Donnerstag, 28. Februar 2013

Les Misérables

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.


Die 1980 uraufgeführte Bühnenbearbeitung von Victor Hugos historischem Epos Les Misérables gehört zu den erfolgreichsten Musicals aller Zeiten. Nun wurde das weltweite Phänomen im grossen Stil verfilmt. Herausgekommen ist ein langfädiges Edel-Singspiel.

Frankreich, 1815: Fast 20 Jahre hat Jean Valjean (der beherzte Hugh Jackman) wegen eines geringfügigen Diebstahls im Straflager verbracht. Auch nach seiner Begnadigung wird er seines Lebens nicht froh: Staat und Gesellschaft verstossen den Verurteilten. Als er eines Nachts einen gutmütigen Bischof bestiehlt, erhebt dieser keine Anklage und bewahrt ihn so vor einer erneuten Gefängnisstrafe. Inspiriert von diesem Akt der Barmherzigkeit, schwört sich Jean, fortan ein ehrliches Leben zu führen. Dieses ist ihm unter neuem Namen in einer neuen Stadt vergönnt, wo er binnen acht Jahren zum reichen Unternehmer und Bürgermeister aufsteigt. Als solcher hilft er der sterbenden Fantine (eine masslos theatralische Anne Hathaway) und adoptiert deren uneheliche Tochter Cosette. Durch das plötzliche Auftauchen seines alten Gefängniswärters Javert (Russell Crowe) sieht sich Valjean jedoch gezwungen, mit dem Mädchen nach Paris zu fliehen. 1832 sammeln sich dort die Studenten zur Junirevolte, unter ihnen der junge Marius (Eddie Redmayne), der sich in Cosette (Amanda Seyfried) verliebt.

Eines der grundlegenden Probleme des Musical-Genres ist der Einfluss, den spontane Gesangseinlagen auf den Fluss einer Geschichte ausüben. Fängt eine Figur an, opernhaft ihre Gefühle und Gedanken singend zu äussern, steht die Dramaturgie still. Entsprechend überraschend ist es, dass Les Misérables diese Schwierigkeit mühelos überwindet. Indem sich Regisseur Tom Hooper (The King's Speech) an das originale Konzept des Musicals von Alain Boublil, Claude-Michel Schönberg und Herbert Kretzmer – alle drei wirkten auch am Drehbuch mit – hält und überwiegend auf gesprochenen Dialog verzichtet, wird der Gesang zum narrativen Medium, wodurch die Handlung gar nicht erst unterbrochen werden kann.

Spiel mir das Lied vom Tod: Der Ex-Sträfling Jean Valjean (Hugh Jackman) versucht vergeblich, die arme Fantine (Anne Hathaway) zu retten.
Doch bekanntlich hat jede Medaille zwei Seiten. Während der Erzählfluss zwar davon profitiert, dass sich die Darsteller mittels – mitunter arg gestelztem – Sprechgesang austauschen, verliert die Victor Hugos Geschichte innewohnende Tragödie jegliche Geltung. Wenn Fantine im internationalen Hitsong "I Dreamed a Dream" von ihrem Elend singt, dann täuschen weder ihre schrille Alt-Stimme noch ihre prominent in Szene gesetzten Tränen über die offenkundige Künstlichkeit der Szene hinweg; die Emotion wirkt zu unecht, um wirklich zu bewegen.

An diesem Manko scheitert letztlich der ganze Film. Als nach rund der Hälfte der Laufzeit (geschlagene 158 Minuten) die Exposition endgültig abgeschlossen ist, stellt sich Langeweile ein. Die Handlung verlagert sich von Valjean und Javert auf die eher eindimensionalen Figuren Marius und Cosette; das oberflächliche Charakterdrama macht einer schleppenden Kriegsromanze Platz, in der Politisches wie Privates stets uninteressant bleibt. Einzig die opulenten Designs von Ausstattung und Kostümen vermögen in der zweiten Hälfte zu erfreuen, obgleich ihr Wert unter Danny Cohens unausgeglichener Kameraarbeit leidet. Ist die ganze Chose schliesslich zu Ende, bleibt die Erkenntnis, dass die Tragödie als Filmmusical einfach schlecht funktioniert (anders als die Oper in der Künstlichkeit der Bühnenwelt). Wie definierte doch Donald O'Connor in Singin' in the Rain einst die Aufgabe des Genres? "Make 'em laugh!".

★★

Mittwoch, 27. Februar 2013

Schweizer Kino und Kultur-Skepsis


"Hand aufs Herz! Kennen Sie die folgenden Filme? 

- Il Comandante e la cicogna
- Opération Libertad
- Rosie
- Sister 
- Verliebte Feinde
 
Nein? Dann sind Sie nicht allein. Oder kennen Sie diese Stars:

- Sibylle Brunner, Mona Petri, Sabine Timoteo? 
- Fabian Krüger und Kacey Mottet Klein?
 
Nein? Dann werden Sie sich wundern: Das sind die Nominierten für den Schweizer Filmpreis 2013. Der am 23. März in Genf vergeben wird. Wieder mal pseudointellektuelle Inzucht. So kommt der CH-Film nie aus seiner Krise."

Dieser Beitrag stammt aus der Feder von Helmut-Maria Glogger, erschienen im heutigen Blick am Abend. Es fallen bereits auf den ersten Blick mehrere Probleme ins Auge – selbst wenn vom allgemeinen Tonfall abgesehen wird: So steht etwa zu bezweifeln, dass allzu viele Leser, die Frage, ob sie L'enfant d'en haut (Sister) kennen, mit Nein beantworten werden, war doch der Film im vergangenen Jahr in aller Munde, sei es wegen des Silbernen Bären, den er erhalten hat, wegen der César-Nomination von Kacey Mottet Klein, seines Zeichens bereits ein Gewinner des Schweizer Filmpreises, oder aufgrund der Tatsache, dass der Film es bis unter die letzten neun Kandidaten für den Fremdsprachen-Oscar geschafft hat, eine Ehre, die seit 2006 und Fredi M. Murers Vitus keinem Schweizer Film mehr zuteil geworden war. Auch erscheint die Benutzung des Wortes "Stars" ein wenig fehl am Platze, wenn man sich darüber echauffiert, keinen der genannten Namen zu kennen.

L'enfant d'en haut
Nun könnte man sich fragen, warum man sich überhaupt mit einem derartigen Text näher befassen sollte. Nicht nur zeugt er von einer Armut an anderen Themen, die seinem Autor augenscheinlich zu schaffen machte; die Tatsache, dass er von Helmut-Maria Glogger verfasst wurde, dessen Populismus schon längst zur peinlichen Selbstkarikatur verkommen ist, sowie der boulevardeske Kontext, in dem er veröffentlicht wurde, scheint ihn von seriöser Analyse zu disqualifizieren.

Doch in einem Land wie der Schweiz, einem Land, in dem der Wert eines Studiums an seinem ökonomischen Nutzen gemessen wird, einem Land, in dem, so scheint es, viele Formen der Kunst und Kultur, seien sie nun "alternativer" Natur oder nicht, gegen ein tief sitzendes öffentliches Misstrauen zu kämpfen haben ("Und dafür zahlen wir Steuern!"), gibt ein Text wie dieser doch sehr zu denken. Seine Publikation, die von den Blick am Abend-Oberen abgesegnet worden sein muss, legt nahe, dass diese Meinung – wie auch die Art und Weise ihrer Äusserung –, wenn nicht mehrheits-, dann wenigstens salonfähig ist.

Opération Libertad
Das Schlüsselwort lautet dabei "pseudointellektuell", wobei die Vorsilbe im Grunde gar nicht nötig wäre. Selbst wenn Herr Glogger die für den Preis nominierten Filme – über deren Existenz er nach eigener Angabe ja offensichtlich nicht informiert war, wonach sein abgedrucktes, zehntausendfach zirkuliertes Urteil vermutlich auf einer kurzen Google-Suche basiert (was dies über die zweitgrösste Schweizer Gratiszeitung aussagt, soll hier wohlwollend ausgeklammert werden) – lediglich als "intellektuell" bezeichnet hätte, hätte dies dennoch einen pejorativen Anklang gehabt. Intellektuell, ob mit oder ohne griechisches Präfix, das ist, wie man es seinen Blick am Abend-Exkursen jeweils entnehmen kann, gleichbedeutend mit elitär, akademisch, mit ideologischem Subtext aufgeladen, wenig gesehen, nicht unterhaltsam, im Zweifel links ("Unterhaltung raus, SP-Politik rein", war sein Verdikt während der Kontroverse um den ersten Luzerner Tatort) – verwandt mit dem von Roger Köppel einst eingehend beschriebenen "Scheissfilm". Es ist spürbar, dass sich Herr Glogger seiner Sache sicher ist und der Meinung ist, mit seinen Stammtisch-Parolen dem Gros seiner Leser aus dem Herzen zu sprechen. Ob dies nun zutrifft oder nicht, Tatsache ist, dass sein Vertrauen in die oben angesprochene Schweizer Kultur-Skepsis bedenklich gross ist.

