Donnerstag, 29. November 2012

Kyss mig

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.


Von der wachsenden gesellschaftlichen Akzeptanz Homosexueller profitiert auch das schwul-lesbische Kino. Manchmal werden sogar alte Formeln neu ausgelegt: Kyss mig ist eine bekömmliche Mischung aus nordischem Arthouse-Drama und klassischer Sehnsuchtsschnulze.

Feierstimmung bei Sundströms: Während das geschiedene Familienoberhaupt Lasse (Krister Henriksson – Kommissar Wallander in der schwedischen Krimi-Hitserie) an seinem 60. Geburtstagsfest verkündet, er werde seine neue Lebensgefährtin Elisabeth (Lena Endre) heiraten, verlobt sich seine Tochter Mia (Ruth Vega Fernandez) mit ihrem langjährigen Freund Tim (Joakim Nätterqvist). Auf der Feier trifft Mia erstmals Frida (Liv Mjönes), ihre neue Stiefschwester. Diese erscheint ihr sogleich suspekt, da sie in ihren Augen mit ihrem jüngeren Bruder Oskar (Tom Ljungman) und ihrem Zukünftigen flirtet. Nach dem Fest beschliesst Mia, noch ein wenig in Malmö zu bleiben, um Zeit mit ihrem Vater zu verbringen und ihm bei der Planung eines Ferienhaus-Anbaus zu helfen. Dort angekommen, stellt sie aber fest, dass Lasse geschäftlich verreist ist und sie nun einige Tage mit Elisabeth und Frida unter einem Dach verbringen muss. Dabei kommen sie und ihre "Schwester" sich wider Erwarten näher.

Anders als das schwedische Original lässt der internationale Titel von Kyss mig keine Zweifel aufkommen, welches Genre der Film primär bedient: With Every Heartbeat evoziert Herzschmerz; die "einzig wahre Liebe" muss sich gegen harte Prüfungen und die missbilligenden Blicke der Gesellschaft behaupten. Tatsächlich ist Alexandra-Therese Keinings zweite Regiearbeit in ihrem Kern eine Romanze alter Schule. Ein Rührstück über ein verbotenes Verhältnis, dessen Handlung allzu konstruiert wirkt, dessen Figurenzeichnung zu wünschen übrig lässt, in dem Motivation und Beweggründe der Charaktere oft unklar bleiben, in dem ernsthaftes Nachdenken über Homosexualität überästhetisierten Bettszenen untergeordnet wird. Immerhin bleibt die positive Erkenntnis, dass diese Seite des Kinos inzwischen nicht mehr ausschliesslich heterosexuellen Paaren offen steht.

Verbotenes Verhältnis: Frida (Liv Mjönes, links) verliebt sich in die vermeintlich heterosexuelle Mia (Ruth Vega Fernandez).
Doch Kyss mig hat auch eine andere Seite, welche nur bedingt mit der sexuellen Orientierung der beiden Hauptfiguren zusammenhängt. Keining lässt nämlich nicht nur Mias tränenreichen Kampf mit sich selbst und den Erwartungen ihres Umfelds zu seinem Recht kommen, sondern auch die dem Ganzen zugrunde liegenden Familiendynamiken. Sitzt die ganze Sippe einmal beisammen, machen sich die schwelenden Konflikte bemerkbar, welche, vor allem dank eines grossartig aufspielenden Krister Henrikssons, im Gegensatz zur zentralen Liebesgeschichte nicht aufgesetzt, sondern gewichtig und glaubwürdig wirken. Vergleiche mit Lynn Sheltons Mumblecore-Perle Your Sister's Sister – Liv Mjönes' Ähnlichkeit mit Emily Blunt trägt das Ihre dazu bei – wären berechtigt. Auch die LGBT-Tragikomödie The Kids Are All Right schwingt mit – bis hin zur lieblosen Entledigung des männlichen "Störfaktors". Wie Mark Ruffalo in Lisa Cholodenkos Film wird hier der gute Joakim Nätterqvist erbarmungslos aus der Erzählung bugsiert.

Sei es wegen der soliden bis herausragenden Darsteller, der sympathischen Frida oder der überraschend eleganten Kombination von Familien- und Beziehungskrisen (die im Film vorherrschenden hellen skandinavischen Nächte verstärken die Assoziationen mit Shakespeares Midsummer Night's Dream) – Kyss mig schafft es irgendwie, die Aufmerksamkeit des Zuschauers aufrechtzuerhalten. Ist der Film aber einmal vorbei, verwandelt sich der Sturm der Gefühle im Rückblick rasch in ein laues Lüftchen: angenehm, aber ohne besondere Wirkung.

★★★

Donnerstag, 22. November 2012

Killing Them Softly

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.


In den ideologisch gespaltenen USA bahnt sich eine Identitätskrise an, die sich schon seit dem Ende der Bush-Ära ankündigt. Im Gangsterfilm Killing Them Softly versucht der Neuseeländer Andrew Dominik, der amerikanischen Malaise auf den Grund zu gehen. Er scheitert.

