Samstag, 29. Juni 2013

Monsters University

Wie fast jeder Film von Pixar beginnt auch Monsters University, das Prequel zu Monsters, Inc. von 2001, einem approbierten "Klassiker" der Studio-Historie, mit einem separat produzierten Kurzfilm. The Blue Umbrella heisst der Nachfolger von kleinformatigen Meisterwerken wie Geri's Game, For the Birds, Presto oder natürlich Luxo Jr., die Geschichte der kleinen Lampe, die bis heute das Firmenlogo ziert. Zu Letzterem, dem eigentlichen Ausgangspunkt der Pixar-Erfolgsgeschichte, kehrt The Blue Umbrella denn auch zurück: Eines regnerischen Abends treffen sich ein blauer und ein roter Regenschirm, verlieben sich und werden anschliessend durch Wind, Wetter und die Bewegungen ihrer Besitzer wieder voneinander getrennt.

Hier treffen Animationsfilm-Welten aufeinander. Das graue Grossstadt-Setting ist fotorealistischer als alles, was Pixar in der Vergangenheit aus Bits und Bytes auf die Leinwand gezaubert hat. Die Figuren jedoch zeichnen sich durch totale Reduktion aus: Die Regenschirme werden durch einige wenige Punkte und Linien – Augen und Mund – charakterisiert, ihre städtischen Mitstreiter, die ihnen dabei helfen, wieder zusammen zu finden, sind unveränderte Strassenrequisiten: Regenrinnen, Briefkästen, Gullydeckel und U-Bahn-Lüftungen erhalten durch Beleuchtung und minimale Bewegungen eine Persönlichkeit; Schrauben werden zu Augen, Öffnungen zu Mündern. Es ist eine wunderschöne Bestätigung von Pixars Philosophie: Nicht die Animation erzeugt Film-Magie, sondern die Geschichte, die erzählt wird, und die Figuren, von der sie bevölkert wird. The Blue Umbrella geht zurück zu den Wurzeln des Genres: Lebloses wird "animiert"; die vermittelten Gefühle haben Vorrang vor der Bildqualität der Pixelmasse.

Es ist ein wichtiger Film, vor allem mit Blick auf den Zeitpunkt seines Erscheinens. Nach dem durchschlagenden Erfolg von Toy Story 3, der Pixar den vierten Oscar für den besten Animationsfilm in Folge einbrachte (eine Kategorie, zu deren Schaffung der originale Toy Story massgeblich beitrug), fiel das Studio, so die Meinung zahlreicher Kritiker, in ein noch nie da gewesenes kreatives Loch. Cars 2 liess die Kritiker kalt, während Brave zwar zu gefallen wusste, für viele aber den typischen "Pixar-Touch" vermissen liess. Dass es sich nun bei Monsters University, dem darauf folgenden Film, um eine weitere Fortsetzung handelte, irritierte das Publikum weiter. Insofern kann The Blue Umbrella auch als eine Selbst-Ermahnung gelesen werden, als eine Erinnerung daran, wie simpel grosse Trickfilm-Kunst sein kann.

Und diese hat Pixar in den vergangenen 20 Jahren mit einer atemberaubenden Regelmässigkeit produziert, dass es mit jedem neuen Eintrag schwieriger wird, ein Publikum zufrieden zu stellen, das mit dem Anspruch ins Kino geht, einen neuen The Incredibles, einen neuen Ratatouille, einen neuen WALL-E, einen neuen Up, eine neue Toy Story vorgesetzt zu bekommen. Natürlich müssen sich neue Projekte auch im Kontext dieser imposanten Filmografie behaupten können, doch sie pauschal dafür zu verurteilen, dass sie sich nicht mit den Werken John Lasseters, Andrew Stantons, Lee Unkrichs und Brad Birds messen können, wird ihnen nicht gerecht.

Heiteres Campus-Leben: Mike (oben, Stimme: Billy Crystal) will sich mit harter Arbeit gegen den faulen, aber talentierten Sulley (unten, John Goodman) als Schrecker beweisen.
© Disney
Auch Monsters University, entstanden unter der Regie von Quasi-Neuling Dan Scanlon, wird nicht als Höhepunkt von Pixars Œuvre in die Annalen eingehen. Zurückführen lässt sich dies primär auf jene (wenigen) Momente, in denen die studioübliche Verspieltheit ins allzu Kindliche übergeht, sowie auf die reissbrettartige Dramaturgie, der anzumerken ist, dass die Autoren Scanlon, Daniel Gerson (Co-Autor von Monsters, Inc.) und Robert L. Baird (Skript-Überarbeiter bei Monsters, Inc.) gewisse Konfliktsituationen erzwingen mussten.

Zwar ist die Grundidee des Films zweifelsohne plausibel: Er spielt Jahre vor den Ereignissen in Monsters, Inc., in einer Zeit also, in der die Monster-Dimension ihre Energie noch aus Kinderschreien gewinnt, und versetzt die bekannten Helden, den einäugigen Grünling Mike Wazowski (Stimme: Billy Crystal) und das grosse, haarige Ungeheuer James P. "Sulley" Sullivan (John Goodman) an die renommierte "Monster University" (ein veritables Monster-Hogwarts im Design eines Ivy-League-College), an deren Schreck-Fakultät, geleitet von Dekanin Hardscrabble (die perfekt besetzte Helen Mirren), sich die beiden in ihrem ersten Semester einen erbitterten Konkurrenzkampf liefern. Mike durchforstet sämtliche Bücher, um für sein harmloses Aussehen zu kompensieren, während Sulley sich auf sein Talent und seine berühmte Familie verlässt.

Entsprechend widmet sich diese erste Hälfte im Stile einer Fernsehepisode jenen Möglichkeiten, die ein solches Szenario bietet. In jedes Tableau werden so viele ausgefallene Monster wie möglich projiziert – Jim Hensons Muppets scheinen allgegenwärtig –, der Film erlaubt sich einige subtile Anspielungen auf die universitäre Nerd-Kultur (The Lord of the Rings, Star Wars und The Simpsons, um nur drei zu nennen), Erzbösewicht Randall Boggs (ein köstlicher, sich vom Aussenseiter zum Grobian entwickelnder Steve Buscemi) bekommt einen Hintergrund, allerlei wohlbekannte Stereotypen werden zitiert und teilweise uminterpretiert.

Um nach einem Vorfall wieder ins Schreck-Programm aufgenommen zu werden, sehen sich Mike und Sulley gezwungen, mit einer unbeliebten Studentenverbindung zu einem Schreck-Wettbewerb anzutreten.
© Disney
Um jedoch im zweiten Teil den Einsatz zu erhöhen, dichtet der Film dem Schreck-Wettbewerb, an dem Sulley und Mike, die inzwischen aus der Schreck-Fakultät ausgeschlossen wurden, im Verbund mit der unbeliebtesten Studentenverbindung teilnehmen, eine äusserst fadenscheinige Klausel an, nach der die beiden abgewiesenen Erschrecker in spe der Universität verwiesen werden, wenn sie aus dem Wettstreit ausscheiden. Sieht man allerdings von diesem dünnen Stück Plot ab, halten die zweiten 45 Minuten von Monsters University einige angenehme Überraschungen bereit. Der Erzählfluss wird stringenter, der Humor bissiger, derweil die einzelnen Aufgaben der Schreck-Olympiade die Fantasie von Autoren und Animationsverantwortliche gleichermassen inspiriert zu haben scheinen.

Schliesslich gelingt es Scanlons Film sogar, mit einem überraschenden Schlussakt, der wieder einmal zeigt, dass sich Pixar nicht mit einfachen Lösungen begnügt, den mitreissenden, aber von zahlreichen Drehbuch-Neufassungen gehemmten Brave zu übertreffen. Dem unausweichlichen Ausgang der Schreck-Spiele folgt eine lange, nüchterne (aber nichtsdestoweniger höchst unterhaltsame) Passage, die, fest verankert auf dem Boden der Tatsachen, den Einsatz tatsächlich erhöht und mit durch und durch überzeugender Figurenzeichnung und -entwicklung die Voraussetzungen für Monsters, Inc. schafft.

Dass sich Monsters University, wie bisher nur wenige andere Filme von Pixar, am Ende (das sich, sprechenderweise, überwiegend in der Menschenwelt abspielt) zur sozialen Realität äussert, gerät darob fast zur Nebensache. Doch genau betrachtet, wird hier die hoffnungsvolle, ja utopische Vision einer wahren Meritokratie gefeiert, in der Talent und harte Arbeit belohnt werden. Man kann seine Träume erfüllen, sagt der Film, zur Not auch ohne akademische Ausbildung – eine starke Botschaft des Trostes in einer Zeit, in der angesichts der angespannten Wirtschaftslage viele amerikanische Studenten ihre College-Schulden nicht mehr bezahlen können und somit die schmerzliche Möglichkeit ins Auge fassen müssen, ihre universitäre Laufbahn aufzugeben.