In einem Punkt liegt die Kolumne allerdings vollkommen richtig: Das Schweizer Kino ist in einer Krise. Die grossen Zeiten von ernsthaften Künstlern wie Franz Schnyder, Leopold Lindtberg, Michel Soutter, Kurt Gloor, Alain Tanner oder Claude Goretta sind längst vorbei, die erfolgreicheren Produktionen der letzten Jahre (Grounding, Mein Name ist Eugen, Die Herbstzeitlosen, Giochi d'estate) können bestenfalls leidlich überzeugen und selbst die qualitativ hochstehenderen Erzeugnisse der Industrie (Sternenberg, Happy New Year, Stationspiraten) werden ausnahmslos durch überbeanspruchte cineastische Helvetismen getrübt. Dass sich der Geschmack der breiten Masse in Richtung der "dokumentarischen" Darstellung einer schamlos romantisierten Schweiz bewegt (Die Kinder vom Napf, Alpsegen), verbessert die Situation beileibe nicht.

Verliebte Feinde
Die Kritiker dieses neuen Schweizer Kinos, die im vergangenen Jahr Filme wie Nachtlärm oder Das Missen Massaker – das neueste Werk des gerne als grosse Hoffnung für die nahe Zukunft bezeichneten Michael Steiner – erleiden mussten, werden angesichts der Nominationen für den Schweizer Filmpreis aufatmen: Verliebte Feinde behandelt am Beispiel der Iris von Roten den in den Fünfzigerjahren aufkeimenden Feminismus; Opération Libertad spinnt ein Stück Schweizer Zeitgeschichte weiter; L'enfant d'en haut erzählt in der Tradition von Chabrol, Truffaut und Murer von den sozialen Ungleichheiten im modernen Europa – um nur drei der fünf Filme zu nennen. Intellektuell? Ja – und zwar im Sinne von intelligent, durchdacht und würdevoll.

Doch während wohl die meisten Kritiker den Stil einer Ursula Meier als grösste Zukunftshoffnung des nationalen Filmschaffens betrachten, glaubt Glogger, gerade darin dessen endgültigen Untergang zu erkennen. Der beschränkte Platz seiner Plattform erlaubt es ihm aber nicht, näher auf den von ihm gewünschten Gegenentwurf einzugehen, wobei bezweifelt werden darf, dass er einen solchen zur Hand hat. Und auch hier zeigt sich die traurige Salonfähigkeit der Schweizer Kultur-Skepsis (auch Antiintellektualismus würde passen): Sich mit einer Sache zu befassen, ist keine Voraussetzung dafür, gegen sie zu Felde zu ziehen und sie als "pseudointellektuelle Inzucht" zu diffamieren. Nachdenklich sollte einen dies schon stimmen.

Montag, 25. Februar 2013

Oscars 2013


Bester Film: Argo
Beste Regie: Ang Lee – Life of Pi
Bester Hauptdarsteller: Daniel Day-Lewis – Lincoln
Beste Hauptdarstellerin: Jennifer Lawrence – Silver Linings Playbook
Bester Nebendarsteller: Christoph Waltz – Django Unchained
Beste Nebendarstellerin: Anne Hathaway – Les Misérables
Bestes Originaldrehbuch: Quentin Tarantino – Django Unchained
Bestes adaptiertes Drehbuch: Chris Terrio – Argo
Bester fremdsprachiger Film: Amour (Österreich)
Bester Animationsfilm: Brave
Beste Dokumentation: Searching for Sugar Man
Beste Kamera: Claudio Miranda – Life of Pi
Beste Ausstattung: Lincoln
Beste Kostüme: Anna Karenina
Bestes Makeup: Les Misérables
Bester Schnitt: Argo
Beste Effekte: Life of Pi
Beste Filmmusik: Mychael Danna – Life of Pi
Bester Song: "Skyfall" (Adele, Paul Epworth) – Skyfall
Bester Ton: Les Misérables
Bester Tonschnitt: Skyfall und Zero Dark Thirty
Bester Kurzfilm: Curfew
Bester animierter Kurzfilm: Paperman
Beste Kurzdokumentation: Inocente

Sonntag, 24. Februar 2013

Oscars 2013: Die Prognosen


Zum 85. Mal werden heute in Los Angeles die Academy Awards verliehen. Und wie immer besteht die Freude an "Hollywood's Big Night" nicht ausschliesslich darin, stumm die Entscheidungen der AMPAS entgegen zu nehmen; das Prognostizieren der einzelnen Kategorien gehört ebenso zur schönen Oscar-Tradition des Filmkritikers.

Best Picture
  • Amour
  • Argo
  • Beasts of the Southern Wild
  • Django Unchained
  • Life of Pi
  • Lincoln
  • Les Misérables
  • Silver Linings Playbook
  • Zero Dark Thirty

Prognose: Argo
Alternative: Lincoln
Präferenz: 1. Amour, 2. Zero Dark Thirty, 3. Argo, 4. Life of Pi, 5. Lincoln, 6. Silver Linings Playbook, 7. Beasts of the Southern Wild, 8. Django Unchained, 9. Les Misérables

–––

Best Director
  • Michael Haneke – Amour
  • Ang Lee – Life of Pi
  • David O. Russell – Silver Linings Playbook
  • Steven Spielberg – Lincoln
  • Benh Zeitlin – Beasts of the Southern Wild

Prognose: Steven Spielberg
Alternative: Ang Lee
Präferenz: 1. Michael Haneke, 2. David O. Russell, 3. Ang Lee, 4. Steven Spielberg, 5. Benh Zeitlin

–––

Best Actor in a Leading Role
  • Bradley Cooper – Silver Linings Playbook
  • Daniel Day-Lewis – Lincoln
  • Hugh Jackman – Les Misérables
  • Joaquin Phoenix – The Master
  • Denzel Washington – Flight

Prognose: Daniel Day-Lewis
Alternative: Hugh Jackman
Präferenz: 1. Daniel Day-Lewis, 2. Bradley Cooper, 3. Denzel Washington, 4. Hugh Jackman, 5. Joaquin Phoenix

–––

Best Actress in a Leading Role
  • Jessica Chastain – Zero Dark Thirty
  • Jennifer Lawrence – Silver Linings Playbook
  • Emmanuelle Riva – Amour
  • Quvenzhané Wallis – Beasts of the Southern Wild
  • Naomi Watts – The Impossible

Prognose: Jennifer Lawrence
Alternative: Emmanuelle Riva
Präferenz: 1. Emmanuelle Riva, 2. Jennifer Lawrence, 3. Quvenzhané Wallis, 4. Jessica Chastain, N/A: Naomi Watts

–––

Best Actor in a Supporting Role
  • Alan Arkin – Argo
  • Robert De Niro – Silver Linings Playbook
  • Philip Seymour Hoffman – The Master
  • Tommy Lee Jones – Lincoln
  • Christoph Waltz – Django Unchained

Prognose: Tommy Lee Jones
Alternative: Christoph Waltz
Präferenz: 1. Robert De Niro, 2. Tommy Lee Jones, 3. Christoph Waltz, 4. Alan Arkin, 5. Philip Seymour Hoffman

–––

Best Actress in a Supporting Role
  • Amy Adams – The Master
  • Sally Field – Lincoln
  • Anne Hathaway – Les Misérables
  • Helen Hunt – The Sessions
  • Jacki Weaver – Silver Linings Playbook

Prognose: Anne Hathaway
Alternative: Sally Field
Präferenz: 1. Jacki Weaver, 2. Helen Hunt, 3. Amy Adams, 4. Sally Field, 5. Anne Hathaway

–––

Best Original Screenplay
  • Wes Anderson, Roman Coppola – Moonrise Kingdom
  • Mark Boal – Zero Dark Thirty
  • John Gatins – Flight
  • Michael Haneke – Amour
  • Quentin Tarantino – Django Unchained

Prognose: Quentin Tarantino
Alternative: Michael Haneke
Präferenz: 1. Michael Haneke, 2. Wes Anderson, Roman Coppola, 3. Mark Boal, 4. Quentin Tarantino, 5. John Gatins