New Orleans, 2008: Während John McCain und Barack Obama um den Einzug ins Weisse Haus wetteifern – Bildschirme und Plakatwände künden von nichts anderem –, findet die Unterwelt ihre eigenen Wege, in Zeiten der Finanzkrise über die Runden zu kommen. So etwa die kleinkriminellen Frankie (Scoot McNairy) und Russell (Ben Mendelsohn), welche das Mafia-Pokerturnier von Markie Trattman (Ray Liotta) überfallen. Dieser hat einst ein von ihm selber organisiertes Turnier ausrauben lassen, also setzen die beiden Kumpel darauf, den Verdacht erneut auf Markie lenken zu können. Da die ehrenwerte Gesellschaft in Gelddingen keinen Spass versteht, hetzt sie Trattman tatsächlich den Auftragsmörder Jackie Cogan (Brad Pitt) auf den Hals, der, so erzählt er es jedenfalls seinem Fahrer (Richard Jenkins), an die Unschuld seines Opfers glaubt. Um ein reines Gewissen zu bewahren, lässt Jackie den Killer Mickey (James Gandolfini) aus New York einfliegen, der aber, wie sich schnell herausstellt, völlig ausser Form ist.

Herrschen in Amerika harte Zeiten, dann dienen Outlaws als Projektionsfläche für die Stimmung der Nation. Als 1929 die Börse zusammenbrach, fanden die Menschen in Bankräubern wie John Dillinger oder dem legendären Pärchen Bonnie und Clyde neue Helden. Die mörderische Bande der Brüder Frank und Jesse James genoss in den schwierigen Jahren nach dem verheerenden Bürgerkrieg hohes Ansehen. Andrew Dominik ist die Materie demnach nicht fremd: 2007 begeisterte seine düstere, zweienhalbstündige Western-Elegie The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford mit einer nuancierten, stimmigen Aufarbeitung des Titel gebenden Vorfalls und einem kritischen Blick auf die Auswüchse amerikanischen Personenkults. In Killing Them Softly, der Adaption eines Romans von George V. Higgins, lässt er die linksliberale Vision kollektiven Zusammenhalts auf die zynische Weltsicht eines Mörders wie Jackie Cogan treffen, die da heisst: "In Amerika ist jeder auf sich gestellt" – die Kaltblütigen überleben, Schwache wie Frankie, Russell, Markie und Mickey haben das Nachsehen.

Adel und Abschaum: Der gefragte Killer Jackie Cogan (Brad Pitt, links) redet dem kleinkriminellen Frankie (Scoot McNairy) ins Gewissen.
Inszeniert wird dieser existenzielle Konflikt mit beachtlichem cineastischem Flair: Die oft mit Sepiatönen veredelten Bilder zeichnen ein akkurates Milieu-Porträt; die Schauspieler, mehrere von ihnen mit ausgiebiger Mafiafilm-Erfahrung, agieren ausnahmslos souverän. Es ist letztlich Andrew Dominiks an Hochmut grenzender Ehrgeiz, der Killing Them Softly zum Scheitern verdammt. Zum einen wären da die Defizite des Regisseurs, der vergeblich versucht, Martin Scorseses Klassiker des modernen Gangsterdramas, vorab Goodfellas, mit der wortlosen Intensität von Filmen wie No Country for Old Men oder Drive zu vermischen. Das Resultat sind mühsame, schleppende Szenen, welche dramaturgisch stillzustehen scheinen; tatsächlich fühlt sich der gut 90-minütige Streifen länger an als The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford.

Obendrein versagt Dominik auch als Drehbuchautor: Die penetranten Einspieler des Wahlkampfs 2008 sollen Atmosphäre und satirischen Subtext schaffen, wirken aber hochgradig prätentiös und selbstgefällig. Auch der Plot greift nicht: Ohne jeden Rhythmus wird Szene an Szene gereiht. Ebenso enttäuschend die Dialoge: Seien es die allzu vulgären Austausche zwischen Russell und Frankie, seien es Jackies pseudophilosophische Exkurse, sie alle gaukeln dem Zuschauer eine Tiefe vor, die sich bei genauerem Hinsehen als das entpuppt, was Killing Them Softly wirklich ist: Leeres Gewäsch.

★★

Samstag, 17. November 2012

The Joy of Watching Silent Movies


An actor is moving his mouth but no sound emerges, yet you don’t turn around to glare at the operator’s box. An actress is signalling distress, perhaps a little too emphatically (“We didn’t need dialogue. We had faces”, as Norma Desmond put it so expertly in Sunset Boulevard), yet you don’t put it down to a lack of talent. Chances are you’re watching a movie that was made between 1895 and 1930. There is no sound because the technology wasn’t invented until 1927. It would probably be safe to bet that you don’t go to a screening of this kind on a regular basis, simply because silent films are not, to put it lightly, a standard feature in most cinemas and because they still attract only a marginal audience. Here’s why this shouldn’t be.

Ganzer Artikel auf The Zurich English Student (online einsehbar).

Donnerstag, 15. November 2012

The Perks of Being a Wallflower

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.


Die amerikanische High School dient zahllosen Filmen und Fernsehserien als Schauplatz, doch nur wenige sind in der Lage, sie stimmig und lebensnah einzufangen. Die begeisternde Buchverfilmung The Perks of Being a Wallflower bildet eine menschlich berührende, ehrliche Ausnahme.