★★★★

Freitag, 28. Juni 2013

Une Estonienne à Paris

Es gibt ein merkwürdiges Szenenpaar in Une Estonienne à Paris: Beide Szenen sind Teil einer übergeordneten Montage-Sequenz und zeigen die Hauptfigur Anne Rand (Laine Mägi), wie sie sich, einmal am Anfang, einmal am (möglichen) Ende ihres Paris-Aufenthalts, auf ihrer einsamen Wanderschaft durch die Strassen der Stadt der Liebe unversehens vor dem Eiffelturm wiederfindet. Ist der Platz zunächst noch übersät mit Touristen, hat sie ihn in der zweiten Szene für sich allein; ungestört steht sie da, doch sie ist in Gedanken versunken, die Sehenswürdigkeit kaum wahrnehmend. Das kleine Diptychon sagt viel über den Film als Ganzes aus: Es ist sinnträchtig, sorgsam komponiert und besticht durch dezent-verträumte Musikuntermalung, doch es fehlt ein erkennbarer Hinweis darauf, was in Anne vorgeht, wo die Signifikanz der Szenen und ihrer Kopplung liegt.

Das überrascht, denn Regisseur Ilmar Raag hat sich mit seinem letzten Film, The Class aus dem Jahr 2007, als bissiger Sozialkritiker erwiesen, dem die Zustände in Estlands Schulen und die Gesellschaft, in der die postsowjetische Generation aufwächst, ein Anliegen sind. Aus Une Estonienne à Paris sind diese sozialrealistischen Aspekte jedoch fast gänzlich verschwunden. Stattdessen gibt sich Raag mit einem vergleichsweise leichtgewichtigen Charakterdrama zufrieden, in dem die Tragödien milde, die Dramaturgie leichtfüssig und die Konflikte scheinbar unerheblich sind.

Vieles, so etwa diverse Entscheidungsprozesse oder die Frage, ob sich Anne in Paris neu verliebt, wird offen gelassen; in der Figurenzeichnung klaffen Lücken; immer wieder verliert sich die Geschichte auf Nebenpfaden wie kurzen Sightseeing-Einstellungen oder wenn die Kamera auf unbedeutenden Statisten verweilt, als liesse sich Raag von ihnen ablenken. Die Erzählung beschränkt sich auf die Dreiecksbeziehung zwischen Anne, einer estnischen Pflegerin, Frida (Jeanne Moreau), die als junge Frau aus Estland nach Paris emigrierte, 80-jährige Bourgeoise, um die sich Anne kümmern soll, und Stéphane (Patrick Pineau), wie Anne rund 50 Jahre alt, und einstiger Liebhaber Fridas.

Mit einbezogen werden persönliche Traumata wie der Tod von Annes Mutter, der sie dazu veranlasst hat, ihre Heimat zu verlassen, Stéphanes Unfähigkeit, eine feste Beziehung aufrecht zu erhalten, sowie ein nicht weit zurück liegender Selbstmordversuch Fridas. Das Arrangement ist konstruiert, das Verhältnis der beiden vereinsamten Frauen, der gealterten Diva und der geschiedenen Stoikerin, pendelt zwischen dem schwarzen Humor von Tatie Danielle und der aufrichtigen Emotion von Driving Miss Daisy.

Auf Wunsch von Stéphane (Patrick Pineau) kümmert sich die estnische Pflegerin Anne (Laine Mägi, links) in Paris um die vereinsamte Frida (Jeanne Moreau).
© Xenix Films
Das zwischenmenschliche Drama, obgleich praktisch allgegenwärtig, verblasst neben den Momenten, in denen Frida ihre Pflegerin zur eleganten Dame erziehen will ("Parfüms werden nicht gemischt!", "Croissants werden in der Bäckerei gekauft!", "Zieh dir etwas Schönes an!") und im Gegenzug wieder lernt, was es bedeutet, ein umgänglicher Mensch zu sein. Die Rolle Patrick Pineaus, ein rühmenswertes Jean-Reno-Double, wirkt hier zunehmend wie Ballast, sein spät angedeutetes Interesse an Anne wie eine Plot-Annehmlichkeit, die einen einfachen Übergang zum traumartigen Schluss erlaubt.

Und doch gelingt es Raag, seinen Film mit stilistischer Fingerfertigkeit über Wasser zu halten. Dass Une Estonienne à Paris letztendlich trotz all seiner kleinen und grösseren Unebenheiten menschlich anspricht, ist aber vorab seinen beiden Hauptdarstellerinnen zu verdanken. Jeanne Moreau, deren Legendenstatus gut zur Figur der Frida passt, offenbart hinter der knurrenden und zischenden Misanthropin ein verletzliches Inneres – eine Entwicklung, welche die grosse Mimin ohne Kitsch und Sentimentalität darzustellen weiss. Sie blüht auf im Zusammenspiel mit der ausserhalb Estlands nur wenig bekannten Laine Mägi, einer stillen Charakterdarstellerin, die aus demselben Holz geschnitzt scheint wie Aki Kaurismäkis Muse Kati Outinen. Sie vermag mit ihrer subtilen, aber zugleich kraftvollen Darbietung einige von Raags narrativen Lücken zu füllen. Dank ihr und Moreau werden aus Konstrukten Menschen.

★★★

Donnerstag, 27. Juni 2013

The Place Beyond the Pines

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Zwei Titel zählte Derek Cianfrances Filmografie bislang, kleine, fokussierte Elegien. Nun aber sprengt der Independent-Regisseur deren intimen Rahmen und präsentiert mit The Place Beyond the Pines eine gross angelegte Tragödie über Schuld, Sühne und den Tod des amerikanischen Traumes.

Die Titel gebende Kleinstadt Schenectady – der Name leitet sich ab aus der Sprache der Mohawk-Indianer und heisst so viel wie "der Ort hinter den Kiefern" – im US-Bundesstaat New York, wo sich einst die Ureinwohner gegen die europäischen Eindringlinge zur Wehr setzten, ist im Jahr 1997 Schauplatz eines Überlebenskampfs ganz anderer Art. In der Tradition von Paul Haggis' Crash und Elia Kazans Klassiker East of Eden zeichnet Derek Cianfrance virtuos auf, welche weitreichenden Konsequenzen einzelne Handlungen haben können, wie sie das Leben anderer Menschen nachhaltig beeinflussen können.

Angestossen wird die Handlung durch den Motorradfahrer Luke Glanton (Ryan Gosling), der seine Fähigkeiten einem Wander-Jahrmarkt zur Verfügung stellt. The Place Beyond the Pines beginnt in seinem Wohnwagen und begleitet ihn mittels einer fantastischen Kamerafahrt durch die Neonlichter des Rummelplatzes, vorbei an den plärrenden Karussells, hinein in ein Zelt, wo er mit zwei Partnern in der "Todeskugel" halsbrecherische Motorrad-Stunts vollführt – ein allabendliches Ritual, bei dem er, für einen Hungerlohn und die Bewunderung zehnjähriger Kinder, Leib und Leben riskiert. In jener Nacht jedoch erfährt er, dass aus seiner ein Jahr zurückliegenden Liebelei mit Romina (Eva Mendes), welche mittlerweile mit dem gut situierten Kofi (Mahershala Ali) liiert ist, ein Sohn hervorgegangen ist. Um seinen Vaterpflichten nachzukommen, verlässt Luke den Jahrmarkt, lässt sich in Schenectady nieder und setzt, angestiftet von einem Mechaniker (Ben Mendelsohn), seine Fahrkünste dazu ein, lokale Banken auszurauben.

Schon zu diesem Zeitpunkt ist Cianfrances cineastisches Talent nicht mehr zu übersehen. Mit feinem Gespür für seinen Schauplatz, ein trügerisches Natur-Idyll im gemeinhin mit Urbanität assoziierten Staat New York, erzählt er in grossartig komponierten Bildern (eingefangen von Sean Bobbitt, dem Hauskameramann des britischen Kunstfilmers Steve McQueen) und untermalt von Mike Pattons berückendem musikalischen Leitmotiv, die berührende Geschichte des naiven Glanton, der seinem Sohn um jeden Preis der Vater sein will, den er selber nie hatte – selbst wenn er dabei die Grenzen der Legalität überschreiten muss. Hierbei erweist sich Ryan Gosling, der mit wenigen Worten viel zu vermitteln vermag, einmal mehr als eindrucksvolle Leinwandpräsenz.

Motorradfahrer Luke (Ryan Gosling) versucht, mit dem Erlös aus Banküberfällen für Romina (Eva Mendes) und seinen Sohn zu sorgen.
© Ascot Elite
Goslings Auftritt endet jedoch nach knapp einer Stunde jäh; der mutige Cianfrance entledigt sich seines grössten Stars und verlagert den Fokus auf den jungen Polizisten Avery Cross (Bradley Cooper), dessen Leben von einer schicksalhaften Begegnung mit Glanton verändert wird. Zwar wird er so über Nacht zum Lokalhelden, doch schon bald stösst der frischgebackene Familienvater auf institutionelle Korruption in der Polizeiwache Schenectadys. Auch für ihn, einen rechtschaffenen College-Abgänger, ist der Traum von der ehrlich verdienten Karriere letztlich eben doch nur ein Traum: Während seine beruflichen Verdienste ihm zwar zu Ruhm und Ehre verhelfen, sind es Verrat und Erpressung, die ihm finanzielle Sicherheit verschaffen – auf Kosten eines geregelten Familienlebens, wie sich später zeigt.