–––

Best Adapted Screenplay
  • Lucy Alibar, Benh Zeitlin – Beasts of the Southern Wild
  • Tony Kushner – Lincoln
  • David Magee – Life of Pi
  • David O. Russell – Silver Linings Playbook
  • Chris Terrio – Argo

Prognose: Chris Terrio
Alternative: Tony Kushner
Präferenz: 1. David O. Russell, 2. Chris Terrio, 3. David Magee, 4. Tony Kushner, 5. Lucy Alibar, Benh Zeitlin

–––

Best Foreign Language Film
  • Amour (Österreich)
  • Kon-Tiki (Norwegen)
  • No (Chile)
  • A Royal Affair (Dänemark)
  • War Witch (Kanada) 

Prognose: Amour
Alternative: Kon-Tiki
Präferenz: Amour

–––

Best Animated Feature Film
  • Brave
  • Frankenweenie
  • ParaNorman
  • The Pirates! In an Adventure with Scientists
  • Wreck-It Ralph

Prognose: Wreck-It Ralph
Alternative: Frankenweenie
Präferenz: N/A

–––

Best Documentary Feature
  • 5 Broken Cameras
  • The Gatekeepers
  • How to Survive a Plague
  • The Invisible War
  • Searching for Sugar Man

Prognose: Searching for Sugar Man
Alternative: The Invisible War
Präferenz: N/A

–––

Best Cinematography
  • Roger Deakins – Skyfall
  • Janusz Kamiński Lincoln
  • Seamus McGarvey – Anna Karenina
  • Claudio Miranda – Life of Pi
  • Robert Richardson – Django Unchained

Prognose: Roger Deakins
Alternative: Claudio Miranda
Präferenz: 1. Claudio Miranda, 2. Janusz Kamiński, 3. Roger Deakins, 4. Robert Richardson, N/A: Seamus McGarvey

–––

Best Production Design
  • Anna Karenina
  • The Hobbit: An Unexpected Journey
  • Life of Pi
  • Lincoln
  • Les Misérables

Prognose: Life of Pi
Alternative: Lincoln
Präferenz: 1. Life of Pi, 2. Lincoln, 3. Les Misérables, 4. The Hobbit: An Unexpected Journey, N/A: Anna Karenina

–––

Best Costume Design
  • Anna Karenina
  • Lincoln
  • Mirror Mirror
  • Les Misérables
  • Snow White and the Huntsman

Prognose: Anna Karenina
Alternative: Les Misérables
Präferenz: Lincoln

–––

Best Makeup and Hairstyling
  • Hitchcock
  • The Hobbit: An Unexpected Journey
  • Les Misérables

Prognose: Les Misérables
Alternative: The Hobbit: An Unexpected Journey
Präferenz: The Hobbit: An Unexpected Journey

–––

Best Editing
  • Argo – William Goldenberg
  • Life of Pi – Tim Squyres
  • Lincoln – Michael Kahn
  • Silver Linings Playbook – Jay Cassidy, Crispin Struthers
  • Zero Dark Thirty – Dylan Tichenor, William Goldenberg

Prognose: Argo
Alternative: Zero Dark Thirty
Präferenz: 1. Silver Linings Playbook, 2. Zero Dark Thirty, 3. Argo, 4. Life of Pi, 5. Lincoln

–––

Best Visual Effects
  • The Avengers
  • The Hobbit: An Unexpected Journey
  • Life of Pi
  • Prometheus
  • Snow White and the Huntsman

Prognose: Life of Pi
Alternative: The Avengers
Präferenz: 1. Life of Pi, 2. The Avengers, 3. Prometheus, 4. The Hobbit: An Unexpected Journey, N/A: Snow White and the Huntsman

–––

Best Original Score
  • Mychael Danna – Life of Pi
  • Alexandre Desplat – Argo
  • Dario Marianelli – Anna Karenina
  • Thomas Newman – Skyfall
  • John Williams – Lincoln

Prognose: Mychael Danna
Alternative: John Williams
Präferenz: 1. Mychael Danna, 2. John Williams, 3. Alexandre Desplat, 4. Thomas Newman, N/A: Dario Marianelli

–––

Best Original Song
  • Chasing Ice – "Before My Time" (J. Ralph)
  • Life of Pi – "Pi's Lullaby" (Mychael Danna, Bombay Jayashri)
  • Les Misérables – "Suddenly" (Claude-Michel Schönberg, Alain Boublil, Herbert Kretzmer)
  • Skyfall – "Skyfall" (Adele, Paul Epworth)
  • Ted – "Everybody Needs a Best Friend" (Walter Murphy, Seth MacFarlane)

Prognose: "Skyfall"
Alternative: "Pi's Lullaby"
Präferenz: "Skyfall"

–––

Best Sound Mixing
  • Argo
  • Life of Pi
  • Lincoln
  • Les Misérables
  • Skyfall

Prognose: Les Misérables
Alternative: Skyfall
Präferenz: Life of Pi

–––

Best Sound Editing
  • Argo
  • Django Unchained
  • Life of Pi
  • Skyfall
  • Zero Dark Thirty

Prognose: Life of Pi
Alternative: Skyfall
Präferenz: Zero Dark Thirty

–––

Best Short Film, Live Action
  • Asad
  • Buzkashi Boys
  • Curfew
  • Death of a Shadow
  • Henry

Prognose: Curfew
Alternative: Asad
Präferenz: N/A

–––

Best Short Film, Animated
  • Adam and Dog
  • Fresh Guacamole
  • Head Over Heels
  • Maggie Simpson in "The Longest Daycare"
  • Paperman

Prognose: Paperman
Alternative: Adam and Dog
Präferenz: Maggie Simpson in "The Longest Daycare"

–––

Best Documentary, Short Subject
  • Inocente
  • Kings Point
  • Mondays at Racine
  • Open Heart
  • Redemption

Prognose: Inocente
Alternative: Mondays at Racine
Präferenz: N/A

Donnerstag, 21. Februar 2013

The Master

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Sprechen Kritiker von Paul Thomas Anderson, schreiben sie ihm gerne die Rolle des grossen amerikanischen Autoren zu, des cineastischen Erben von Twain, Fitzgerald und Faulkner. The Master, der neue Film des Regisseurs, zeigt einmal mehr, dass in diesen Vergleichen prätentiöses Auteurkino mit grosser Kunst verwechselt wird.

USA, 1950: Der psychisch labile Weltkriegsveteran Freddie Quell (Joaquin Phoenix) versucht vergebens, sein Leben in geregelte Bahnen zu lenken. Ziellos irrt er durchs Land, wobei ihm seine Wutausbrüche und Alkohol-Eskapaden Stelle um Stelle kosten. Eines Abends findet er sich auf der Jacht des charismatischen Autoren Lancaster Dodd (Philip Seymour Hoffman) wieder, der ihn zu einer Schifffahrt von San Francisco nach New York einlädt. Dodd führt zusammen mit seiner Frau Peggy (Amy Adams) die esoterische Gruppierung "The Cause", deren Mitglieder in Gesprächstherapien vergangene Leben aufarbeiten und sich dadurch angeblich von Traumata befreien. Freddie ist fasziniert von Dodd, genannt "Master", der wiederum Gefallen am rast- und ruhelosen Herumtreiber findet und ihn unter seine Fittiche nimmt.

Der 2012 verstorbene Filmkritiker Andrew Sarris prägte in seinem grossen Werk The American Cinema, einer Evaluierung der Regisseure, die das US-Kino mitgestaltet haben, den Begriff "Strained Seriousness". Dieser, so Sarris, umschreibe "talentierte, aber unstete Regisseure, die der Todsünde der Anmassung verfallen sind". Ihre Filme seien "ambitioniert", würden aber ihre Grösse nicht durch wahres Wachstum, sondern durch künstliches Aufblähen erreichen. Auf kaum einen zeitgenössischen Regisseur passt diese Beschreibung besser als auf Paul Thomas Anderson. Während Werke wie Boogie Nights oder Magnolia dank eines reichen Fundus an illustren, manchmal sogar sympathischen Figuren überzeugen konnten, fallierte There Will Be Blood wegen seiner Gefühlskälte und der hemmungslos chargierenden Darsteller (vorab Daniel Day-Lewis und Paul Dano). The Master scheitert aus nämlichen Gründen.