1385 Tage. So viele High-School-Tage muss Charlie (der hervorragende Logan Lerman) bis zum Abschluss hinter sich bringen, so seine Rechnung am ersten Tag an der neuen Schule. Auf den ersten Blick ist er ein ganz normaler Teenager der frühen Neunzigerjahre: Mit seiner Schwester Candace (Nina Dobrev) und seinen Eltern lebt er in einem Vorstadthaus nahe Pittsburgh, Pennsylvania; er ist unauffällig und macht keine Probleme. Hinter ihm liegt jedoch eine Vergangenheit voller psychischer Probleme und Traumata; das letzte – der Selbstmord eines guten Freundes – liegt nur ein Jahr zurück. Entsprechend nervös verhält er sich auf der neuen Schule, wo ihn nicht nur seine alten Kameraden, sondern auch Candace ignorieren, während die älteren Schüler ihn nach allen Regeln der Kunst piesacken. Einzig ein Englischlehrer (Paul Rudd) erkennt das Potential des Jungen. Dann aber lernt Charlie den schwulen Exzentriker Patrick (Ezra Miller, auf seiner beeindruckenden Leistung in We Need to Talk About Kevin aufbauend) und dessen Stiefschwester Sam (der ehemalige Harry Potter-Star Emma Watson, der eine rosige Zukunft im Schauspielfach winkt) kennen. Beide sind in ihrem letzten High-School-Jahr, nehmen den intelligenten Charlie aber trotzdem bald in ihre "Gruppe der Mauerblümchen" auf. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlt er sich akzeptiert und aufgenommen. Doch seine seelischen Wunden sind noch nicht verheilt.

Geht es um Pubertät, das Ende der Jugend, die letzte Etappe vor der Universität, dann schiessen in Hollywood die Klischees ins Kraut, selbst wenn viele davon nicht einmal annähernd zutreffen. Selten gelingt es einem Regisseur, sein Projekt vor überstilisierter Nostalgie oder abgedroschenen Stereotypen zu bewahren. Dass ausgerechnet Stephen Chbosky für die Alternative zeichnet – eine Geschichte, in welcher Schüler wie Erwachsene dreidimensionale Menschen sind –, ist keine Überraschung: The Perks of Being a Wallflower basiert auf dem gleichnamigen, 1999 veröffentlicheten Briefroman, für dessen Lebensechtheit der Autor, Chbosky selbst, frenetisch gefeiert wurde

Sei ein Sonderling und sei stolz darauf: Charlie (Logan Lerman, links), Patrick (Ezra Miller) und Sam (Emma Watson) – die "Mauerblümchen".
In seiner Adaption nimmt sich der 42-Jährige Neo-Klassiker der Neunziger-Popkultur wie Richard Linklaters Dazed and Confused oder die TV-Serie Daria wie auch neuere Werke, darunter Gus Van Sants Restless oder Drew Barrymores Whip It, zum Vorbild und liefert eine Coming-of-Age-Tragikomödie, in der witzige Eigenheiten und ernste Elemente Hand in Hand gehen. Die Ängste und Nöte der jungen Generation werden nicht bloss angetönt; sie bilden das Rückgrat der Erzählung. Mal enden Drogenexperimente in harmlosen Peinlichkeiten, mal im Krankenhaus. Charlie muss mitansehen, wie sich seine beste Freundin in einen anderen verliebt. Patricks Beziehung zum Footballstar der Schulmannschaft wird von dessen Furcht vor einem Coming Out überschattet. Sam hat, obwohl noch keine 20, schwere Probleme mit Männern und Alkohol hinter sich.

Chbosky inszeniert die Jugendzeit zwar mit bittersüsser Romantik, ist sich ihrer wahren Natur aber stets vollauf bewusst – siehe Charlies herausragende finale Ode. Es ist eine flüchtige, mysteriöse, faszinierende, schreckliche, wunderschöne Zeit, in der sich jeder der mitunter fatalen Illusion des Erwachsenseins hingibt. The Perks of Being a Wallflower ist einer jener Filme, von denen man sich wünscht, sie würden häufiger gemacht.

★★★★

Mittwoch, 14. November 2012

Dans la maison

Ein gutes Jahr, nachdem er mit dem zahnlosen Potiche einen nur mässig gelungenen Ausflug ins Fach der reinen Komödie unternommen hat, kehrt der renommierte französische Regisseur François Ozon nun zu seinem Kerngeschäft zurück. Dans la maison, ein bissiger Rundumschlag gegen die Marotten von Bourgeoisie und Möchtegern-Bohème, ist sein bestes Werk seit Jahren.

Kurz vor dem Ende der Sommerferien begibt sich der Französischlehrer Germain (Fabrice Luchini) ins Lycée Gustave Flaubert zur jährlichen Startkonferenz. Dort kündigt der Rektor an, das Gymnasium sei auserwählt worden, in einem Pilotprojekt das neueste pädagogische Mittel zu erproben: Schuluniformen. Wider Erwarten stösst das antiquierte Konzept nicht auf auf wütende Proteste, sondern eher desinteressiertes Schulterzucken, unter Lehrern und Schülern gleichermassen. So hat Germain zu Beginn des Schuljahres auch andere Sorgen: Seine neuen Zöglinge sind ein schreibfauler, ungebildeter Haufen, von denen, wie der frustrierte Pauker konstatiert, "kaum einer zwei gerade Sätze zu Papier bringt". Die Ausnahme bildet Claude (Ernst Umhauer), der in seinem eloquenten Aufsatz davon berichtet, wie er das Haus eines Freundes erkundet und sich dabei speziell für die Dame des Hauses (Emmanuelle Seigner) interessiert. Der Text endet mit einem schlichten "A suivre" – Fortsetzung folgt. Der Lehrer ermuntert den Schüler, die Geschichte weiterzuentwickeln. Während Germain und seine Frau (Kristin Scott Thomas) die weiteren Episoden richtiggehend verschlingen, werden Claudes Abenteuer immer gewagter. Aber das Ganze ist selbstverständlich nur Fiktion, oder?