Denn in seinem letzten Kapitel springt The Place Beyond the Pines 15 Jahre in die Zukunft, wo sich der – bald kontemplative, bald rasante – Film auf die jeweiligen Söhne Lukes und Averys, dessen Ehe in die Brüche ging und der nun ein politisches Amt anstrebt, konzentriert und zeigt, wie beide trotz der Abwesenheit ihrer Väter zu deren Ebenbildern wurden – indem sie ihre Identität an deren Biografien ausrichten. Cianfrance mag die Laufzeit dieses verlängerten Epilogs vielleicht ein wenig überstrapazieren, doch insgesamt fühlt sich der 140-minütige The Place Beyond the Pines keineswegs überlang an. Zu faszinierend ist er, zu gross seine cineastische Klasse.

★★★★

Dienstag, 25. Juni 2013

Man of Steel

Die Zeit hat es nicht gut gemeint mit Superman, dem wohl bekanntesten Superhelden aller Zeiten. Zwar erfreut er sich auch 80 Jahre nach seiner Erschaffung durch Jerry Siegel und Joe Shuster grosser Beliebtheit und ein Ende seines Daseins als amerikanische Kulturikone ist nicht abzusehen. Als Grundpfeiler der mächtigen Comicindustrie ist ihm ein Platz in der Geschichte der Populärkultur gewiss. Als Figur an sich jedoch scheint der Erd-Exilant vom fernen Planeten Krypton dem Zeitgeist nicht mehr zu entsprechen: Superman steht seit jeher für einen braven, gut aussehenden Frauenschwarm, einen stereotypen "Boy Scout", der stets das Gute im Sinn hat und seinen Teil zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung beiträgt – einer jener konservativen Saubermänner, welche das Bild des DC-Verlages jahrzehntelang prägten.

Mittlerweile hat sich die populäre Meinung aber in Richtung der ursprünglichen Marvel-Philosophie verlagert: Helden brauchen Ecken und Kanten, menschliche Makel – selbst wenn sie keine Menschen sind –; der Kampf mit dem eigenen Heldentum hat inzwischen das gleiche Gewicht wie der Konflikt zwischen Gut und Böse. Auf Zelluloid haben DC und Marvel unterschiedlich, aber ähnlich erfolgreich auf diese Entwicklung reagiert. Erstere konnte sich primär durch Christopher Nolans hyperrealistisch-düstere Neuinterpretation von Batman profilieren, während Letztere das Avengers-Projekt lancierten und mit Humor und Hingabe charakterlich unvollkommene Figuren wie Iron Man, Thor oder Captain America auf die Leinwand transponierten.

Superman hingegen passt nicht in dieses Schema. Zu schwer wiegt seine makellose Reputation, zu haarsträubend wirkt sein Hintergrund. Er bleibt verdammt dazu, der Mann mit drei Namen – Kal-El, seinem Geburtsnamen, Clark Kent, seinem Pseudonym, Superman, seinem Alter Ego –, aber ohne Identität zu sein. Somit bestand die vielleicht grösste Herausforderung, die sich Zack Snyder (Regie), Christopher Nolan (Produzent und Co-Autor) und David S. Goyer (Autor) in ihrem Superman-Reboot, erst dem zweiten derartigen Film seit 1987 und Sidney J. Furies desaströsem Superman IV: The Quest for Peace, bot, darin, diese vorgegebene Farblosigkeit zeitgemäss umzugestalten, gleichzeitig aber die Vision von Siegel und Shuster aufrecht zu erhalten.

So kommt es, dass sich ihr Clark Kent (Henry Cavill) in Man of Steel als traumatisierter, grüblerischer, von Selbstzweifeln geplagter Eigenbrötler geriert, der auf der Suche nach sich selbst und seiner Lebensaufgabe die halbe Welt durchstreift und schlussendlich lernt, sich seinen Dämonen zu stellen. Darin Parallelen zu Batman Begins zu sehen, ist nicht schwer, insbesondere angesichts des Engagements zweier Batman-Veteranen – Goyer gilt als treibende Kraft in der Konzeption von Nolans Dark Knight-Trilogie. Insofern ist Man of Steel weniger ein Reboot der Superman-Figur als eine Angleichung von DCs bekanntester Figur an seine (filmisch) erfolgreichste. Clarks Identitätsproblem ist damit freilich nicht geholfen.

Keiner von uns: Clark Kent alias Superman (Henry Cavill) ergibt sich dem amerikanischen Militär.
© 2013 Warner Bros. Ent.
Im Gegenteil: Man of Steel ist eine enttäuschend blutleere Angelegenheit. Zwar finden sich hin und wieder inspirierte Momente; dazu gehören feine Bild- und Motiv-Anspielungen auf Horrorklassiker der Fünfzigerjahre wie War of the Worlds oder Invasion of the Body Snatchers und der Film wartet mit einem unbestreitbar vorhandenen emotionalen Kern auf. Doch diese Bemühungen genügen nicht, um über das fade Ganze hinweg zu täuschen. Ohne Leidenschaft – dafür mit kuriosen Anleihen beim Fantasy-Genre – erzählt Snyder, wie der Planet Krypton nach fatalen Bohrungen (ein Seitenhieb gegen das vor allem in den USA heiss diskutierte Fracking?) in sich zusammenstürzt, kurz nachdem Jor-El (Russell Crowe) seinen neu geborenen Sohn Kal per Fluchtkapsel zur Erde geschossen hat und vom machthungrigen General Zod (der abwechselnd hölzerne und chargierende Michael Shannon, der Terence Stamps ikonische Rolle aus Superman II übernimmt) ermordet wird.

Auf dem blauen Planeten (genauer gesagt, in Kansas) angekommen, wird Kal vom Bauernehepaar Jonathan (Kevin Costner) und Martha Kent (Diane Lane) aufgenommen. Er erhält den Namen Clark und wächst als Menschenjunge mit übermenschlichen Kräften auf, die er auf Geheiss seines Adoptivvaters keinesfalls benutzen darf. Während des Hauptteils des häufig die Zeitebene wechselnden Films ist Clark 33 Jahre alt – eine von Snyders zahlreichen unbeholfenen Jesus-Allegorien, welche allesamt den Umstand ignorieren, dass Superman, wenn überhaupt, eine Moses-Figur ist – und sieht sich dem seinem galaktischen Gefängnis entronnenen General Zod entgegengestellt, der hofft, bei Kal-El einen kryptonischen Artefakt vorzufinden, mit dem er die Erde zu seiner neuen Heimat umformen will.

Dass im Zuge dieser drohenden Invasion auch noch die Journalistin Lois Lane (Amy Adams) und ihr Vorgesetzter Perry White (Laurence Fishburne) in den Plot verwickelt werden, gehorcht nicht einer direkten Notwendigkeit, sondern der Tatsache, dass es sich bei Man of Steel um einen Eintrag ins Superman-Legendarium handelt. Goyers Skript, in dem die Konsequenzen einer Handlung niemals über die Grenzen einer Szene hinaus gehen, fusst auf der bequemen Ikonizität seiner Figuren, Motivationen können getrost übergangen werden, weil jedes Kind weiss, dass Clarks Vater sterben und Lois sich in Superman verlieben muss, obgleich zwischen Cavill und Adams keinerlei romantische Dynamik spürbar ist. Fast schon antiklimaktisch wirkt der obligate Kuss zum Schluss.

Der kryptonische General Zod (Michael Shannon) will sich die Erde unterwerfen.
© 2013 Warner Bros. Ent.
So ist es vielleicht sogar verständlich, dass Man of Steel nach knapp 90 Minuten den Pfad der dialoglastigen, sich zunehmend um sich selber drehenden Herkunftsgeschichte verlässt und in eine Zerstörungsorgie mündet, die sogar die Materialschlachten eines Michael Bay in den Schatten stellt, womöglich im Bestreben, es Joss Whedons The Avengers gleichzutun, wo Iron Man und Konsorten ihre Differenzen in einer ausladenden Kampfszene beilegten, welche halb Manhattan in Schutt und Asche legte. Mit der Unterstützung der besten erhältlichen CGI-Technik stürzen Wolkenkratzer in sich zusammen, unter deren Trümmern Tausende von Menschen begraben werden. Superman und Zod durchbrechen während ihrer ausgedehnten Prügeleien unzählige Glasfassaden, Explosion reiht sich an Explosion.