Auch hier verfolgt Anderson seinen Stil, die Narration nach der Hälfte der Laufzeit mehr oder minder enden zu lassen und seine Figuren im von ihm geschaffenen Handlungsrahmen treiben und miteinander interagieren zu lassen. Dass dies funktionieren kann, hat die Filmgeschichte zur Genüge bewiesen; doch The Master fehlen die emotionale Zugkraft und die Dringlichkeit des Themas, welches die Biografien John Steinbecks, Jason Robards' und des Scientology-Gründers L. Ron Hubbard in sich vereint. Der Film ist ein schwergewichtiges, statisches Monstrum, in dem sich bedeutungsschwangere Bilder und Szenen scheinbar willkürlich mit alltäglichen Belanglosigkeiten abwechseln.

Meister und Jünger: Freddie Quell (Joaquin Phoenix, rechts) findet Halt in der esoterischen Sekte von Lancaster Dodd (Philip Seymour Hoffman).
Getragen wird das Ganze von zwei höchst unterschiedlichen Darbietungen, deren schiere Wucht die ohnehin schon skizzenhaften Nebenfiguren endgültig zur Staffage degradieren. Auf der einen Seite steht der hervorragende Philip Seymour Hoffman, stets eine dominante Leinwandpräsenz, der das zwielichtige Enigma des Lancaster Dodd punktgenau interpretiert. Ihm gegenüber agiert Joaquin Phoenix, dessen Manierismen ein Paradebeispiel für die berüchtigten Auswüchse der Schauspielmethode nach Stanislavski und Strasberg sind: Phoenix schreit, lallt und verzieht sein Gesicht im Glauben, so die Figur Freddie Quell konturenreicher darstellen zu können. Tatsächlich aber wirkt dieses frenetische Gebärdenspiel bestenfalls aufgesetzt, mitunter geradezu lachhaft.

Die wahre Tragödie dieses mängelbehafteten cineastischen Kunsthandwerks besteht darin, dass es den reichen Subtext von The Master überschattet. So wie Terrence Malick in seinen Epen den Weg der Natur dem der Gnade gegenüberstellt, so prallen hier zwei Menschenbilder aufeinander. Der wilde, unberechenbare Freddie vertritt jene animalische Seite des Menschen, welche "The Cause" auszurotten versucht. Der Scharlatan Dodd hingegen brüstet sich damit, in höheren Sphären zu schweben. Freddies triebgesteuerter Lebensentwurf bewegt sich demnach näher an der Wirklichkeit als Lancasters religionsorientierter, der leblosen Objekten eine grössere Bedeutung andichtet – auch der Meister ist nur ein Sklave. Frei ist, wer sich darauf einlässt. Kein Zweifel, The Master hat etwas zu sagen, doch Paul Thomas Andersons Prätention hindert ihn daran, sein Potential zu erfüllen.

★★

Sonntag, 17. Februar 2013

Post Tenebras Lux

Der Mexikaner Carlos Reygadas gehört zu den populärsten Vertretern des radikal kontemplativen und assoziativen Weltkinos. Seine Filme experimentieren mit gesellschaftlichen Tabus, Sehgewohnheiten, mitunter auch den Grenzen des guten Geschmacks. Post Tenebras Lux, sein erster Film seit 2007, ein enigmatisches, minimalistisches Impressionismus-Kunstwerk, überspannt den Bogen.

Juan (Adolfo Jiménez Castro) und Natalia (Nathalia Acevedo) leben mit ihren gemeinsamen Kindern Rut (Rut Reygadas) und Eleazar (Eleazar Reygadas) auf einem wohnlichen Anwesen in den mexikanischen Wäldern. Doch das Ehepaar hat seit geraumer Zeit mit Problemen zu kämpfen: Während er sich Abend für Abend Pornografie aus dem Internet herunterlädt, hat sie die Lust am Sex verloren. Auch ein Besuch in einem belgischen Swingerclub erweist sich als wenig hilfreich. Derweil wird der Faulpelz Seven (Willebaldo Torres) beauftragt, einen grossen Baum zu fällen, da der angeblich den Boden verseucht, indem er mit dem ihm umgebenden Geäst intime Beziehungen unterhält. Um sein langweiliges Leben etwas aufregender zu gestalten, beschliesst Seven, das Haus von Juan und Natalia auszuräumen.

Bestünde Post Tenebras Lux nur aus seinen ersten beiden Sequenzen, dann wäre Carlos Reygadas' Nachfolgewerk zum plautdietschen Drama Silent Light (Original: Stellet Lijcht) ein Meisterwerk surrealer Auteur-Vision. Der Film beginnt mit der kleinen Rut Reygadas, die, umgeben von Hunden, Kühen und Eseln, in der Abenddämmerung über ein weitläufiges Feld in der mexikanischen Pampa rennt. Am Horizont sammeln sich Wolken, das Mädchen ruft nach seiner Familie, während sich Alexis Zabés Kamera, ähnlich derjenigen Emmanuel Lubezkis (The Tree of Life), scheinbar schwerelos durch das Geschehen bewegt und die auch im weiteren Verlauf benutzte, den Bildrand verzerrende Doppellinse Menschen und Gegenstände kubistisch verdoppelt. In diesen ersten zehn Minuten entwirft Reygadas eine rohe, archaische Welt, die, von Kinderaugen betrachtet, eine entrückte, poetische Dimension erhält.

Als anschliessend der Sturm losbricht und nur noch Blitze die Finsternis erhellen, wird der Filmtitel Wort für Wort eingeblendet – "Post tenebras lux" bedeutet "Licht nach der Dunkelheit" – und der Zuschauer findet sich in einer abgedunkelten Wohnung wieder, die plötzlich von Licht erfüllt wird: Eine schemenhafte, neonrot leuchtende Teufelsgestalt, komplett mit Ziegenkopf und -beinen, tritt durch die Tür, einen Werkzeugkasten in der Hand. Es ist eine Szene, die sich jeglicher rationalen Erklärung entzieht und damit zur freien Assoziation einlädt. Der CGI-Beelzebub ist dermassen grotesk, dass es fast unmöglich ist, davon nicht fasziniert zu sein. In bester surrealistischer Tradition fordert Reygadas sein Publikum mit einem Bild heraus, das es in dieser Form noch nie zu Gesicht bekommen hat. Vage erinnert die Figur in ihren linkischen Bewegungen an den Auftritt des Affenmenschen Boonsong (Jeerasak Kulhong) im thailändischen Film Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives.

Im Swingerclub versucht Natalia (Nathalia Acevedo), die Freude am Sex wieder zu finden.
Solche Momente, in denen Reygadas sich auf das bizarre Genie eines Apichatpong Weerasethakul oder die Tradition des "Dritten Kinos" nach Glauber Rocha (Antônio das Mortes) beruft, sind es, die aus Post Tenebras Lux herausstechen. Vereinzelte Einstellungen und Kompositionen sind komplexe kleine Kunstwerke; andere provozieren und attackieren die Sinne. Insgesamt aber greifen diese Elemente nicht ineinander. Handlung und Subtext schweben frei im Raum, ohne greifbare Bezugspunkte. Der philosophische Kern des Films bleibt ebenso nebulös wie die Konflikte der Protagonisten. Sind die ersten zehn Minuten noch Ausdruck künstlerischer Vision, dann führt das, was folgt, zum Tod derselben.

Reygadas klammert sich an Strohhalme, die weder die Emotionen noch den Intellekt zu befriedigen vermögen: Mal scheint er die menschliche Obsession mit der Selbstfindung zu thematisieren; mal erforscht er die Omnipräsenz des Sexuellen; dann wieder kehrt er zum Ursprung zurück und zeigt die Welt vom Standpunkt eines Kindes aus. Die wohl greifbarste Idee inmitten dieser Ansammlung von abstrakten Ansätzen ist in einer Verschaltung zweier Szenen zu finden und handelt sprechenderweise von der Natur der narrativen Geschichte: Während Rut nach einem Gutenacht-Märchen verlangt, in dem Planeten eine Rolle spielen, erheitert Eleazar seinen Vater mit einer Nacherzählung eines Spider-Man-Abenteuers. Reygadas rechtfertigt demnach seinen losen Plot mit einem Verweis darauf, dass eine klassische Geschichte eine kindliche Angelegenheit ist.

Kunst in der Natur: die nebelverhangenen Wälder Mexikos.
Zwar ist die Tatsache, dass sich Surrealismus durch keine kritische Annäherung ausser einer psychoanalytischen erklären lässt, spätestens seit Un chien andalou, dem Kurzfilm-Meisterwerk von Luis Buñuel und Salvador Dalí, unbestritten. Doch die Weigerung des Films, etwas fundamental Substantielles von sich zu geben, liesse sich leichter verschmerzen, wenn er sich auf seine wenigen interessanten Punkte beschränken würde. Leider aber enthält Post Tenebras Lux auch bedeutungsschwangere Szenen sowie Sequenzen und Abschweifungen von nachgerade beleidigender Banalität – Füllmaterial scheint das passende Wort zu sein. Wenn der Film etwa Tolstoy, Dostoyevsky und Chekhov zitiert, dann emuliert er allenfalls deren Gravitas, nicht aber deren Gehalt.