Die Stärken und Schwächen François Ozons gehen oft Hand in Hand. Sein Stil ist unverkennbar: klare Farbgebung, manchmal knallig, manchmal schlicht; stilisierte, ja geradezu künstliche Erzählungen; in sich geschlossene Handlungsräume; unterschwellig erotische Spannungen, oft ausserhalb der gesellschaftlichen Norm; immer eine satirische Komponente. Mitunter funktioniert dies gut (Sous le sable, Swimming Pool), hin und wieder klappt es trotz arger Überzeichnung (8 femmes), mal ist die Angelegenheit schlicht zu überladen, zu künstlich, zu pastellfarben, um zu überzeugen (Potiche).

Literarische Abenteuer: Claude (Ernst Umhauer) nähert sich der Mutter (Emmanuelle Seigner) seines Freundes an.
Entsprechend erfreulich ist die Erkenntnis, dass sich der Regisseur der "Nouvelle Nouvelle Vague" in Dans la maison auf der Höhe seines Könnens befindet. Selten ist Ozon die Mischung aus Satire, Gesellschaftskritik, Charakterkomik, Handlung und Inszenierung so gut gelungen, kaum je fiel das Zusammenspiel des scheinbar leicht verdaulichen Inhalts und des gnadenlosen Subtexts so harmonisch aus. Auf den ersten Blick wirkt der Film harmlos, vielleicht nicht so putzig wie 8 femmes oder Potiche, aber sicher leichter als Swimming Pool. Unter der Fassade schlummert jedoch eine kleine, gemeine, bitterböse Abrechnung mit dem Selbstbetrug, den Heucheleien, den Unzulänglichkeiten der modernen Pädagogik – Schüler sind nicht mehr "élèves", sondern "apprenants", Prüfungen werden in grün korrigiert, denn rot ist "menaçant" – und der Bourgeoisie als solcher.

Dieses urfranzösische Motiv, welches jüngst auch in der Theaterverfilmung Le prénom aufgegriffen wurde, weiss Ozon äusserst elegant in seine Erzählung einfliessen zu lassen, welche sich an der Oberfläche – im Gegensatz zu The Words durchaus erfolgreich – mit der Macht der Worte auseinandersetzt, wobei Germain die Rolle des Shahryar, Claude die der Scheherazade, einnimmt. Die Bourgeoisie in Dans la maison ist eine, die sich in vielen Formen zeigt und dementsprechend auf unterschiedliche Weisen angegangen wird. Germain möchte ein "Artiste" der Bohème sein, kann die Ambition aber mangels Schreibtalent nicht erfüllen und ist darüber hinaus auch noch mit einer Galeristin verheiratet, deren Sexpuppen-Exponate er weder versteht noch gut heisst. Claude hingegen schreibt in seinem Porträt der Familie Artole den Durchschnitt gross: "Normal" sei die Sippe, "Musterbeispiele der Mittelklasse". Es klingt nicht wie ein Kompliment. Zu guter Letzt ortet Ozon die Bourgeoisie auch in der Politik. Seine Anfangsmontage, in welcher er Hunderte von Schülern – europäisch, nord- und südafrikanisch, asiatisch – in ihren Uniformen mittels Jump Cuts zeigt, ist so virtuos wie sprechend: Bourgeoise Anpassung ist eine Illusion.

Blattkritik: Lehrer Germain (Fabrice Luchini) berät den Schreiberling.
Gezeigt werden diese Aspekte mit komödiantischen Einschlägen, welche versuchen, eine realistische Alternative zu Luis Buñuel darzustellen; mit schöner Regelmässigkeit beruft sich der Film auch auf das Chabrol'sche Psychodrama; in gewissen Momenten schwingt sogar eine Spur von Michael Haneke mit; in einer Szene verneigt sich Ozon obendrein vor Woody Allens düsterer Gesellschaftssatire Match Point. Zwar droht das ganze wunderbar geschliffene, sorgfältig aufgebaute Gebilde im letzten Akt auseinanderzufallen, doch genau dann wird der Wert eines guten Casts erkennbar. Fabrice Luchinis Darbietung pendelt stets zwischen der leichten Muse und der grossen Tragödie und erreicht in Germains finalem psychischen Bankrott ihren Höhepunkt.

Der perfekte Film mag François Ozon noch immer nicht gelungen sein, doch Dans la maison ist zweifellos ein bedeutender Schritt in die richtige Richtung. Nie war seine Kritik an der Bourgeoisie kraftvoller als im rabenschwarzen Schlussbild des Films, in dem sich die in ihre Einzelteile aufgespaltene Mittelklasse wortwörtlich selbst zerstört. Claude Chabrol wäre stolz.

★★★★

Montag, 12. November 2012

Argo

Noch vor wenigen Jahren füllte Ben Affleck mit seiner Beziehung zu Jennifer Lopez die Spalten der Klatschpresse – "Bennifer" war das gängige Portemanteau. Heute gilt er als einer der besten Regie-Quereinsteiger, ein Ruf, den er in seinem dritten Film virtuos bestätigt. Argo ist ein spannender, vorzüglich in Szene gesetzter Blick auf eine skurrile Episode der jüngeren amerikanischen Geschichte.