Dabei schallt das krachige Sounddesign aus den Lautsprechern und Hans Zimmers dröhnender Musikscore verhilft dem immer unübersichtlicher werdenden Geschehen zum nötigen Pathos, derweil Amir Mokris Kamera mit schwindelerregenden Schwenks die rasanten Salti der Kombattanten imitiert. War der Film bis anhin thematisch zumindest einigermassen ansprechend, wenn auch nicht sonderlich fesselnd, so gewinnt er in seiner letzten Dreiviertelstunde durch scheinbar endlose Variationen der gleichen Choreografie an oberflächlichem Unterhaltungswert, opfert diesem aber jegliche legitime Emotion. Wo Whedon die destruktive Strassenschlacht mit Charakterentwicklungen und humorvollen Vignetten konterkarierte, schwelgt Snyder in einem ermüdenden Action-Spektakel, einem eigentlich aussichtslosen Kampf zweier Kryptonier, welche beide auf der Erde so gut wie unverwundbar sind. Am Ende gewinnt der moralisch überlegene Superman mit moralisch unlauteren Mitteln. Da Snyder jedoch darauf verzichtet, näher auf das Dilemma einzugehen, bleibt der ausserirdische Muskelprotz brav, farblos, anachronistisch.

★★

Montag, 24. Juni 2013

Reevaluation: "Cosmopolis"

© Ascot Elite

"In my original review, I concluded that Cosmopolis is "a weighty piece of political cinema", "a partisan movie proclaiming, in a highly complex way, the global anti-capitalist revolution". And although I still stand by these words, I now feel that I didn’t do the film justice, that, with my focus on its political dimensions, I barely punctured the surface of this virtuoso exercise in intellectual filmmaking, which in years to come may well be seen as an underappreciated masterpiece."

Ganzer Artikel auf The Zurich English Student (online einsehbar).

Samstag, 22. Juni 2013

Paradies: Hoffnung

Ulrich Seidls Paradies-Trilogie ist ein eigenwilliges kleines Gesamtkunstwerk, in dem die wahren Absichten des Regisseurs immer knapp ausserhalb des Gesichtsfeldes des Zuschauers zu liegen scheinen, verborgen hinter einem Schleier von mal zynischer, mal sanfter Ironie. So manche Analyse muss unter Vorbehalt getätigt werden: Zwar darf man Paradies: Liebe durchaus als bissige Satire auf die moderne Form des europäischen Imperialismus werten, doch wie fügt sich die mit viel Empathie gezeigte "kolonialistische" Protagonistin in dieses Schema ein? Wie lässt sich das bittere Porträt religiösen Extremismus in Paradies: Glaube mit der offensichtlich bemitleidenswerten Hauptfigur vereinen? Hat sich der Österreicher in seiner Titelwahl von den drei theologischen Tugenden nach Paulus inspieren lassen oder muss man den Umweg über Ödön von Horváths Theaterstück Glaube Liebe Hoffnung gehen?

Verschont bleibt man als Zuschauer von diesen Fragen auch in Paradies: Hoffnung, dem Endstück des Kino-Triptychons, nicht, wenngleich Seidls unbarmherzig kalter Blick hier einer Wärme weicht, die – ob der Titel nun ironisch zu verstehen ist oder nicht – den Figuren in den ersten zwei Teilen nicht vergönnt war. Dieses Mal steht Melanie (Melanie Lenz), die Tochter von Teresa (Margarete Tiesel in Liebe) und die Nichte von Anna Maria (Maria Hofstätter in Glaube), im Mittelpunkt. Ihren Sommer verbringt sie in einem Diätcamp auf dem österreichischen Land, wo sie und ein gutes Dutzend andere übergewichtige Kinder und Jugendliche unter Aufsicht einer Ernährungsberaterin (Vivian Bartsch) und eines disziplinversessenen Turnlehrers (Michael Thomas) gegen die überflüssigen Pfunde ankämpfen sollen. Melanies Interesse gilt aber zunehmend dem knapp 50-jährigen Lagerarzt (Joseph Lorenz).

Ungeachtet der Hoffnung, die der Titel verspricht, erzählt auch dieser Film primär von der Verzweiflung und letztendlich vom Scheitern seiner Hauptfigur. Praktisch pausenlos jagt Melanie, angestachelt von einer in Liebesdingen erfahreneren Freundin (Verena Lehbauer), der wahnhaften Illusion hinterher, den von ihr begehrten Arzt, ihre "erste grosse Liebe", verführen zu können. Allerdings geht dieser anfangs auf die Avancen ein, indem er mit grotesken, den Seidl'schen Realismus strapazierenden "Doktorspielen" zu Melanies Obsession beiträgt – der subversive Coup de grâce des Films, wenn man Österreichs Verhältnis zum Kindesmissbrauch in der jüngeren Vergangenheit bedenkt; im Schatten von Filmen wie Michael oder 3096 Tage zeigt ein einheimischer Regisseur, wie eine Jugendliche einen 40 Jahre älteren Mann implizit dazu auffordert, sie zu entjungfern.

Schlussendlich aber kommt es, wie es kommen muss; dem leider allzu repetitiven Haupthandlungsstrang von Paradies: Hoffnung wird mit dem vernünftigen Rückzieher des namenlosen Arztes ein Ende gesetzt. "Warum?", schluchzt Melanie. "Weil es so ist", sagt er. Das Gewicht von Moral, Gesetz und Gesellschaft wiegt zu schwer. Niemals war Seidl der politischen Korrektheit so nah wie in dieser Szene; der grosse Provokateur zeigt mit überraschender Zärtlichkeit (und vielleicht auch einer Spur Herablassung seiner jugendlichen Protagonistin gegenüber), dass das gesellschaftliche Diktat, so unbefriedigend und einengend es auch sein mag, auch seine guten Seiten hat. Im vorliegenden Fall bewahrt es Melanie vor einer womöglich traumatisierenden Erfahrung, ihren Angebeteten vor Verlust von Arbeit und Freiheit.

Vertrauliches Verhältnis zwischen Doktor und Patient: Melanie (Melanie Lenz) verliebt sich in den Lagerarzt (Joseph Lorenz).
© Praesens Film
Sein übergeordnetes Motiv, das flüchtige Paradies, findet Seidl aber nicht in der Konformität – immerhin wird Melanie in einem gutbürgerlich-biederen Dorf-Club fast vergewaltigt –, sondern irgendwo zwischen Rebellion und Anpassung. Und genau dort setzt auch die Hoffnung ein. Zwar lässt das idyllisch fotografierte Diätlager kaum ein Klischee solcher Einrichtungen aus – insbesondere bezüglich der Leibesübungen –, und der von Michael Thomas mit komödiantischem Flair verkörperte Turnlehrer bedient sich, wie Anna Marias Bet-Zirkel in Glaube, Parolen, wie man sie in Österreich nach 1938 wohl hätte hören können ("Gemeinschaft durch Disziplin!"); doch davon abgesehen, wird es von Seidl als eine fast romantische Gegenwelt eines bizarren Utopia inszeniert. Schon allein die Architektur suggeriert ein Doppelleben: Die Symmetrie der nackten, weiss-grauen Wände wird durch wilde Wandmalereien und Zickzack-Muster auf den Steinböden gebrochen.

Das Lagerleben der Insassen wiederum ist strikten Regeln unterworfen – Handys sind täglich nur eine Stunde lang erlaubt, Ruhe nach 21.30 Uhr; Zuwiderhandlungen werden mit sinnlosen Übungen bestraft –, welche die übergewichtigen Teenager in ihren rebellischen Momenten durch ihre eigenen ersetzen. Wenn des Abends die Jungen die Mädchen in ihren Zimmern besuchen, gilt das Credo, dass Bier für diejenigen, die noch keine 14 Jahre alt sind, tabu ist. Wird Flaschendrehen gespielt, küssen sich auch Geschlechtsgenossen gegenseitig, ohne jede Proteste. Innerhalb der Trilogie schafft diese Party-Szene, welche schliesslich vom vordergründig zornigen, aber offenkundig interessierten Arzt aufgelöst wird, einen scharfen Kontrast zu einer Obdachlosen-Orgie in Glaube. Während Letztere die höllischen Bilderwelten des Hiernoymus Bosch evoziert; ist Erstere ist ein letztlich harmloser Exzess, ein Jugend-Experiment im Stile von Benjamin Leberts Pubertätsroman Crazy.

Leiden an der Sprossenwand: Leibesübungen gehören im bizarr-utopischen Diätcamp zum Tagesprogramm.
© Praesens Film
Gefeiert wird die Fete von einer Zusammenkunft von Scheidungskindern, deren Desillusionierung noch nicht der Hoffnungslosigkeit Teresas oder Anna Marias gewichen ist. Auch unter ihnen mag es intrigante, zynische Individuen geben, die ihre Eltern mit Anrufen manipulieren, ihre Freunde beschimpfen und Männer pauschal verfluchen (eine Einstellung, welche mit ihrer Komposition nebeneinander liegender fülliger Frauen exakt ein Bild aus Liebe widerspiegelt). Doch Melanie, die in einer religiösen Lesart wohl die Jungfrau Maria symbolisieren würde, gehört nicht dazu. Sie verkündet, zum Entsetzen ihrer neuen Freundin, dass ihr der Charakter eines Jungen wichtiger sei als sei Aussehen. Auf dem Höhepunkt ihres Liebeskummers wendet sie sich per Telefon an ihre Mutter. In der letzten Szene sieht man sie wieder lachen.

