Donnerstag, 25. Oktober 2012

De rouille et d'os

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Zwei BAFTA-Awards, 2006 und 2010 der haushohe Sieger bei den Césars, begeisterte Kritiker – Jacques Audiard gehört zweifellos zu den erfolgreichsten zeitgenössischen Regisseuren Frankreichs. Nun kehrt der Drama-Spezialist nach drei Jahren Pause mit De rouille et d'os triumphal zurück.

Ohne Arbeit, Geld und Perspektive hält es den Ex-Boxer Alain, genannt Ali (Matthias Schoenaerts), nicht mehr im französischen Norden. Also schnappt er sich seinen fünfjährigen Sohn und fährt per Zug gen Süden, um dort sein Glück zu versuchen. An der Côte d'Azur zieht er bei seiner Schwester (Corinne Masiero) und deren Mann ein und findet bald schon einen Job als Türsteher in einem Nachtklub. Eines Nachts kommt es vor dem Eingang zu einer Schlägerei, bei der die Waldompteurin Stéphanie (Marion Cotillard) leichte Verletzungen davonträgt. Ali fährt die Frau nach Hause, wo ihr launischer Freund auf sie wartet; er lässt ihr zur Sicherheit seine Telefonnummer da. Einige Monate später klingelt dann tatsächlich sein Handy: Stéphanie hat bei einem Arbeitsunfall beide Beine verloren und versinkt in Depressionen. Ali hilft ihr, wieder ins Leben zurückzufinden, doch vor einer Liebesbeziehung schreckt er zurück. Viel lieber konzentriert er sich auf seine neue Karriere als Boxer in geheimen Strassenkämpfen.

Wenn Jacques Audiards oscarnominierter Grosserfolg Un prophète einen Makel hatte, dann der, dass man sich als Zuschauer oft ein wenig distanziert vorkam, dass sich auf der Leinwand eine brillant gemachte, hochinteressante Milieustudie abspielte, der aber das menschliche Element abzugehen schien. In dieser Hinsicht ist De rouille et d'os die willkommene Umkehr von Audiards Gefängnisdrama: Auch hier geht es um eine Parallelgesellschaft, deren Alltag in der Grauzone der Legalität verläuft und in der kleinkriminelle Handlungen die Tagesordnung bestimmen. Der Unterschied jedoch ist, dass hier die Schwerpunkte der Geschichte vertauscht wurden: Die Beziehung zwischen Ali und Stéphanie bildet das emotionale Zentrum, das Rückgrat des Films, während der gesellschaftliche Aspekt ein Nebenschauplatz ist, spannend, aber nicht dominant.

Der bodenständige Ali (Matthias Schoenaerts) bringt Stéphanie (Marion Cotillard) nach ihrem Unfall dazu, wieder am Leben teilzunehmen.
Diesbezüglich profitiert der Film von seinem Hauptdarstellerpaar. Marion Cotillard, die überwiegend mit per CGI wegretouchierten Unterschenkeln agiert – der Effekt ist beeindruckend –, beweist erneut, dass sie ihr ganzes Potenzial nur in ihrer Muttersprache abzurufen vermag, und steuert souverän auf einen möglichen zweiten Oscar (nach La Môme) zu. Ihr zur Seite steht Matthias Schoenaerts, der hier direkt an seine intensive Darbietung im belgischen Drama Bullhead anknüpft und eine veritable Tour de Force, in der sich Einfühlsamkeit und Aggression die Waage halten, abliefert.