Teheran, 1979: Der mit eiserner Faust regierende persische Schah Mohammed Reza Pahlavi wird während der islamischen Revolution gestürzt und muss sich ins Exil in die USA begeben. Da die Regierung Jimmy Carters sich weigert, den Monarchen an den Iran auszuliefern, richtet sich der Zorn der Getreuen des Ayatollah Khomeini gegen die Botschaft der Vereinigten Staaten in Teheran. Ein wütender Mob stürmt das Gebäude und nimmt 52 Angestellte als Geislen. Sechs US-Diplomaten jedoch können ihren Häschern durch eine Hintertür entwischen und suchen Zuflucht in der kanadischen Botschaft. Für die CIA drängt die Zeit: Das Sextett muss aus dem Iran ausgeflogen werden, bevor die Revolutionstruppen ihr Fehlen bemerken. Agent Tony Mendez (Ben Affleck) hat die womöglich rettende Idee: Die entkommenen Diplomaten sollen als kanadisches Filmteam getarnt und unverdächtig nach Hause geholt werden. Nachdem Mendez seinen Vorgesetzten (Bryan Cranston) von der ungewöhnlichen Strategie überzeugt hat, macht er sich sofort an die Arbeit: Maskenbildner John Chambers (John Goodman) und Produzent Lester Siegel (Alan Arkin) werden engagiert, um dem fiktiven Filmprojekt einen glaubwürdigen Hintergrund zu verschaffen.

Ein nahöstlich aussehender Mann wird in einer amerikanischen Stadt von einer wütenden Menge eingekreist, hilflos und verängstigt blickt er drein, Gefahr geht offensichtlich keine von ihm aus. Dennoch schreien die Menschen auf ihn ein, einer schlägt ihn zu Boden, tritt unter ermunternden Zurufen auf ihn ein. Man denkt an Brandanschläge auf Moscheen im Herzen Amerikas, an psychisch Gestörte, die das Feuer auf Sikhs eröffnen, weil deren Turbane sie irritieren. Die Szene könnte aus der Gegenwart stammen – vielleicht gespielt, denn Xenophobie äussert sich heutzutage in der Regel ja nicht mehr dermassen öffentlich –, wäre da nicht die unverwechselbare Kleider- und Haarmode. Was Ben Affleck auf einem Fernsehbildschirm zeigt, ist eine Fernsehaufnahme aus dem Jahr 1979 und sie zeigt den ersten grossen Ausbruch amerikanischer Islamophobie.

Vorbereitung im Hollywood-Stil: CIA-Agent Tony Mendez (Ben Affleck, rechts) mit Produzent Lester Siegel (Alan Arkin, Mitte) und Maskenbildner John Chambers (John Goodman).
Tatsächlich ist Argo noch vor seinen zahlreichen filmischen Tugenden ein Meisterstück an zeitgeschichtlicher Kontextualisierung. Anders als vergleichbare Werke zum Thema setzt er – in einer grossartigen, im Stile eines Storyboards inszenierten Eingangssequenz – in den Fünfzigerjahren an und ergänzt das "Die USA wurde von religiösen Fanatikern angegriffen"-Narrativ um einige essentielle Komponenten: die Wahl des säkularen Mohammed Mossadegh zum iranischen Premierminister 1951, seine Umstrukturierung des Ölhandels, seinen durch die USA orchestrierten Sturz und die darauf folgende, von Präsident Eisenhower abgesegnete Diktatur Reza Pahlavis. Ohne grossen Aufwand gelingt es Ben Affleck in wenigen Augenblicken, viel über die heutige Beziehung zwischen Amerika und dem muslimisch geprägten Nahen Osten zu sagen. Es ist die Effizienz eines Regisseurs, der das Zeug dazu hat, dereinst in die Fussstapfen Clint Eastwoods oder Martin Scorseses zu treten.

Es bedurfte eines besonderen Talents, ein Projekt wie Argo stilsicher zur Vollendung zu bringen. Der Film ist eine innerlich zerrissene Angelegenheit, irgendwo zwischen Good Night, and Good Luck und Charlie Wilson's War; er muss die ernste Prämisse mit den leichteren Elementen, insbesondere der verschmitzten Hollywood-Persiflage ("You could teach a rhesus monkey to direct in a day"), in Einklang bringen. Und tatsächlich hat es Affleck irgendwie geschafft, die ernsthaften Töne das Geschehen dominieren zu lassen – vor seiner Übernahme des Projekts hätte der Streifen eine Komödie sein sollen –, ohne dabei den Humor ganz zu verdrängen. Während in Teheran die Schüsse fallen und die Botschaftsangestellten psychischer Folter ausgesetzt sind, necken sich in Los Angeles die ungemein spielfreudigen John Goodman und Alan Arkin gegenseitig, lässt sich in Washington Bryan Cranston über die Regierenden aus ("It's like talking to those two old fucks from the Muppets"). Was unbeholfen und geschmacklos wirken sollte, funktioniert wundersamerweise ohne grössere Probleme.

An Ort und Stelle: Mendez mit den geflohenen Diplomaten auf dem Teheraner Markt.
Zentral in der Vision von Affleck und seinem Drehbuchautoren Chris Terrio sind dabei die Siebzigerjahre, dramaturgisch wie ästhetisch. Die geheime Mission des Tony Mendez fesselt, mit ganz wenigen Abstrichen, vom grandiosen ersten Akt bis zum atemlosen Höhepunkt auf dem Teheraner Flughafen, mutet aber zu keinem Zeitpunkt überhastet oder gar verwirrend an. Argo zeigt auf virtuose Art und Weise, welches Potential harten Fakten innewohnen kann; Erinnerungen an Alan J. Pakulas Meisterwerk All the President's Men sind durchaus angebracht, auch im Bereich von Bildgestaltung und Mise en scène. Nicht genug damit, dass der Zuschauer zu Beginn von einem gut 40 Jahre alten Warner-Bros.-Emblem begrüsst wird, der Film hält, was sein Vorspann verspricht: atmosphärisch körniges Bild – Affleck liess die Originalaufnahmen um zweihundert Prozent vergrössern –, hervorragende Szenenbilder, stimmige Kostüme. Vor dem zu Recht für seine Epochentreue gelobten Tinker Tailor Soldier Spy muss sich Argo wahrlich nicht verstecken.