So wird klar: Die Titel gebende Hoffnung ist nicht zuletzt sie selbst, die stärkste Frau ihrer Familie, der hoffnungsvolle Spross einer verbitterten, bigotten Generation. Hoffnung, anders als Glaube und Liebe, hat ihren Blick in die Zukunft, in Richtung Paradies gewandt. Es ist die ausserordentlich befriedigende Schlussfolgerung eines nicht immer überzeugenden Films. Auf Seidls Paradies-Reihe trifft jedoch das von Michael Thomas an seine Diät-Zöglinge weitergegebene Sprichwort, dass eine Kette nur so stark sei wie ihr schwächstes Glied, keineswegs zu: Denn so zwiespältig Paradies: Hoffnung auf sich alleine gestellt auch wirken mag, so gut gedeiht er im Kontext dieser denkwürdigen Trilogie.

★★★★

Donnerstag, 20. Juni 2013

The Big Wedding

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Hollywoods romantische Komödien stecken schon seit Jahren in einer nicht enden wollenden Krise, in der Geist, Witz und Romantik immer öfter formelhaften Plots und geistlosen Klischees zum Opfer fallen. Neuestes Beispiel: The Big Wedding, das starbesetzte Remake einer Schweizer Produktion.

Dass sich bei der Suche nach gelungener amerikanischer Mainstream-Komödienunterhaltung allmählich Verzweiflung einstellt, ist allein daran erkennbar, dass seit einigen Jahren wieder versucht wird, der Misere mit Neuauflagen von Filmen aus dem frankophonen Raum beizukommen – eine Strategie, welche bereits in den Neunzigerjahren mit Titeln wie Father's Day oder Jungle 2 Jungle bei Kritik und Publikum auf nur wenig Gegenliebe stiess. Vor diesem tristen Hintergrund ist denn auch The Big Wedding entstanden, basierend auf Jean-Stéphane Brons Mon frère se marie. Zwar wird sich der Lausannois darüber freuen können, die von ihm ins Leben gerufenen Figuren von prominenten Darstellern wie Robert De Niro oder Diane Keaton verkörpert zu sehen; davon abgesehen, dürfte jedoch die Enttäuschung über überkandidelte Ausschmückungen und den unbedarft-banalen Humor vorherrschen.

Denn Regisseur Justin Zackham (Autor von The Bucket List) begnügt sich nicht mit der eigentlich simplen Prämisse: Ein geschiedenes Ehepaar muss vor der Hochzeit seines Adoptivsohnes dessen leiblicher Mutter vorspielen, das Eheglück habe noch Bestand. Natürlich bildet dies auch den Kern von The Big Wedding, doch Zackham dichtet der Geschichte zahlreiche weitere Irrungen und Wirrungen an. Nach 20 Jahren Ehe haben sich Don (De Niro), der inzwischen mit Bebe (Susan Sarandon) liiert ist, und Ellie (Keaton) scheiden lassen, doch das freundschaftliche Verhältnis hat sich gehalten – auch dank der erfolgreichen Karrieren der mittlerweile erwachsenen Kinder. Lyla (Katherine Heigl) ist Anwältin, Jared (Topher Grace) Arzt und der aus Kolumbien adoptierte Alejandro (Ben Barnes) hat gerade sein Studium abgeschlossen und steht kurz davor, seiner Verlobten Missy (Amanda Seyfried) das Jawort zu geben.

Um die leibliche Mutter (Patricia Rae) seines Adoptivsohnes Alejandro (Ben Barnes) zu täuschen, spielt Don (Robert De Niro) den verheirateten Vater.
© Ascot Elite
Doch die anstehende Hochzeit bringt weitaus gravierendere Probleme mit sich als die Vorbehalte von Missys Eltern gegenüber "ethnisch gemischten" Enkelkindern. Der Besuch von Alejandros streng katholischer – und, obwohl sie ihren Sohn durch Adoption vor der "Armut" bewahren wollte, wenigstens einigermassen begütert scheinender – Mutter Madonna (Patricia Rae) zwingt Ellie und Don dazu, ihr ein intaktes Eheglück vorzuflunkern, was Bebe in Rage versetzt; die unerwartet schwangere Lyla wartet auf den Anruf ihres Noch-Freundes; Pfarrer Monighan (Robin Williams) zeigt sich wenig überzeugt von der religiösen Reinheit von Missy und Alejandro; derweil Madonnas Tochter Nuria (Ana Ayora) Jared, Jungfrau aus abflauender Überzeugung, den Kopf verdreht.

The Big Wedding zahlt den Preis für diese grösstenteils ins Nichts führenden Handlungsstränge. Sie alle in nur 90 Minuten Laufzeit befriedigend abzuhandeln, grenzt ans Unmögliche. Entsprechend fehlt Zackhams Film die nötige Tiefe, um auf einer emotionalen Ebene zu überzeugen, seinem Drehbuch der Scharfsinn, um zu unterhalten. Zwar unternimmt er den an sich löblichen Versuch, dem linkischen Charme von Charles Shyers Father of the Bride-Remakes nachzueifern, doch sein Humor ist von der platt-derben Sorte: Uninspirierte Running Gags, abgedroschene Stereotypen (konservativ-elitäre und liberal-intellektuelle Oberschicht, Künstler, Katholiken, Latinos) und die sporadische Imitation von Judd Apatows "ironischen" Geschmacklosigkeiten ersetzen echte Witze. Lacher provoziert der eindimensionale The Big Wedding allenfalls mit dem Anspruch, Komödie sein zu wollen.

Samstag, 15. Juni 2013

After Earth

© 2013 Sony Pictures Releasing GmbH



"Some bad films are good ideas badly executed, some are well-executed bad ideas", Sam Davies wrote in his recent review of Sara Sugarman's indie comedy Vinyl. The film at hand, however, Davies felt "falls into that gloomy category of terrible ideas badly executed", which, as it happens, seems an appropriate description for After Earth as well. Smith's vision of a future in which humans, after they have turned Earth into an uninhabitable wasteland, are exiled on a far-off planet called Nova Prime reeks of pretension; whereas Shyamalan's direction shows troubling signs of utter ineptitude.

Ganze Kritik auf The Zurich English Student (online einsehbar).

Donnerstag, 13. Juni 2013

Before Midnight

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

18 Jahre ist es her, seit Richard Linklaters Before-Reihe ihren Anfang nahm. Before Midnight, der nunmehr dritte Teil, zeigt, wie die beiden Hauptfiguren, die jungen Romantiker von einst, mittlerweile in der Realität angekommen sind. Der Klasse der Franchise tut dies keinen Abbruch.

Am Anfang war der Streit. Noch bevor das Kinopublikum in Before Sunrise (1995) mit Jesse (Ethan Hawke) und Céline (Julie Delpy) bekannt gemacht wurde, bevor die beiden auch nur ein einziges Wort miteinander wechseln konnten, bevor die "definierende Film-Liebesgeschichte einer Generation" (Kritiker Peter Travers) überhaupt ihren Anfang nahm, antizipierte Regisseur Richard Linklater bereits das Ende der Beziehung: Im Zug von Budapest nach Paris eskaliert der Streit eines österreichischen Ehepaars; Mann und Frau schreien sich an, bis sie schliesslich entnervt den Wagon verlässt. Zu diesem Zeitpunkt hat die 23-jährige Céline jedoch schon ihren Platz gewechselt und ist mit Jesse, einem gleichaltrigen amerikanischen Touristen, ins Gespräch gekommen. Der Rest ist Geschichte: Die beiden verliebten sich, verbrachten einen unvergesslichen Abend voller Gespräche in Wien und trafen sich neun Jahre später in Paris (Before Sunset, 2004) wieder.

Inzwischen sind weitere neun Jahre vergangen und die beiden sind den zankenden Österreichern ein kleines Stück näher gekommen. Jesse hat sich von seiner ersten Frau scheiden lassen und ist nach Paris zu Céline gezogen (geheiratet haben sie nicht), wo er das Leben eines erfolgreichen Schriftstellers geniesst, während sie für alternative Energie lobbyiert und eine Anstellung beim Staat anstrebt. Ihre Sommerferien verbringen sie mit ihren gemeinsamen Zwillingstöchtern sowie Hank, Jesses Sohn aus erster Ehe, auf dem Anwesen eines befreundeten Autors im Süden Griechenlands, wo sie sich ausgedehnten Diskursen und Debatten hingeben: Jesse sorgt sich darum, Hank nicht nahe genug zu stehen, derweil Céline befürchtet, in die USA umziehen und ihre Heimat und ihr geregeltes Leben aufgeben zu müssen.