Kunst kann vieles sein. Sie kann verstören, provozieren, amüsieren, bewegen, anregen. Post Tenebras Lux hätte das Potential, all dies in sich zu vereinen, wenn sein Regisseur nicht an den Glauben gekettet wäre, er müsse sein Publikum frustrieren, indem er legitime philosophische Ansätze in einem inerten Film ertränkt, der jede Reflexion über das Gesehene in einer Sackgasse enden lässt. Wie passend, dass die ganze Farce mit einem Mann ihr Ende findet, der sich seinen eigenen Kopf abreisst. Besser hätte Reygadas den Effekt seines Films nicht antizipieren können.

★★

Samstag, 16. Februar 2013

A Good Day to Die Hard

Zu erkennen, wann die Zeit zum Aufhören gekommen ist, und daraus die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen, ist eine Tugend. John McClane und die Die Hard-Franchise mussten sich diese Frage dank durchgehend solider Einträge bislang zwar nicht stellen, doch John Moores fünfter Teil, A Good Day to Die Hard, sollte Anlass zur Selbstanalyse geben.

Nachdem Polizist John McClane (Bruce Willis) in der Vergangenheit ganze Stadtteile von Los Angeles (Die Hard), Washington (Die Hard 2) und New York (Die Hard with a Vengeance) in Schutt und Asche gelegt hat, verschlägt es ihn nun nach Moskau, wo sein entfremdeter Sohn Jack (Jai Courtney) als CIA-Geheimagent tätig ist und derzeit den politischen Häftling Yuri Komarov (Sebastian Koch) – ein nicht sonderlich subtiles Double für Mikhail Khodorkovsky – beschützen soll. Da dieser Zugriff auf eine geheime Akte hat, die einem hohen Offiziellen in der russischen Regierung schaden kann, sind ihm nach seiner Flucht aus dem Gerichtssaal bewaffnete Truppen auf den Fersen. Gemeinsam mit John und Jack versucht er, ihnen zu entkommen.

Gute Filme werfen Fragen auf. A Good Day to Die Hard tut dies im Minutentakt, doch ob diese Fragen ganz im Sinne von Regisseur John Moore (Remakes von Flight of the Phoenix und The Omen) und Autor Skip Woods (Swordfish, Hitman, X-Men Origins: Wolverine) sind, darf bezweifelt werden: Wer sind die Antagonisten? Was sind ihre Pläne? Warum stellen sie eine globale Gefahr dar? Warum interessiert sich Jack McClane dafür? Und was ist Johns Motivation, sich überhaupt ins Flugzeug nach Russland zu setzen? Eine Serie, welche derart stark auf dem klassischen Gut-Böse-Schema beruht, darf solche Fragen nicht offen lassen. Doch Moore und Woods verzichten weitestgehend auf eine Exposition und geben sich damit zufrieden, in den ersten 20 Minuten des Films einen beträchtlichen Teil der Moskauer Innenstadt zu Schrott zu fahren, wobei John mit Begeisterung seinen Teil dazu beiträgt – selbstverständlich ohne jedes Wissen, worum es eigentlich geht.

Gespanntes Verhältnis: John McClane (Bruce Willis, links) und Sohn Jack (Jai Courtney).
Die Unwissenheit des NYPD Detective McClane steht sinnbildlich für einen Film, der jeglichen Sinn für Plot und Motivation über Bord geworfen zu haben scheint. Bereits der sechs Jahre zurück liegende Live Free or Die Hard wies unangenehme Tendenzen in Richtung einer wässrigen, unnötig kryptischen Handlung auf, hielt sich aber mit solider Cartoon-Action alter Schule mühelos über Wasser. A Good Day to Die Hard steigert diese Action in Höhen, die selbst dem engagiertesten Apologeten haarsträubender Hollywood-Physik sauer aufstossen muss. Explosionen und Schiessereien dienen nicht der Geschichte, sie sollen deren Abwesenheit kompensieren. Hundertschaften von geparkten Autos werden von gepanzerten Lastwagen ins Blech-Jenseits befördert, es regnet Körper von Soldaten, Hubschrauber prallen in Zeitlupe ins defunkte Kernkraftwerk Tschernobyl – chaotische Zerstörungswut ohne Sinn und Klasse.

Vorbei sind die Zeiten, in denen Die Hard sich mit narrativen Nuancen, moralischen Grautönen und packenden Szenarien vom Gros seiner Genre-Kollegen abgrenzte. Die hinterhältigen politischen Ansätze sind durch verzweifelte Anspielungen auf wahre Begebenheiten ersetzt worden; Abstufungen und Feinheiten sucht man im Plan von Vater und Sohn McClane ("Kill Russian bad guys") vergebens. Passé sind Bösewichte wie Alan Rickmans Hans Gruber, die den Zeitgeist des politisch motivierten Terrorismus nutzten, um Aufmerksamkeit zu erregen, in Wirklichkeit aber nur das Geld im Auge hatten. A Good Day to Die Hard zitiert diese Wendung, wie auch andere Eckpfeiler der Franchise, ohne Kontext; der Mann, dem dieses Motiv zugeschrieben wird, ist eine unwürdige Karikatur, dessen Weltanschauung sich – ohne erkennbare Ironie – auf die Aussage "Do you know what I hate about Americans? Everything. Especially cowboys" beschränkt, als wäre er einem antisowjetischen Propagandafilm der Fünfzigerjahre entsprungen.

In Aktion: John und Jack beschützen den russischen Häftling Komarov (Sebastian Koch, rechts).
Eine Actionfilm-Reihe ist tief gefallen, wenn der qualitative Höhepunkt der neuesten Ausgabe darin besteht, dass sich Bruce Willis an der russischen Sprache versucht. Die Antwort des Moskauer Taxifahrers auf dieses fehlgeschlagene Experiment ist ein Klischee sondergleichen; was folgt, ist überkandidelt und fehl am Platz. Und doch ist es eine leidlich amüsante Szene, vielleicht auch, weil sie John McClane in der Rolle eines stereotypen amerikanischen Rentners zeigt. Doch anstatt diesen potenziell spannenden Pfad zu kultivieren – wie etwa Kim Ji-woon in The Last Stand – verlässt der Film ihn so schnell, wie er ihn betreten hat, und belässt weitere ironische Brechungen bei flachen Vater-Sohn-Witzen, deren Pointe zumeist aus dem Abfeuern einer Schusswaffe besteht. Dieser Verzicht auf Raffinesse sollte denen, die über das Schicksal McClanes zu entscheiden haben, als Grund genügen, den alten Haudegen nun in den Ruhestand zu schicken. Nach seinem Bad im radioaktiv verseuchten Wasser von Tschernobyl wäre dies wohl auch aus medizinischer Sicht ratsam.

Donnerstag, 14. Februar 2013

Hannah Arendt

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Margarethe von Trotta, die Grande Dame des Neuen Deutschen Films, platzt mit ihrem neuen Projekt mitten in die neu entfachte Antisemitismus-Debatte in Deutschland. Hannah Arendt ist ein gewagtes Porträt der grossen jüdischen Philosophin – jedenfalls bis der Mut es verlässt.

1961 wird in Argentinien der ehemalige SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann vom israelischen Geheimdienst Mossad gefasst und nach Jerusalem überführt, wo ihm der Prozess gemacht werden soll. Weil sie als Exil-Jüdin ein persönliches Interesse am Fall hat und weil viele ihrer Freunde nach dem Zweiten Weltkrieg nach Israel gezogen sind, bittet die mittlerweile mit ihrem Mann Heinrich Blücher (Axel Milberg) in New York lebende Philosophin, Autorin und Professorin Hannah Arendt (die famose Barbara Sukowa, die unter der Regie von Trottas auch schon Rosa Luxemburg verkörperte) das Magazin New Yorker erfolgreich darum, sie als Reporterin nach Jerusalem zu schicken. Doch während die meisten ihrer Freunde und Bekannten Eichmann als personifiziertes Böses sehen, erkennt sie in ihm lediglich einen obrigkeitshörigen Bürokraten, dessen Verbrechen auf einen Denkverzicht zurückzuführen sind. Als ihr 300 Seiten umfassender Prozessbericht erscheint, sieht sich Arendt schärfster Kritik ausgesetzt.