Keine Verschwörungstheorien, keine "Was wäre, wenn"-Fantasien, keine parteiische Interpretation des Geschehenen, bloss ein schlichtes "Based on a true story" und ein kurzes Statement von Ex-Präsident Carter genügen Affleck, um einen Schlusspunkt unter seine dritte Regiearbeit zu setzen. Mit kühler Zurückhaltung, intellektueller Bescheidenheit und viel Liebe zum Detail erzählt Argo eine jener Geschichten, die nur das Leben selbst schreiben kann.

★★★★

Donnerstag, 8. November 2012

Skyfall

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.


Nur wenige fiktive Figuren erfreuen sich so grosser und anhaltender Beliebtheit wie Ian Flemings Geheimagent James Bond. 50 Jahre nach der ersten Kinoadaption lockt nun der 23. Film der Serie ins Kino. Skyfall bleibt der Serienlinie treu: ein aufwändiger, solider Actionfilm mit Edel-Label.

Harte Zeiten für MI6-Chefin M (Judi Dench): Eine vom britischen Geheimdienst gehütete Liste mit NATO-Undercoveragenten wird in Istanbul entwendet. Beim Versuch, sie dem Dieb zu entreissen, wird Top-Spion James Bond (Daniel Craig) von seiner Partnerin (Naomie Harris) versehentlich angeschossen und muss als "missing, presumed dead" abgebucht werden. Kurz darauf wird das Hauptquartier von MI6 zum Ziel eines Anschlags, woraufhin M sich beim Beamten Gareth Mallory (Ralph Fiennes) und vor einem Regierungsausschuss verantworten muss. Als der tot geglaubte Bond wieder auftaucht, macht er sich auf die Suche nach demjenigen, der die Angriffe auf den Geheimdienst orchestriert hat – obwohl er seine Position nur unter Vorbehalt wieder einnehmen darf. Nach einem mässig erfolgreichen Training und einem eher frustrierenden Treffen mit dem Computer-Tüftlergenie Q (Ben Whishaw) gelangt er über die verführerische Sévérine (Bérénice Lim Marlohe) zu Raoul Silva (Javier Bardem), der einen persönlichen Rachefeldzug gegen M und das Vereinigte Königreich führt.

Am 5. Oktober 1962 startete Dr. No mit dem jungen Schotten Sean Connery in der Hauptrolle in den Kinos. Der Film avancierte zum Kassenschlager und ebnete den Weg für sämtliche 007-Streifen, die seither über die Leinwände flimmerten. Ganz dem Jubiläum entsprechend, erweisen Top-Liga-Regisseur Sam Mendes (American Beauty, Revolutionary Road) und das Autorenteam Neal Purvis, Robert Wade und John Logan in Skyfall der Seriengeschichte ihre Reverenz: Der alte Aston Martin – mit "Eject"-Knopf – wird aus der Versenkung geholt, Gut und Böse prügeln sich auf dem Dach eines fahrenden Zuges, klassische Figuren wie Q und Moneypenny tauchen in Neubesetzung wieder einmal auf. Doch die Nostalgie hat ihre Kehrseite. Bond und M kämpfen gegen ihren Ruf als Auslaufmodelle, Q schmunzelt, die Zeit der explodierenden Kugelschreiber sei vorbei. Das Fazit am Ende ist ebenso bewährt wie vorhersehbar: Neue Besen kehren gut, aber die alten kennen die Ecken.

James Bond (Daniel Craig, links) wird vom mysteriösen Superschurken Raoul Silva (Javier Bardem) festgehalten.
Fans der Serie werden zweifelsohne ihre Freude am Geschehen haben, auch wenn 007 sich ausnahmsweise nur einen Martini und keine wirkliche Sexszene gönnt. Aber Skyfall deutet, wie schon viele seiner Vorgänger, unabsichtlich auf eine tiefer liegende Problematik hin. Nähme man das Element "James Bond" aus der Gleichung, erhielte der Film weder den Hype noch die begeisterten Kritiken, welche derzeit omnipräsent sind. Das Ganze würde nüchterner betrachtet, im Guten wie im Schlechten. Denn in seinem Kern ist der 23. Bond ein eher durchschnittlicher Actionfilm, der erst 110 Minuten Anlaufzeit braucht, um das Publikum mit 30 Minuten bester Unterhaltung zu belohnen. Zwar begeistern Roger Deakins' Panorama-Bilder, ebenso Adeles Titelsong und der britische Mimen-Hochadel von Ralph Fiennes bis Judi Dench, unterstützt vom Spanier Javier Bardem, zeigt sich in guter Form – allen voran der Schrotflinten schwingende Albert Finney, bei dem ein Hauch von Walter Brennans Stumpy aus Howard Hawks' Rio Bravo mitschwingt. Doch Skyfall bietet eben auch genreübliche Plotlöcher, farblose (Daniel Craig) oder schlicht stümperhafte (Bérénice Lim Marlohe) Darsteller, schwache Effekte und haarsträubend abgedroschene Dialoge. Bond war schon immer mehr Schein als Sein und seine neueste Mission veranschaulicht dies in greller Deutlichkeit.