18 Jahre nach ihrem ersten Treffen sehen sich Jesse (Ethan Hawke) und Céline (Julie Delpy) mit den Tücken des Beziehungsalltags konfrontiert.
© Rialto Film AG
Diese Gespräche über Vorstellungen von der gemeinsamen Zukunft ("If you're looking for true love, this is it") und verpasste Chancen, über den Stand der Liebe im digitalen Zeitalter und die Idee der ewigen Liebe gipfeln schliesslich in einem handfesten Streit, wie ihn die Before-Reihe noch nicht gesehen hat. Begonnen hat der Disput früh in Before Midnight, richtig bemerkbar macht er sich spätestens während eines Abendessens mit Freunden, wo jeder am Tisch seine Auffassung von wahrer Liebe vorträgt – und wo die Franchise dem gedanklichen Konstrukt erstmals gefährlich nahe kommt. Was folgt, erweist sich jedoch schnell als Höhepunkt aller drei Teile: Nach einem harmonischen Spaziergang durch die griechische Landschaft geraten Céline und Jesse aneinander; sie stehen in entgegengesetzten Ecken eines Hotelzimmers, getrennt durch den Schnitt – ein scharfer Kontrast zu jenen ungeschnittenen Dialogen, die sie führten, als sie tranceartig-entrückt durch Wien und Paris spazierten. Die Breitseiten schmerzen, der gallige Humor sticht; Ethan Hawke und Julie Delpy, welche ihre Figuren nach drei Filmen längst nicht mehr spielen, sondern leben, laufen zu Höchstform auf.

Kann die Liebe zwischen zwei Menschen Bestand haben, wenn sich diese in- und auswendig kennen? Überlebt sie den Alltag mit dessen zahlreichen und banalen Unannehmlichkeiten? Before Sunrise war ein euphorischer Aufsteller, Before Sunset ein scharfsinniges Psychogramm zweier Erwachsener am Scheideweg, Before Midnight ein virtuoses, in seiner ernüchternden Offenheit herzzerreissendes, aber keinesfalls hoffnungsloses Porträt zweier Menschen, die sich allen Widrigkeiten und Veränderungen zum Trotz zu lieben versuchen. Man darf gespannt sein über den Stand dieser Beziehung in weiteren neun Jahren. Missen möchte man einen Teil vier nicht.

★★★★★

Mittwoch, 12. Juni 2013

Der grosse Kanton

Der grosse Kanton, Viktor Giacobbos Versuch einer satirischen Dokumentation über die schweizerisch-deutschen Beziehungen vor dem Hintergrund von Fluglärm-Debatten und Steuer-CDs, lässt sich mit einer Szene zusammenfassen: FDP-Parteipräsident Philipp Müller äussert sich zu einem Thema, eine Fliege umschwirrt sein Gesicht, er unterbricht seine Ausführungen, um sie zu verjagen, bemerkt grinsend, das Insekt käme sicher auch aus Deutschland, und fügt, zum Interviewer Giacobbo gewandt, hinzu, er könne diesen Moment im fertigen Film verwenden, ihm sei das egal.

Sicher ist der Clip leidlich amüsant, doch er zeigt auch, wie fieberhaft sich Giacobbo darum bemüht, Lacher in sein Projekt einzubauen. Dass seine Prämisse – was wäre, wenn die Schweiz Deutschland als 27. Kanton eingliedern, aufnehmen oder annektieren würde? – solche nicht unbedingt von alleine mit sich bringt, macht sich an allen Ecken und Enden bemerkbar. Überflüssige Einspieler, von den deplatzierten, gestellten Szenen mit Darbietungen von Michael Finger und dem Chaostheater Oropax bis zu einer abstrusen Sirtaki-Archivaufnahme, sind in einem Masse vorhanden, welches offenlegt, dass Der grosse Kanton als drastisch gekürztes Fernsehspecial wahrscheinlich am besten funktioniert hätte.

Entsprechend weiss der Film vor allem dann zu unterhalten, wenn sich Giacobbo hinter der Kamera aufhält, Fotomontagen und hypothetische Statistiken auftischt und seine diversen prominenten Interviewpartner zu Wort kommen lässt. Obwohl sie praktisch alle die Idee für undurchführbar halten, akzeptieren sie das Gedankenexperiment mit unerwarteter akademischer Begeisterung. Deutsche Politiker wie Gregor Gysi, Joschka Fischer oder Frank-Walter Steinmeier – von Angela Merkels Kabinett bekundete offenbar nur Wolfgang Schäuble Interesse, entschied sich letzten Endes aber gegen einen Auftritt – beleuchten Aspekte wie neue Steuergesetzte, verlegte Hauptstädte und -orte und Sprachproblematiken; Bundesrätin Doris Leuthard wägt allfällige Auswirkungen auf Deutschlands EU-Verpflichtungen ab. Am anderen Ende des Spektrums steht hingegen etwa die Beteiligung von SVP-Nationalrätin Natalie Rickli, mit der Giacobbo nichts anzufangen weiss: Er überquert mit ihr die Grenze, fragt sie, wie sie sich fühle, und lässt sie nach ihrer erwartungsgemäss unspektakulären Antwort ("Normal") aus dem Film verschwinden.

Swiss – bald nicht mehr Miniatur? Viktor Giacobbo (rechts) mit Ständeratspräsident Filippo Lombardi in Melide.
© Vega Film
Insgesamt aber überwiegt die Zahl jener Mitwirkenden, welche fundiert und/oder humorvoll Auskunft geben. Zwar übertreiben Exponenten wie Philipp Müller oder Oskar Freysinger, dessen Chanson über den "Anschluss" des grossen deutschen Nachbarn schön gedichtet, aber doch auch ziemlich farblos daherkommt, ihr Bestreben, sich Giacobbos "satirischer" Befragungslinie anzupassen; während Elke Heidenreich primär durch ihr (gespieltes?) Unwissen über Schweizer Eigenheiten ("Fränkli") auffällt. Doch für jeden uninspirierten oder gezwungenen Beitrag findet sich ein Bonmot von Ständeratspräsident Filippo Lombardi, welcher mit seiner jovialen Attitüde ideale Wahlwerbung in eigener Sache betreibt, ein ironischer Kommentar vom SP-Vorsitzenden Christian Levrat oder eine kleine Perle aus dem Archiv des Schweizer Fernsehens.

Insofern fügt sich Der grosse Kanton nahtlos ins komödiantische Gesamtwerk Giacobbos ein: Gewisse Ideen greifen, andere scheitern – manchmal kläglich –, allzu viel ist abhängig von Stimmung und Qualität der Gäste; die Frage nach dem Realitätsbezug der Grundidee erübrigt sich rasch. Die scharfsinnigsten Beobachtungen sind denn auch nicht den wirtschaftlichen und politischen Schwergewichten vorbehalten, sondern dem Germanisten Peter von Matt, der mit klugem, klarsichtigem Witz dem Film zu sporadischem intellektuellem Niveau verhilft. Als substantiellster humoristischer Wert erweist sich indessen Gerhard Polt, der mit gehobenem Nonsens die Schweizer Geschichte uminterpretiert und der ganzen helvetisch-biederen Angelegenheit eine dringend benötigte Prise Surrealismus verleiht: "Geschichte ist wie Plastilin", so Polt. "Man kanns so formen oder so, aber es gibt halt Leute, die formen sie mehr so".

★★★

Dienstag, 11. Juni 2013

Nairobi Half Life

Im vergangenen Jahr hat Kenia einen wichtigen Schritt in Richtung einer international wettbewerbsfähigen Filmindustrie unternommen: Erstmals schickte die Regierung eine einheimische Produktion ins Rennen um den Oscar für den besten fremdsprachigen Film. Die Wahl fiel auf Nairobi Half Life, ein mitreissendes Thrillerdrama, welches neben den gesellschaftlichen Problemen Kenias auch vom Aufstieg des afrikanischen Kinos handelt.

Mwas hat einen Traum: Schauspieler möchte er werden, Kino- und Theaterzuschauer mit seinen Leistungen beeindrucken. Davon ist er allerdings noch weit entfernt: Noch lebt er mit seinen Eltern in einem Wellblech-Haus irgendwo auf dem kenianischen Land und verdient sich den Lebensunterhalt mit der Verhökerung illegaler DVD-Raubkopien. Hoch im Kurs stehen westliche Blockbuster wie Kill Bill oder 300, die er jeweils mit dramatischen Nachstellungen anzupreisen weiss. Seine Arbeit lebt von einer Technik, welche dem Kino Afrikas beileibe nicht fremd ist; so kennt etwa das nigerianische "Nollwood" Filme wie Titanic Battle – landesspezifische Neuinterpretationen bekannter Hollywood-Streifen, gedreht von Enthusiasten, die von der breiten Verfügbarkeit von Videokameras profitieren, wodurch sich nach und nach eine eigenständige nationale Filmkultur etabliert.

Dadurch erhält auch die Rolle des Kinos als Ort der Flucht eine neue Dimension. Mwas verkauft seine DVDs Arbeitslosen, Faulenzern und Halbkriminellen, die sich auf zwei Stunden Kintopp-Eskapismus freuen. Er selber hingegen sucht sein Heil in der realen Flucht; er will sich als Schauspieler beweisen, um seinen ärmlichen Verhältnissen, seinem alkoholkranken Vater, der perspektivlosen Provinz zu entkommen. So scheint Regisseur Tosh Gitonga sagen zu wollen, dass das Kino neben seiner Funktion als Unterhaltungsmedium im grösseren Zusammenhang auch ein Weg in eine bessere Zukunft sein könnte.