Die Behandlung von Hannah Arendts wohl umstrittenster Publikation ist per Definition ein Wagnis, ungeachtet des gegenwärtigen sozipolitischen Hintergrundes. Immerhin beinhaltet die 1963 auch als Buch (Eichmann in Jerusalem: A Report on the Banality of Evil) veröffentlichte Artikelserie der Denkerin verwegene Äusserungen wie etwa die These, dass Hitlers Vernichtungspolitik ohne die Kooperation der Judenräte keine sechs Millionen Opfer gefordert hätte. Aussagen dieser Art sind der Stoff hitziger Diskussionen, heute genauso wie 1962.

Europäische Intelligentsia in New York: Hannah Arendt (Barbara Sukowa) und Ehemann Heinrich Blücher (Axel Milberg).
Doch Margarethe von Trotta geht – über weite Strecken zumindest – mutig ihren Weg und identifiziert viele der schwerwiegendsten Anschuldigungen von Arendts zeitgenössischen Kritikern als reine Hysterie: Weder hat sie in ihren Artikeln den Verbrecher Eichmann verteidigt, noch war sie der Meinung, die Juden trügen die Schuld für ihre eigene Zerstörung. Auch die Tatsache, dass sich Arendt nicht als Zionistin verstand, umgeht von Trotta nicht: Hochgradig emotionale Zeugenaussagen am Jerusalemer Gericht – alles authentisches Archivmaterial –, die vage Claude Lanzmanns Shoah in Erinnerung rufen, kontrastiert sie mit Linien wie "Ich habe doch noch nie ein Volk geliebt". Leider aber scheint es, als mache der Film im letzten Moment einen Rückzieher. In zwei kurzen Minuten wird aus der starrsinnigen Hannah Arendt eine Zweiflerin am eigenen Werk; ihre Position weicht auf, sie widerruft den Standpunkt, für den sie bislang so entschieden eingetreten ist. Dies mag historisch verbrieft und womöglich sogar richtig sein, doch dramaturgisch ist es fatal: Ein stimmiger Film ändert in seinen Schlusssekunden nicht die Meinung, die er zuvor 110 Minuten lang vertreten hat.

Dieses Defizit weist denn auch auf ein zusätzliches, weitaus banaleres Problem der Autorinnen von Trotta und Pamela Katz hin, fernab der inhaltlichen Tragweite: Zwischen den – zweifellos überzeugenden – Einzelteilen des Films herrscht ein akutes Missverhältnis. Obwohl die persönliche Dimension, vorab das lebendig eingefangene Eheleben von Arendt und Heinrich Blücher, durchaus zu gefallen weiss, übertönt sie doch zu oft die historischen Fakten. Indem sie etwa den Philosophen Martin Heidegger (Klaus Pohl) prominent in ihre Erzählung mit einbezieht, tut sich von Trotta wahrlich keinen Gefallen, da dieser keinen sichtbaren Einfluss auf die Handlung hat. Lässt sie die Geschichte schliesslich doch zu ihrem Recht kommen, droht das Ganze ins Moralisierende abzudriften. Hannah Arendt kommt so einer guten Philosophiestunde gleich: interessant, anregend, informativ, mitunter sogar inspirierend, doch schlussendlich kein Vergleich zum Originaltext.

★★★

Freitag, 8. Februar 2013

Jagten

Seit dem Ende der ebenso radikalen wie unsinnigen dänischen Filmbewegung "Dogme 95" hat vor allem einer ihrer beiden Gründer auf sich aufmerksam gemacht: Lars von Trier widmete sich in heiss diskutierten Projekten wie Antichrist oder Melancholia primär seiner selbst und gab als Zugabe jeweils kryptisch-provokante Interviews. Sein Freund und Dogme-Mitbegründer Thomas Vinterberg hingegen hielt sich seit seinem grossen Erfolg Festen (1998) eher bedeckt. Sein neuer Film, das beklemmende Psychodrama Jagten (international: The Hunt), stellt jedoch von Triers Arbeiten mühelos in den Schatten.

Lucas (Mads Mikkelsen) ist Anfang 40 und versucht, sein Leben neu zu ordnen und auszurichten. Frisch geschieden, kämpft er erfolgreich darum, dass sein Teenager-Sohn Marcus (Lasse Fogelstrøm) bei ihm wohnen kann, findet eine neue Freundin und geht mit viel Freude seiner Arbeit als Betreuer im örtlichen Kindergarten nach, wo er sich bei den Kindern grosser Beliebtheit erfreut. Doch als die kleine Klara (Annika Wedderkopp), die Tochter seines besten Freundes (Thomas Bo Larsen), zu übermütig wird und ihn auf den Mund küsst, weist er sie sanft, aber bestimmt zurecht, woraufhin diese der Kindergartenleiterin Grethe (Susse Wold) erzählt, Lucas habe ihr seinen Penis gezeigt. Die Neuigkeit macht schnell die Runde und Lucas wird von den Dorfbewohnern geächtet und schikaniert. Selbst als Klara ihre Geschichte zurückzieht, glaubt kaum jemand noch an Lucas' Unschuld.

Jagten erzählt von den Abgründen der menschlichen Natur, den Mechanismen, welche kein noch so hoher Grad an Zivilisiertheit je auszuschalten vermag. Der Film mag in einer gewöhnlichen Kleinstadt im modernen Wohlstandsstaat Dänemark spielen, in der einzig die alljährlichen Jagdausflüge, die Mutproben, die freundschaftlichen Trinkgelage und die Bartlänge der mehrheitlich breitschultrigen Männer noch an eine entrückte archaische Vergangenheit erinnern. Doch laut Vinterberg braucht es nicht mehr als die Lüge eines rehäugigen Kindes, um in dieser gutbürgerlichen Gesellschaft jene Triebe zu wecken, die zur spanischen Inquisition, den Hexenverbrennungen und dem Holocaust geführt haben. Ohne dass sich die Beweislage erhärtet hätte, spricht Kindergärtnerin Grethe davon, dass nun "fast keine Zweifel mehr an Lucas' Schuld bestehen"; Marcus wird daran gehindert, für seinen Vater einzukaufen und verpasst damit auch die Chance, der netten Kassiererin seiner eigenen Altersklasse näher zu kommen; als Klara ihre Anschuldigung widerruft, kleiden die Erwachsenen ihren Unglauben in vage psychologische Floskeln, um die bereits gefällte Meinung um jeden Preis aufrecht zu erhalten.

Von fast allen verlassen: Lucas (Mads Mikkelsen), zu Unrecht der Pädophilie bezichtigt, wird von seinem Sohn unterstützt.
Dass Pädophilie zu den schlimmsten Verbrechen überhaupt zählt, ist natürlich unumstritten. Doch Jagten geht es darum, zu zeigen, wozu gesetzestreue Menschen im Angesicht des vermeintlichen Bösen fähig sind, wie schnell man in der Empörung über unmenschliche Taten die eigene Menschlichkeit verliert. Vinterberg gönnt weder Zuschauer noch Lucas Gnade und entfesselt nach sorgsamem Aufbau einen veritablen Sturm der Perfidie, der nicht nur nachdenklich stimmt, sondern auch Wut auslöst. Anders als Markus Schleinzers nur halbwegs gelungenes Experiment Michael lässt Jagten – quasi der inhaltliche Gegenentwurf zum Regiedebüt des Österreichers – nicht kalt. Jede einzelne Gemeinheit, die Lucas über sich ergehen lassen muss – würde er sich wehren, würde er alles wohl noch schlimmer machen –, ist auch ein Stich ins Herz des Kinogängers. Umso willkommener sind folglich Vinterbergs wohl dosierte Momente sardonischen Humors,

Womöglich liesse sich darüber diskutieren, ob der Ablauf der Dinge etwas zu überspitzt und manipulativ dargestellt ist, ob es sich Jagten der Botschaft willen ein wenig zu einfach macht. Tatsache ist jedoch, dass, ob nun gänzlich realistisch oder nicht, die von Vinterberg und Co-Autor Tobias Lindholm angeschlagene Tendenz durchaus plausibel wirkt, dass heiliger Zorn auch in einem Industriestaat des 21. Jahrhunderts beängstigend schnell in blinde Lynchjustiz übergehen kann. Fast wirkt der Emdener "Mordfall Lena" wie eine Blaupause des Films.

In gewisser Hinsicht ist Vinterberg mit Jagten das ideale Dogme-Werk gelungen, obgleich er sich auf der filmtechnischen Ebene scharf vom Manifest jener Bewegung abgrenzt: Seine Handlung greift Seh- und Urteilsgewohnheiten des Publikums frontal an; gängige Moralvorstellungen werden untergraben; die Erfahrung ist unangenehm, aber zutiefst faszinierend. Lars von Trier provoziert bei der Pressekonferenz, Vinterberg auf der Leinwand. So soll es sein.