★★

Sonntag, 4. November 2012

On the Road

Dass eines der Kultwerke der Beat-Generation, Jack Kerouacs autobiografischer Roman On the Road aus dem Jahr 1957, als "unverfilmbar" gilt, ist nicht der einzige Grund, warum Walter Salles' Adaption verhältnismässig viel Aufmerksamkeit erhält. Denn eine Kinoverfilmung ist bereits seit 55 Jahren in Planung, Namen wie Marlon Brando, Francis Ford Coppola, Gus Van Sant, Joel Schumacher, Brad Pitt, Colin Farrell und Ethan Hawke wurden über die Jahrzehnte mit dem Projekt assoziiert. Die mehr als ein halbes Jahrhundert dauernde Pre-Production merkt man dem Film kaum an. Im Gegenteil: On the Road lässt das Gefühl vermissen, auf grosser Literatur zu basieren.

USA, 1947: Der Tod seines Vaters stürzt den Möchtegern-Schriftsteller Sal Paradise (Sam Riley) in eine Lebens- und Schaffenskrise. Hilfe erhält er aus ungewöhnlicher Quelle: Sein Freund Carlo Marx (Tom Sturridge) stellt ihm den rebellischen Dean Moriarty (Garrett Hedlund) und dessen erst 16-jährige Ehefrau Marylou (Kristen Stewart) vor. Die beiden Lebenskünstler faszinieren den eher häuslichen Sal und er macht sich mit ihnen auf, die grosse Weite Amerikas zu durchqueren. Frei nach dem Motto "Sex, Drugs, and Bebop-Jazz" erkunden die Taugenichtse in mehreren Etappen, über mehrere Jahre hinweg, mal zusammen, mal getrennt, das Land, treffen auf Verbündete und Gleichgesinnte wie etwa den exzentrischen Autor Old Bull Lee (Viggo Mortensen) und ertragen Deans Hin und Her zwischen Marylou und Camille (Kirsten Dunst). Derweil macht sich Sal eifrig Notizen, denn den Traum vom grossen amerikanischen Roman hat er noch nicht aufgegeben.

Die Bedeutung von On the Road liegt bekanntermassen in zwei Aspekten: Zum einen wäre da Kerouacs Prosa, welche der literarischen Beat-Kunst praktisch im Alleingang eine Stimme gab. Sie begründete, was Ginsberg und Burroughs in Howl und Naked Lunch zur Vollendung bringen sollten. Zum anderen ist das Buch ein essentielles Stück Kulturgeschichte; es erzählt von der grossen Zeitenwende nach Wirtschaftskrise und Weltkrieg, als die junge, desillusionierte College-Generation – zu jung um gekämpft zu haben, zu alt, um als Kinder zu gelten – nach neuen Ausdrucksformen suchte. On the Road schlägt die Brücke zwischen Amerikas erster Hälfte des 20. Jahrhunderts, die mit den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki zu Ende ging, und der zweiten, welche um 1950 ihren Anfang nahm.

Schreiberling Sal (Sam Riley, links) und der rebellische Dean (Garrett Hedlund) ziehen gemeinsam durch die USA.
Walter Salles (Diarios de motocicleta) ist sich beider Tatsachen bewusst. Oft zitiert er das Original Wort für Wort, er lässt die Inkarnationen von Kerouacs Mitstreitern Allen Ginsberg (Carlo Marx) und William S. Burroughs (Bull Lee) ihr Schaffen selbstreflexiv kommentieren – "I'm 21. When I'm 23, I'm gonna write one big poem", so etwa Carlo –, der Plot ist fast sklavisch der Vorlage unterworfen. Stimmig wirkt dies nicht immer. Um dem Sinn und Geist des Autors gerecht zu werden, opfern Salles und Drehbuchverfasser José Rivera die Stringenz, das Ganze wirkt episodenhaft und unausgeglichen. Beziehungen werden eingeführt, nur um gleich wieder von der Bildfläche zu verschwinden; wie genau es zur Freundschft zwischen Sal und Dean kommt, bleibt ebenso offen wie der Zweck von den unnötigen – obgleich schauspielerisch ansprechenden – Gastauftritten von Steve Buscemi und Amy Adams.

Besser schneidet On the Road beim Versuch ab, den Subkultur-Zeitgeist einzufangen. Zwar erweist sich die Palette der Darsteller als unterschiedlich begnadet, wobei mitunter das Gefühl entsteht, man wohne einer Retro-Kostümparty bei. Kristen Stewart und Kirsten Dunst lassen Tiefgang vermissen, während sich Sam Riley, der nach Ian Curtis in Control wieder eine Ikone der Gegenkultur spielen darf, und vor allem Garrett Hedlund wacker schlagen. Glücklicherweise machen die Bilderwelten von Kameramann Éric Gautier viele der erzählerischen Mängel des Films wett. Fast jede Einstellung ist ein kleines Sepia-Kunstwerk – vor allem dann, wenn die streckenweise irritierend hektische Kamera einmal innehält. Mithilfe der stilsicheren Ausstattung gelingt es Salles und Gautier, eine effektive Atmosphäre bittersüsser Nostalgie zu konstruieren. Die Schatten der Vergangenheit sind noch nicht überwunden – auf den Feldern Kaliforniens stehen die Schwarzen und pflücken Baumwolle –, doch die Nuclear Family der sich anbahnenden Fünfzigerjahre kündigt sich bereits auf Werbetafeln im unbebauten Niemandsland an.