Dieser gestaltet sich für Mwas – von Joseph Wairimu mit dem Feuer eines Issiaka Kane (Yeelen) verkörpert – jedoch als schwierig: Kaum ist er dem Bus entstiegen, der ihn in die berüchtigte Hauptstadt Nairobi gefahren hat und welcher Erinnerungen an das Titel gebende Vehikel in Moussa Tourés Komödie TGV weckt, wird er ausgeraubt und kurz darauf irrtümlich verhaftet. Während seines Aufenthalts in einem schmutzigen, hoffnungslos überfüllten Gefängnis macht er den erfahrenen Strauchdieb Oti (Olwenya Maina) auf sich aufmerksam, der ihm rät, sich seiner Gang anzuschliessen, wenn er in Nairobi überleben will. Bald schon führt Mwas ein riskantes Doppelleben als Ersatzteildieb und -dealer und als Mitwirkender in einem gesellschaftskritischen, ironisch plakativen Theaterstück. Einzige Mitwisserin ist Otis einfühlsame Freundin, die Prostituierte Amina (Nancy Wanjiku Karanja).

Mwas (Joseph Wairimu) erreicht Nairobi.
© trigon-film
Das Thema von besagtem Bühnenstück ist die Wohlstandsschere, welche im Quasi-Schwellenland Kenia, wo mittlerweile "zehn Prozent der Bevölkerung 90 Prozent der Geldmittel kontrollieren", mehr denn je auseinander klafft. Im Ganzen mag Gitongas Fokus zwar auf Faktoren wie der grassierenden Polizei-Korruption liegen, doch auch abseits der Theaterbühne verweist er auf die diesbezüglichen Probleme, an welchen sein Heimatland leidet: In einer brillanten Kranaufnahme, die sich langsam von Mwas entfernt, bis dieser schliesslich völlig in der Menge verschwunden ist, zeigt er die in der Tropensonne funkelnden Glasfassaden der Hochhäuser im Zentrum von Nairobi – Banken, IT-Firmen, Einkaufspaläste, Fünf-Sterne-Hotels; derweil die Slums der Megastadt, welche malerische Namen wie Majengo, Matopeni oder Kibera tragen, nur durch Abwesenheit glänzen – ein sardonischer Verweis auf die von vielen Kenianern als gescheitert erachtete nationale Politik, welche in gewissen Fällen nicht einmal die Existenz eines Slums anerkennt.

Doch Gitonga lässt trotz dieses reichen Subtexts weder Erzählung noch Figuren aussen vor. Nairobi Half Life vermischt auf kuriose – aber äusserst effektive – Art und Weise die Coming-of-Age-Dramatik eines Billy Elliot mit der halbdokumentarischen Milieustudie von Tsotsi oder City of God; dem Film gelingt der heikle Wechsel zwischen amüsanten Charakter-Vignetten und wuchtigen Darstellungen brutaler Bandenkriege und sadistischer Slum-Polizisten mühelos. Dennoch wird es Gitongas Debüt leicht fallen, ein internationales Publikum für sich zu gewinnen, nicht zuletzt dank prominenter Produktionshilfe (Tom Tykwer) und einer bekömmlichen Dramaturgie (die dem Film keineswegs zum Vorwurf gemacht werden soll).

Aus Geldnot schliesst sich Mwas der Strassenbande von Oti (Olwenya Maina) an.
© trigon-film
Kenias Entwicklung in Richtung eines emanzipierten Exporteurs von hochkarätigem Weltkino hat allerdings erst gerade begonnen; Tosh Gitonga dürfte jedoch eine grosse Zukunft als führender Vertreter dieser Industrie vergönnt sein. Nairobi Half Life zeichnet sich nämlich neben seiner inhaltlichen Stärke auch durch eine stilsichere, visuell eindrückliche Regie aus; die in Zusammenarbeit mit Kameramann Christian Almesberger entstandenen Kompositionen sowie die sorgfältig ausgearbeitete Farbgebung (mitunter sind Anklänge an Mahamat Saleh-Haroun erkennbar) tragen erheblich zur Wirkung des Projekts bei. Nairobi Half Life endet mit tosendem Applaus für das Theaterstück, in welchem Mwas mitwirkt. In diesen kann man als Kinogänger guten Gewissens mit einstimmen.

★★★★

Donnerstag, 6. Juni 2013

Paradies: Glaube

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.


Nach seiner Abrechnung mit dem europäischen Sextourismus nimmt sich Ulrich Seidl im Mittelteil seiner nach den drei theologischen Tugenden benannten Paradies-Trilogie die Religion zur Brust: Glaube eckt mit der lakonisch-provokativen Darstellung einer katholischen Fundamentalistin an.

Während ihre Schwester in Kenia nach dem perfekten Liebesabenteuer sucht (siehe Paradies: Liebe), verbringt Anna Maria (Maria Hofstätter – hervorragend) ihren Sommerurlaub im heimischen Wien. Ihre freien Wochen nutzt die streng gläubige Katholikin zum Gebet, zur Selbstkasteiung und zur Missionierung aus Leidenschaft: "Ungläubigen" schenkt sie Rosenkränze und leiht ihnen Marienstatuen aus. Doch ihr Glaube wird mit der Rückkehr ihres seit zwei Jahren verschwundenen Ehemannes Nabil (Nabil Saleh – hervorragend), einem an den Rollstuhl gefesselten Muslim, auf eine harte Probe gestellt, pocht er doch auf seine Rolle als Herr des Hauses.

Dass ein derartiges Szenario irritiert, liegt auf der Hand; dass sich manche Kinogänger allzu hart angegangen fühlen, ist angesichts von Seidls vielschichtiger Provokation nicht überraschend. Wie schon Liebe wird auch Paradies: Glaube im Kino zu teils lautstarken Protesten von Seiten des Publikums führen. Niemals aber macht der Autor den Fehler, seine Figuren zu blossen Statthaltern ihrer Religionen zu degradieren; niemals verteufelt er sie. Für ihn sind Anna Maria und Nabil zwei verlorene, fehlgeleitete Seelen, welche das Heil im Glauben suchen, was ein harmonisches Zusammenleben letztlich verunmöglicht. Praktisch jede gemeinsame Szene der beiden endet in einem handfest geführten Konflikt; Zärtlichkeit, wenn sie denn stattfindet, hält nicht lange an. So wird der Kampf der Religionen zum gewöhnlichen Ehekrach uminterpretiert.

Der Fokus von Paradies: Glaube liegt indes eindeutig auf Anna Maria. Alte Protestschilder, Zeugnisse längst verlorener Schlachten ("Der Fernseher ist der grosse Verführer"), schmücken ihr Schlafzimmer. Anderswo prangen Ikonen und Kruzifixe in allen Grössen – eines davon wandert im kontroversesten (und unglaubwürdigsten) Moment des Films unter ihre Bettdecke. Zwar verzichtet Seidl, dessen Inszenierung sich wie gewohnt durch schnörkellose Geradlinigkeit und gnadenlose Direktheit auszeichnet, auf eine explizite Pathologisierung; doch es ist offensichtlich, dass Anna Marias Glaube gleichzeitig Symptom und Ventil tiefer liegender psychischer Probleme ist. Ihre Verehrung Jesu zeugt von unterdrückten sexuellen Fantasien und vielleicht sogar einer manisch-depressiven Störung. Religion, so Seidl, mag nicht grundsätzlich verrückt sein, doch sie bietet potentiell gefährdeten Menschen einen Zufluchtsort.

Eine Prüfung Gottes? Anna Maria (Maria Hofstätter) wird von der Rückkehr ihres verschwundenen Gatten (Nabil Saleh) überrascht.
© Praesens Film
In dieser Idee findet der Film durchaus Humor, etwa wenn seine Protagonistin an ein säkulares Rentnerpaar oder einen Messie gerät. Doch dass Seidl der Glaube einer nur scheinbar friedfertigen Wehr-Christin wie Anna Maria suspekt ist, zeigt seine Darstellung eines zunehmend irrelevanten Katholizismus, in dem die radikalen Strömungen wieder erstarken: Auf Annäherungsversuche des muslimischen Nabil reagiert Anna Maria mit Schlägen; mit ihrer Missionierung versucht sie, Immigranten für ihre Sache zu gewinnen; derweil sich ihr erzkonservativer Bet-Zirkel unter den Augen stummer Jesus- und Maria-Bildnisse auf nationalsozialistische Terminologie beruft ("Wir sind die Sturmtruppe der Kirche"). Kann die Welt vor dieser Religion noch gerettet werden?, scheint Seidl fragen zu wollen. Wäre das nicht ein Schritt in Richtung Paradies?

★★★★

Dienstag, 4. Juni 2013

Schlafkrankheit

Warnung: Diese Kritik verrät eine Plot-Wendung.

Kunst, wie auch Geschichtsschreibung, war lange Jahre etwas, was dem afrikanischen Kontinent zugefügt anstatt von ihm initiiert wurde. Selbst nach dem Niedergang der grossen Kolonialimperien und der Emanzipation der indigenen Kultur – etwa durch Autoren wie Chinua Achebe oder Filmemacher wie Ousmane Sembène – blieb der Afrikaner das Objekt, die Sehenswürdigkeit des kolonialistisch-imperialistisch geprägten Europäers. Ein Umdenken mag seither stattgefunden haben, doch noch immer scheint der westlich-abendländische Blick von einer Dichotomie beherrscht zu sein: Afrika ist entweder ein Ort der flächendeckenden humanitären Krise (Blood Diamond, Lord of War) oder ein anachronistisches, verwunschenes Eden (Out of Africa).