★★★★

Donnerstag, 7. Februar 2013

Zero Dark Thirty

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Mit ihrem Irakkrieg-Drama The Hurt Locker avancierte Kathryn Bigelow zur ersten weiblichen Gewinnerin des Regie-Oscars. Ihr neues Projekt, Zero Dark Thirty, ein packender Tatsachenbericht über die zehnjährige Suche nach Osama Bin Laden, ist grösser, ambitionierter und weitaus kontroverser.

Nach den islamistischen Terrorangriffen vom 11. September 2001, welche fast 3000 Menschen das Leben kosteten und Amerika traumatisierten, setzt die Regierung George W. Bushs alles daran, die Drahtzieher der Anschläge zu fassen, allen voran Osama Bin Laden, Gründer und Chef der verantwortlichen al-Qaida-Gruppierung. 2003 wird die CIA-Analystin Maya (Jessica Chastain) nach Pakistan geschickt, wo sie aktiver an der Fahndung teilnehmen soll. Dazu gehören auch Verhöre von Gefangenen mit folterähnlichen Methoden. Während ihre Kollegen nach und nach die Hoffnung verlieren, den Terrorfürsten je ausfindig zu machen, und sich darum bemühen, weitere Anschläge zu verhindern, verfolgt Maya die Spur eines geheimnisvollen Kuriers, der direkten Kontakt zu Bin Laden pflegen soll.

Zero Dark Thirty scheint auf den ersten Blick ein grosses Problem zu haben: Jeder Zuschauer kennt das Ende. In der Nacht zum 2. Mai 2011 stürmten amerikanische Soldaten ein befestigtes Anwesen in der reichen pakistanischen Stadt Abbottabad und töteten Bin Laden. Tatsächlich fehlte der Rohfassung von Mark Boals Drehbuch dieser Schluss. Doch nachdem Barack Obama die "Operation Neptune Spear" abgesegnet hatte, sah er sich gezwungen, die erste Fassung zu verwerfen und neu anzufangen. So ist Zero Dark Thirty – der Titel bezieht sich auf die Uhrzeit 0.30 in der militärischen Umgangssprache – nun weniger ein Film über die Kriege der USA, wie The Hurt Locker, sondern eher ein analytischer, mit journalistischer Nüchternheit vorgetragener Thriller in der Tradition von Alan J. Pakulas Watergate-Schlüsselwerk All the President's Men.

CIA-Analystin Maya (Jessica Chastain) verbringt zehn Jahre ihres Lebens mit der Suche nach Osama Bin Laden.
Nicht nur die Nebendarsteller, darunter gestandene Schauspieler wie Mark Duplass, Mark Strong und James Gandolfini, sondern sogar Boals Hauptfigur, modelliert nach einer realen CIA-Agentin, treten dabei oft in den Hintergrund, um der auf "Berichten aus erster Hand" basierenden Handlung Platz zu machen. Gefühlskino sieht in der Tat anders aus, doch Boal und Regisseurin Kathryn Bigelow erweisen sich erneut – The Hurt Locker war ihre erste Kollaboration – als perfekte Kombination. Er, ein ehemaliger Journalist, versteht es hervorragend, Eckdaten der praktisch aussichtslosen Bin-Laden-Schnitzeljagd zeitlich und dramaturgisch zu verbinden, während sie das ohnehin schon fesselnde Skript virtuos zu filmischem Leben erweckt. Allein die Erstürmung von Bin Ladens Festung, grandios inszeniert, fast in Echtzeit gedreht, zeigt, warum Bigelow zu den besten amerikanischen Filmemachern (geschlechtsneutral!) der Gegenwart gehört.

Dieser Ruf bewahrte sie aber nicht vor der Kontroverse, welche Zero Dark Thirty kurz nach seiner Veröffentlichung auslöste. "Faschistische" Aspekte wurden dem Film vorgeworfen; er verherrliche Folterungen. Zwar sind politische Interpretationen häufig sinnvoll und fast immer spannend; diese jedoch zielt erschreckend weit an den Tatsachen vorbei. Boal und Bigelow eröffnen ihren Film mit den erschütternden Telefonaten der Opfer von 9/11. Die erste Szene danach zeigt, wie ein gefasster Terrorsympathisant gefoltert wird. Schliesslich verrät dieser, was er weiss – als er menschenwürdig an einem Tisch sitzt und von seinem Gegenüber Essen, Trinken und Zigaretten angeboten bekommt. Der Film liefert keine Antworten, sondern wirft Fragen auf: Ist diese Information wirklich der Folter zuzuschreiben? Ist das Motiv, den Tod Unschuldiger zu rächen, den Verlust von Menschlichkeit wirklich wert? Wie hoch war der Preis der Jagd auf Osama Bin Laden? Es sind Fragen moralischen Zwielichts, die der Ambiguität des Themas würdig sind. Zusammen mit der filmischen Brillanz von Zero Dark Thirty bilden sie das Rezept zu einem Meisterwerk.

★★★★★

Mittwoch, 6. Februar 2013

Hyde Park on Hudson

Grosse Momente der Geschichte im kleinen Rahmen auf die Leinwand zu bringen, ist im Grunde ein hehres Ziel. Dass der private Blick hinter die Kulissen der historischen Ereignisse aber nicht immer der beste Weg ist, zeigt die belanglose und blutleere Héritage-Tragikomödie Hyde Park on Hudson.

1939: Obwohl sich in Europa ein Krieg anbahnt, sind in den USA nach der Erfahrung des Ersten Weltkriegs nur wenige Menschen bereit, den verbündeten Kräften in Übersee zu helfen. Um dem US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt (Bill Murray) ein Verteidigungsbündnis abzutrotzen, reist das britische Königspaar höchstpersönlich, der stotternde König George VI (Samuel West) und Ehefrau Elizabeth (Olivia Colman), auf Roosevelts Landsitz Hyde Park im Staat New York. Dort versammeln sich in den Tagen und Wochen vor dem hohen Besuch nicht nur der Präsident, dessen Mutter (Elizabeth Wilson) und Gemahlin Eleanor (Olivia Williams), sondern auch FDRs Beraterstab, die zahlreichen Bediensteten des Hauses und Margaret "Daisy" Suckley (Laura Linney), eine entfernte Cousine Roosevelts, die zu einer Vertrauten des Präsidenten wird. Als die britische Royalität eintrifft, versinkt das Hyde Parker Anwesen im Chaos: Der König schämt sich seiner Sprachbehinderung, die Königin empört sich über Eleanors Unterhaltungsprogramm und Daisy muss feststellen, dass sie nicht die einzige "Vertraute" FDRs ist.

Zwölf Jahre lang war Franklin Delano Roosevelt Präsident der Vereinigten Staaten, er navigierte das Land durch eine verheerende Wirtschaftskrise und einen Weltkrieg und schuf die Grundvoraussetzungen für die progressive Idee des "mitfühlenden Staats". Der Demokrat gilt bis heute als einer der besten US-Präsidenten der Geschichte. Würde man sein Urteil über ihn jedoch auf Hyde Park on Hudson von Regisseur Roger Michell (Notting Hill, Venus) und Theaterautor Richard Nelson gründen, dann käme man wohl zum Schluss, FDR hätte seine Amtszeit primär damit verbracht, Martinis zu kippen und Frauen hinterher zu jagen. Doch selbst wenn dies vollumfänglich der Wahrheit entspräche, würde die Arbeit von Michell und Nelson nicht überzeugen.

Präsident Franklin D. Roosevelt (Bill Murray, Mitte) begrüsst das britische Königspaar (Olivia Colman, Samuel West).
Das Grundproblem ist die Entscheidung, Daisy Suckley zur tragenden Hauptfigur zu befördern. Der Zuschauer muss sich damit abfinden, den historischen Präsidenten durch die Augen einer verschmähten Liebhaberin zu sehen, deren Sorgen und Nöte zu keinem Zeitpunkt zu berühren vermögen. Nelson vollführt das skurrile Kunststück, spannende Zeitgeschichte in eine Quasi-Romanze voller gewisperter Sehnsuchtsdialoge zu übersetzen. Lässt der Film einmal von Daisy ab, konzentriert er sich auf die Konflikte zwischen George VI und Elizabeth oder karikiert die fortschrittlichen Visionen Eleanors. FDR ist so letztlich das Resultat von Projektionen anderer Leute, von denen besonders die Frauen von einer erstaunlichen Eindimensionalität sind: Während Daisy ihren geliebten Präsidenten oft seufzer- und tränenreich vermisst und Elizabeth sich durch stereotype britische Arroganz auszeichnet, beschränkt sich die Darstellung der zur Ikone gewordenen Eleanor Roosevelt auf das Porträt einer hinterhältigen, herrischen Spassbremse.