"My life on the road": Sal bringt seine Erlebnisse zu Papier.
In diesem Rahmem wird noch einmal die letzte grosse Ära amerikanischer Wanderlust zelebriert. Sal, Dean und Marylou bewegen sich von Algiers, Louisiana, nach San Francisco, von Willcox, Arizona, nach Denver und New York; die USA, von der Kleinstgemeinde bis zur Wolkenkratzer-Metropole, werden abgelaufen und -gefahren. Bewohnt wird das Land von einem grundverschiedenen Volk, ethnisch – in einer der besten Szenen brüstet sich Dean damit, dass seine Tochter englisches, deutsches, irisches, holländisches und schottisches Blut in sich trägt ("100 per cent wonderful") –, aber auch ideologisch, womit On the Road auch hervorragend ins heutige Amerika passt. Der Film spielt in einer romantisierten Zeit, in der ein gebildeter Schreiberling wie Sal von einem Pick-Up-Truck aus Iowa nicht nur als Anhalter mitgenommen wird, sondern von den ebenfalls mitreisenden Hinterwäldlern aufs Herzlichste empfangen wird.

Es fällt schwer, den Vergleich zwischen Walter Salles' Film und der aktuellen Adaption von The Rum Diary nicht zu bemühen, nicht zuletzt, weil Ersterer Sal als eine Art Prototyp von Hunter Thompson inszeniert. Beide versuchen sich an einem Koloss der amerikanischen Untergrundliteratur, beide gehen die Sache zu zahm an. On the Road begeht keineswegs Verrat an Jack Kerouacs Meisterstück, doch er verpasst es, dem Werk ein substantielles filmisches Denkmal zu setzen. Er zieht vorbei, ohne Spuren zu hinterlassen.

★★★

Freitag, 2. November 2012

Robot & Frank

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.


Die Technologie schreitet mit riesigen Schritten voran, die Science-Fiction-Vision der hochintelligenten Roboter könnte bald Wirklichkeit werden. Der kuriose Genre-Mix Robot & Frank versucht, die Beziehung zwischen Mensch und Machine neu zu bewerten.

In der nahen Zukunft gehören spezialisierte Roboter in Privat- und Berufsleben zum Alltagsbild. In der Bibliothek ordnet ein grauer Kunststoffquader auf Rädern die verbliebenen phyischen Druckwerke ein, im Altersheim halten die mechanischen Kameraden die grauen Zellen der Insassen auf Trab. Auch Frank (Frank Langella), Juwelendieb im Ruhestand, muss sich mit der neuen Technik anfreunden: Trotz seiner regelmässigen Bücherei-Besuche – er findet Gefallen an der menschlichen Bibliothekarin (Susan Sarandon) – wird seine schleichende Demenz schlimmer. Sein Sohn Hunter (James Marsden) will nicht mehr untätig dabei zusehen. Also kauft er einen Hilfsroboter (Stimme: Peter Sarsgaard), der den geistigen Zerfall seines Vaters aufhalten soll. Doch nicht nur Hunters Schwester (Liv Tyler), auch Frank selber ist die "Blechbüchse" suspekt. Nach und nach wächst ihm der Roboter aber dennoch ans Herz, nicht zuletzt weil dieser ihn dazu animiert, seinen alten Beruf wieder auszuüben.

Als gelernter Musikvideo- und Werbefilmer ist der debütierende Regisseur Jake Schreier mit der Kunst der feinen Publikumsmanipulation bestens vertraut. Zusammen mit Autor Christopher D. Ford vermischt er in Robot & Frank die "hohe" mit der "tiefen" Erzählkunst. Fadenscheinige Twists, exzessive Musikuntermalung und einige hölzerne Dialoge rufen das klassische TV-Melodram in Erinnerung; dann wieder gelingt es Schreier und Ford, mit hintergründigem Humor treffende Kommentare über Alter, Demenz und Vereinsamung anzubringen, die in Hollywoodfilmen nicht eben verbreitet sind. Angereichert wird das trotzdem überraschend stringente, äusserst kurzweilige Potpourri mit einer womöglich etwas zu zahmen, dafür angenehm unaufdringlichen Fantasie einer Zukunft, in der das Geld bei den Hipstern sitzt, förmliche Anlässe von synthetisierter klassischer Musik begleitet werden und randlose Ray-Ban-Brillen der letzte Schrei sind.

Ein seltsames Paar: Rentner Frank (Frank Langella) erhält einen Roboter (Stimme: Peter Sarsgaard) als Haushaltshilfe.
Doch die Ziele von Robot & Frank sind höher gesteckt; sie reichen über das blosse Aufzeigen altersbedingter Isolierung hinaus. Dem Film ist offenkundig daran gelegen, über die Interaktion zwischen den Menschen und der von ihnen kreierten künstlichen Intelligenz nachzudenken; immerhin prophezeien führende Futurologen bereits Arbeitsrechte für Roboter. In dieser Hinsicht erweisen sich Schreier und Ford aber als nicht sonderlich visionär. Zwar ist das Fazit, welches die beiden letztendlich ziehen, durchaus korrekt – unter Zuhilfenahme Descartes' beschreibt der Roboter seine geistige Nichtexistenz –, doch es ist zu sehr an den Status quo gebunden; es liefert keinen befriedigenden Ausblick.

Im Ganzen aber ist Jake Schreiers Debüt besser als die Summe seiner Einzelteile. Manche Aspekte mögen irritieren, doch im Endeffekt weiss es gleichermassen zu unterhalten und zu berühren, wobei vieles davon auf den unbestrittenen Höhepunkt des Films zurückzuführen ist: Hauptdarsteller Frank Langella, der, wie ein Kritiker es ausdrückt, "von Dracula bis Nixon alles gespielt hat", liefert eine subtile Darstellung voller Nuancen, voller Lakonie und Melancholie. Es ist sein Verdienst, dass Robot & Frank in Erinnerung bleibt.

★★★