfasst wurde das Werk von Julie Maroh, einer homosexuellen Feministin; es handelt von einer Frau und der Entdeckung ihrer Weiblichkeit und Sexualität sowie von ihrer mehrjährigen Beziehung zu einer anderen Frau. Doch der notorisch umstrittene Kechiche, dessen letzter Film (Vénus noire) sich um Sarah Baartman, die Ikone des afrikanischen Feminismus, drehte, ist ein besonnener Künstler: "Je suis femme et je raconte mon histoire" ist ein Zitat aus dem Roman La vie de Marianne, geschrieben zwischen 1731 und 1745 von Pierre de Marivaux, dessen Geschlecht ihn nicht daran hinderte, eine der stärksten weiblichen Ich-Erzählungen der französischen Literatur zu schaffen.

Als solche ist denn auch La vie d'Adèle angelegt. Über drei Stunden hinweg zeigt Kechiche, hauptsächlich mittels Nahaufnahmen von Gesichtern, wie sich Adèle (Adèle Exarchopoulos) als Lycée-Schülerin in die blauhaarige Kunststudentin Emma (Léa Seydoux) verliebt und sich im Laufe der Jahre wieder von ihr entfremdet. Doch so sehr der Film darum bemüht ist, sich als intime "Autobiografie" im Sinne Marivaux' zu gerieren, es gelingt ihm nicht, sich gänzlich von der männlichen Perspektive Kechiches zu befreien. Bestes Beispiel dafür sind die ausgedehnten, detaillierten heftig diskutierten Sexszenen zwischen den beiden weiblichen Hauptfiguren, welche zwar als ultimative Akte der Befreiung inszeniert werden, in ihrer Ausführung aber stets Männerfantasie bleiben; Julie Marohs Kritik, sie ähnelten Pornografie, ist nicht kategorisch von der Hand zu weisen. (Im Gegensatz dazu stehen etwa vergleichbare Szenen in Alain Guiraudies L'inconnu du lac, deren Offenheit merklich nüchterner gehalten war.)

"Entre adultes": Adèle (Adèle Exarchopoulos, links) verliebt sich in die Kunststudentin Emma (Léa Seydoux).
 © Frenetic Films
Ein weiteres diesbezügliches Problem stellen die schwachen Charakterisierungen von Kechiche und Mitautorin Ghalia Lacroix dar. Weder Adèle noch Emma sind vollumfänglich profilierte Figuren mit scharfen Konturen – der bewusste Verzicht auf ausformulierte Hintergründe trägt sein Übriges dazu bei –, wobei sich dies bei Ersterer besonders bemerkbar macht: Bis zum Schluss bleibt Adèle eine flache Figur, die sich lediglich durch ihre diversen romantischen Partner – einen Schulkameraden, Emma, einen Arbeitskollegen – definiert. Ihr Verlangen, symbolisiert durch die omnipräsente Farbe Blau, hat kein festes Ziel; vielmehr wird es auf alle möglichen Objekte – Wände, Jacken, Parkbänke, Bettdecken – projiziert. Emmas Entscheidung, ihre Haare nicht mehr zu färben, verliert somit jegliche metaphorische Relevanz.

Und dennoch ist La vie d'Adèle ein hervorragend realisiertes Liebesdrama von selten gesehener Intensität. Das hat zwar zum einen mit Kechiches Regie und seiner Gabe zu tun, packende Sequenzen zu komponieren, zum andern mit den bisweilen brillanten naturalistischen Dialogen. Doch die grösste Anerkennung sei Adèle Exarchopoulos und Léa Seydoux vorbehalten: Ihr schlichtweg grandioses Schauspiel erfüllt ihre unbefriedigenden Figuren mit einem Leben, das ihnen das Drehbuch niemals zu verleihen vermag. Wie so vieles in diesem Film enttäuscht die Konzeption, während die Ausführung begeistert.

★★★

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