An diesem Punkt setzt Ulrich Köhler, ein wenig bekannter Vertreter der Berliner Schule, mit Schlafkrankheit an, seinem dritten Langspielfilm, für den er 2011 auf der Berlinale den Preis für die beste Regie verliehen bekam. Das postkolonial angehauchte Drama geht vom erfrischend nüchternen Standpunkt aus, dass auch auf dem schwarzen Kontinent der Alltag existiert, dass sich hinter den Nachrichten über politische Instabilität im Norden, unaufhörliche Gewalt im Süden und Armut in jeder Ecke ein Afrika verbirgt, in dem Menschen langweilige Büroberufe ausüben, China-Restaurants besuchen und aus den Radios die gleiche Musik schallt, wie sie auch in New York und London zu hören ist.

Trotzdem ist der Arzt Ebbo Velten (Pierre Bokma) immer noch begeistert von der "Ursprünglichkeit" seiner derzeitigen Heimat Kamerun. Dort wohnt er mit seiner Frau Vera (Jenny Schily) in der Hauptstadt Yaoundé und leitet ein Projekt zur Eindämmung der Schlafkrankheit, die angeblich in der Provinz grassiert. Mit seinen Kollegen versteht er sich blendend – obwohl ihm sein Freund, der Geschäftsmann Gaspard Signac (Hippolyte Girardot), ständig zweifelhafte Angebote unterbreitet –, sein Beruf fällt ihm leicht, er geniesst die Einfachheit des Lebens, die ihm sein Status in einem Entwicklungsland erlaubt. Doch das Glück hat nicht Bestand: Um näher bei der gemeinsamen Tochter zu sein, die in Deutschland ein Internat besucht, drängt Vera Ebbo dazu, nach Europa zurückzukehren, worzu er letztendlich schweren Herzens einwilligt.

Dieser erste Teil des Films lebt von seinem dezent ironischen Kommentar auf jene naive Romantik, von der Auswärtige jahrhundertelang ergriffen wurden, als sie erstmals ihren Fuss auf Afrika setzten. Schlafkrankheit beginnt als Darstellung eines Kolonialisten, Ebbo, der sich, wie Robert Redford in Out of Africa, an die Vorgänge im "eroberten" Land gewöhnt und sogar angepasst hat und sich kein Leben mehr ohne diese Eigenarten vorstellen kann. Wenn er nachts von bewaffneten Militärs angehalten wird, stutzt er nicht mehr; bieten sie ihm an, ihn gegen ein kleines Entgelt durchzuwinken, obwohl seine Tochter ihren Pass nicht finden kann, weigert er sich; schlussendlich handelt er sein Gegenüber, einen Hauptmann, darauf herunter, ihn in die Stadt mitzunehmen. Dem Zuschauer jedoch bleibt die Magie, die Ebbo in Kamerun zu sehen scheint, verborgen. Yaoundé ist eine Grossstadt wie jede andere: dichter Verkehr, Hochhäuser, reichere und ärmere Nachbarschaften.

Gefangen im Paradies: Dr. Ebbo Velten (Pierre Bokma) will seine Frau (Jenny Schily) davon überzeugen, in Kamerun zu bleiben.
© cineworx
Diesen Blick teilt auch Dr. Alex Nzila (Jean-Christophe Folly), ein kongolesischstämmiger Franzose, der drei Jahre später Ebbos Arbeit für die Weltgesundheitsorganisation evaluieren soll, in der entsprechenden Klinik aber keinen Dr. Velten, sondern nur eine einzige Schlafkrankheit-Patientin sowie eine hochschwangere Frau vorfindet, deren Wehen soeben eingesetzt haben. Anders als Ebbo, der es zumindest anfänglich geschafft hat, sich als weisser Mitteleuropäer im Herzen Afrikas zu integrieren, ist Alex überall ein Fremder: In Frankreich, dem Land, in dem er geboren und aufgewachsen ist, behandeln ihn Kollegen und Klienten wie eine Koryphäe für afrikanische Fragen; in Kamerun schlagen ihm antikongolesische Vorurteile und Spott gegen ihn als ahnungslosen französischen Touristen entgegen.

Wie Queer-Theoretiker fixe Geschlechtergrenzen anfechten, widersetzt sich Ulrich Köhler der Auffassung, geografisch-kulturelle Identitäten könnten klar definiert werden, besonders nach einem halben Jahrhundert postkolonialer Entwicklung. Im Bereich der Figurenkonstellation ist Schlafkrankheit ein spannendes Traktat über die trügerische Aussagekraft von Hautfarbe und Herkunft. Der homosexuelle, an die Annehmlichkeiten westlicher Industriestaaten gewöhnte Alex ist von der Laissez-faire-Attitüde seiner Gastgeber im kamerunischen Busch ebenso überfordert wie Ebbo im wohlgeordneten Europa.

Doch auch Velten ist drei Jahre nach seinem Entschluss, Afrika zu verlassen, auf dem harten Boden der Tatsachen gelandet. Frau und Tochter hat er in Deutschland zurückgelassen und durch eine neue Familie ersetzt – die schwangere Frau, die Alex erfolglos zu behandeln versucht, ist seine Frau, ihr schliesslich per Kaiserschnitt geborenes Kind sein Sohn. Sein blauäugiger Enthusiasmus für die afrikanische "Kolonie" ist dem Überdruss über die Forderungen seiner neuen Sippe gewichen. Das Schicksal des imperialistischen Romantikers (verewigt durch den Protagonisten aus William Somerset Maughams Kurzgeschichte The Force of Circumstance) hat nun auch ihn ereilt.

Der französische Arzt Dr. Alex Nzila (Jean-Christophe Folly) soll im kamerunischen Busch Ebbo Veltens Arbeit evaluieren.
© cineworx
Die einheimische Zweitfamilie bleibt indes nicht der einzige Topos kolonialer Literatur, auf welchen Köhler in seinem postkolonialen Kunstfilm eingeht: Am Ende lassen nämlich Ebbo und Alex die Zivilisation – erst Yaoundé, dann die leere Dschungelklinik – ganz hinter sich und fallen in die festgefügten Rollen der Imperialismus-Ära zurück. Sie begeben sich als weisse Pioniere auf die Jagd durch den afrikanischen Busch, wo sie beide auf ihre Weise mit dem immer noch geheimnisvollen, aber längst gezähmten Kontinent abschliessen. Die Entfremdung von Alex erreicht ihren Höhepunkt, als er eine einsame, unruhige Nacht am Lagerfeuer verbringt und danach das Land, vermutlich für immer, verschmutzt, verwirrt und im Wissen, dass ihn nichts mehr mit seinen Wurzeln verbindet, verlässt. Ebbo hingegen geht jenen Weg, der für so viele koloniale und postkoloniale Figuren – darunter den ikonischen Kurtz in Joseph Conrads Heart of Darkness – Apotheose und Verdammnis zugleich bedeutete: Er ergibt sich seiner neuen Umwelt und assimiliert sich ("going native"). Ebbo verschwindet Off-Screen in einem Strom, welchem kurz darauf ein Flusspferd entsteigt (ein Rückgriff auf eine Geschichte, die er zuvor erzählt hat).

Ob dies nun seinen Tod oder seine Metamorphose symbolisiert, lässt Köhler offen und entschliesst sich dazu, seinen ansonsten kühl-realistischen Film mit einem Stück unerklärtem Mystizismus enden zu lassen, wobei er sich an Regisseuren wie Apichatpong Weerasethakul oder Carlos Reygadas, Vorbildern der Berliner Schule, zu orientieren scheint. Anderweitig fehlt es Köhler aber an jedweder auktorialer Identität. Inhaltlich ist Schlafkrankheit zweifelsohne ein komplexes kleines Kunstwerk, das mit Versatzstücken klassischer (post-)kolonialer Literatur und einer tranceartigen Atmosphäre, welche in gewissen Momenten von ferne an Lynch und Antonioni erinnert, erst frustriert, dann intellektuell herausfordert – wenngleich bis zum Schluss unklar bleibt, worauf die rudimentäre Geschichte eigentlich hinaus will. Köhler zeigt ein reifes Afrika-Bild, weiss damit aber nicht allzu viel anzufangen, auch nicht auf der künstlerischen Ebene: Seine Vision ist von einer ärgerlichen Banalität, die dem Film jedes Leben entzieht. Um die Frustration Ebbos und Alex' zu unterstreichen, spielen sich gewisse Szenen quälend langsam ab. Blutleere Sequenz wird an blutleere Sequenz gereiht; die übergreifende Inszenierung lässt jeglichen Sinn für narrative Fantasie vermissen, wodurch Schlafkrankheit seinem Titel letzten Endes leider allzu gerecht wird.

★★