Schlussendlich ist man historisch wie dramaturgisch so schlau wie zuvor. Eine emotionale Verbindung konnte weder zu Roosevelt, mangels Auftritten und Charaktertiefe, noch zu Daisy, mangels Interesse an ihren Problemen, aufgebaut werden. Verschlimmert wird das Ganze durch Michells aseptische Inszenierung. Der Film ist ästhetisch ausgestattet, elegant komponiert und gediegen gefilmt; Dekor und Kostüme wirken stimmig, sind aber niemals in der Lage, Authentizität vorzutäuschen. Hyde Park on Hudson ist ein Puppenhaus, ein Museum der späten Dreissigerjahre, in dem mit viel Liebe eine Zeitperiode rekonstruiert wurde, ohne aber der richtigen Atmosphäre Rechnung zu tragen.

FDR, ganz privat: Margaret "Daisy" Suckley (Laura Linney) kommt ihm in Hyde Park näher.
Entsprechend ist es Michells Glück, eine ehrwürdige Besetzung vor seiner Kamera zu wissen. Laura Linney trotzt den engen Grenzen ihrer Figur und lässt in inspirierten Momenten die Tragweite ihres Talents erahnen, während Samuel West sich beherzt der undankbaren Aufgabe stellt, jene Rolle zu spielen, für die Colin Firth (The King's Speech) 2011 mit einem Oscar geehrt wurde. West spielt, als hätte es Firths Darbietung nie gegeben; sein George VI ist unsicherer, schüchterner und weniger königlich als sein Pendant in Tom Hoopers Film. Bill Murrays Franklin Roosevelt steht indes für die grösste Tragödie, die sich in Hyde Park on Hudson abzeichnet. Murray erweist sich einmal mehr als ein Schauspieler mit einem verblüffend breiten Rollenspektrum, als jemand, der sowohl zur Komödie (Ghostbusters, What About Bob?), als auch zum Drama (Lost in Translation, Broken Flowers, Get Low), als auch zur Selbstparodie (Zombieland) und zu Genre-Hybriden wie Groundhog Day oder Hyde Park on Hudson fähig ist. Er verkörpert FDR ohne Makeup-Exzesse, seine Darstellung ist voller Verve und Nuancen – wunderbar sein nächtlicher Dialog mit König George, die mit grossem Abstand beste Szene des Films. Murrays Performance ist eine himmelschreiende Verschwendung. Man wünschte sich, ihn in gleicher Aufmachung in einem weniger belanglosen Film zu sehen.

Dienstag, 5. Februar 2013

The Last Stand

Dass Schauspieler in die Politik gehen, kommt vor. Dass sie in dieser Funktion Grosses erreichen, ist seltener. Kult-Actionstar Arnold Schwarzenegger ist Letzteres als Gouverneur von Kalifornien gelungen. Nun will er die Unterhaltungsindustrie zurückerobern und in seinem alten Metier wieder Fuss fassen. The Last Stand, das unstete englischspachige Debüt des koreanischen Regisseurs Kim Ji-woon, bietet ihm dafür die ideale Plattform.

Im nächtlichen Las Vegas kommandiert der hochrangige FBI-Agent Bannister (Forest Whitaker) eine streng geheime Aktion: Der Drogenbaron Cortez (Eduardo Noriega) wurde zum Tode verurteilt und soll in ein Hochsicherheitsgefängnis überführt werden. Dessen Schergen sind aber gut vorbereitet und befreien den Schwerverbrecher, der sich sogleich mit einer Geisel und einem aufgemotzten Sportwagen in Richtung Mexiko absetzt. Sein Fluchtweg führt durch das Grenzstädtchen Sommerton im Süden Arizonas, wo sich Sheriff Ray Owens (Arnold Schwarzenegger) eigentlich auf ein ruhiges Wochenende gefreut hat, da die meisten Bewohner die lokale Schulmannschaft zu einem Football-Auswärtsspiel begleiten. Doch noch vor Cortez' Eintreffen gibt es in Sommerton Tote zu beklagen. Owens und seine Assistenten beginnen, sich auf einen blutigen Kampf vorzubereiten.

Anspruch und Intention von Kim Ji-woons (The Good, the Bad, the Weird, I Saw the Devil) achter Regiearbeit richtig auszumachen, ist eine heikle Angelegenheit. An der Oberfläche ist The Last Stand ein unterhaltsamer, oft stark karikierter Actionreisser – bloss ein weiterer Eintrag in einer langen, anspruchslosen Reihe von Filmen. Das SPIEGEL-Magazin sah darin nicht mehr als eine "schlechte Tarantino-Kopie: Kopfschüsse in Grossaufnahme, Blutfontänen, dumme Sprüche". In gewisser Hinsicht lässt sich diese Auffassung nicht leugnen: Das Blut spritzt mitunter tatsächlich zu exzessiv, nur wenige von Schwarzeneggers Einzeilern treffen ins Schwarze – der wohl beste: "You make us immigrants look bad" –, der Humor erreicht stellenweise ein erschreckend tiefes Niveau; die Kindereien des Jackass-Stars Johnny Knoxville, der aus unerfindlichen Gründen mitwirkt, müssten nicht sein. Auf den ersten Blick sprechen allein Kims stilsicher inszenierte Schiessereien und die nostalgiegeschwängerte Präsenz Schwarzeneggers für den Film.

Zupackender Sheriff: Ray Owens (Arnold Schwarzenegger, links) demonstriert den richtigen Umgang mit schweren Waffen.
Doch The Last Stand verbirgt eine tiefer liegende filmhistorische Ebene, welche den Streifen sogleich um ein Vielfaches spannender macht und ähnliche Ambitionen Quentin Tarantinos mühelos in den Schatten stellt. Die Ausgangslage ist die einer archetypischen Spätwestern-Elegie: Ein letzter aufrechter Kämpfer, wahlweise mit einer loyalen Entourage von Aussenseitern, verteidigt "seine" Heimat gegen das scheinbar übermächtige Böse. Ray Owens tritt in die Fussstapfen von John T. Chance (John Wayne) aus Howard Hawks' Rio Bravo und Will Kane (Gary Cooper) aus Fred Zinnemanns High Noon. Der tollpatschige Deputy-Sheriff Mike "Figgy" Figuerola (Luis Guzmán) wird plötzlich zu einem Erben von Walter Brennans Schrotflinten-Enthusiasten Stumpy (Rio Bravo); Gabriel Cortez wird eingeführt wie Erzbösewicht Frank Miller in High Noon; Johnny Knoxvilles antiquiertes Maschinengewehr ähnelt plötzlich verdächtig jenem aus Sam Peckinpahs The Wild Bunch.

Letztlich ist Kims Film in seinem Kern ein weiterer Abgesang auf den Western, "das amerikanische Genre par exellence" (André Bazin) – qualitativ allerdings meilenweit entfernt von, aber dennoch blutsverwandt mit John Fords The Man Who Shot Liberty Valance. Am Ende liefern sich Ray Owens und Gabriel Cortez eine Autoverfolgungsjagd. Die Waffen ihrer Wahl sind zwei Chevrolets, die US-Marke schlechthin. Wie John Waynes Revolverheld Doniphon und Lee Marvins Outlaw Liberty Valance stehen sich mit den Immigranten Owens und Cortez nicht nur Pro- und Antagonist, sondern auch zwei Archetypen amerikanischer Kultur gegenüber, vielleicht sogar die Letzten ihrer Art.

Stumpys Erbe: Deputy Mike "Figgy" Figuerola (Luis Guzmán) erweist sich als wackerer Kämpfer für Recht und Ordnung.
Damit hat Kim womöglich auch die künftige Karriere des Arnold Schwarzenegger definiert. Bei dessen erstem Auftritt spielt eine Schulkapelle einen Ehrenmarsch, als ob sie den "Governator" willkommen heissen wollte – dass das Stück sich nicht an Owens richtet, ist Nebensache. Doch wohin die Handlung ihn auch führt, er bleibt ein einsames Unikat, ein Relikt aus einer vergangenen Zeit, "an unchanged man in a changing world". The Last Stand stilisiert den Ex-Gouverneur Schwarzenegger zum Realität gewordenen Westernhelden in all seiner tragischen Grösse. Wie er damit umgehen wird, wird sich weisen.

★★