Beide werden von Audiard souverän durch einen assoziativen, vielschichtigen Plot geführt – der Film basiert auf einer Kurzgeschichtensammlung des Kanadiers Craig Davidson –, dem es gelingt, die Spannung auf allen Ebenen zwei Stunden lang durchzuhalten. Und Audiard wäre nicht er selber, wenn er es nicht auch verstünde, die ganze Angelegenheit hervorragend zu inszenieren. Alexandre Desplats wie gewohnt hochklassiger Musikscore wechselt sich mit eklektischen Einspielern (Bon Iver, Katy Perry, Bruce Springsteen) ab; Kameramann Stéphane Fontaine, der mit dem renommierten Briten Barry Ackroyd zusammengespannt hat, ist ganz nah am Geschehen dran, was zusammen mit der stimmig eingesetzten Überbelichtung ein ungemein intensives Kinoerlebnis zur Folge hat. De rouille et d'os erschüttert, berührt und fasziniert. Keine leichte Kost, dafür umso lohnenswerter.

★★★★

Samstag, 20. Oktober 2012

Die besten Filme aller Zeiten?


Vor rund zwei Monaten hat das Magazin des British Film Institute, Sight & Sound, seine zehnjährliche Liste der "besten Filme aller Zeiten" veröffentlicht (Top 50). Gefragt wurden Hunderte von Filmkritikern, Branchenexperten und Regisseuren. Das Resultat fiel folgendermassen aus:

1. Vertigo (Alfred Hitchcock, 1958)
2. Citizen Kane (Orson Welles, 1941)
3. Tokyo Story (Yasujiro Ozu, 1953)
4. La règle du jeu (Jean Renoir, 1939)
5. Sunrise (F. W. Murnau, 1927)
6. 2001: A Space Odyssey (Stanley Kubrick, 1968)
7. The Searchers (John Ford, 1956)
8. Man with a Movie Camera (Dziga Vertov, 1939)
9. La passion de Jeanne d'Arc (Carl Theodor Dreyer, 1928)
10. (Federico Fellini, 1963)

Allzu viel hat sich also seit 2002 nicht verändert, abgesehen davon, dass die 50-jährige Herrschaft von Citizen Kane ein Ende fand, dass Sergei Eisensteins Kritiker- und Filmhistorikerliebling Battleship Potemkin aus der Top 10 fiel und dass mit The Searchers der Western wieder Einzug hält.

Was aber Filmfans auf aller Welt irritierte war eine rein formale Tatsache: Nur zwei der bestplatzierten Filme sind jünger als 50 Jahre. "Kritiker sind feige", hiess es. Als "überaltert", "konservativ" und "realitätsfern" wurden sie beschmipft.

Wo aber ist das Problem? Zunächst einmal sind derartige Listen reine Spielerei, ein alle zehn Jahre stattfindender Zeitvertreib, dessen interessanteste Komponente die individuellen Listen der einzelnen Filmemacher sind.

Darüber hinaus nimmt die Klassikerwerdung eines Films viele Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte in Anspruch. Trotz aller Genialität von Filmen wie The Social Network, No Country for Old Men oder A Separation wäre es doch vermessen, diese bereits wenige Jahre nach ihrem Erscheinen in eine Linie mit den Meisterwerken Eisensteins, Renoirs, Hitchcocks oder Welles' zu stellen.

Die Liste ist anderweitig zweifelhaft. Während sich in der Top 50 drei Filme Francis Ford Coppolas und sogar vier von Jean-Luc Godard finden, müssen sich Meister wie Ingmar Bergman, John Ford oder Charlie Chaplin mit einer Nennung begnügen. Ganz zu schweigen von Luis Buñuel, Vsevolod Pudovkin und D. W. Griffith (!), von denen es niemand auf die Liste geschafft hat.

Letzten Endes jedoch ist die BFI-Liste eben nur eine Aufstellung und immerhin eine, die aufzeigt, wie viel die Filmhistorie noch zu bieten hat. Zudem gewährt sie einen spannenden Einblick in die Präferenzen der Befragten.

Und eben gerade weil das Ganze eine einzige Spielerei für Filmliebhaber ist, will ich meine hypothetische Liste niemandem vorenthalten. Zwar gibt es immer noch etliche essentielle Filme, welche ich nicht gesehen habe, welche aber beim Erstellen dieser Liste unverzichtbar wären – The Birth of a Nation, The Grapes of Wrath und Tokyo Story, um nur drei zu nennen –, doch den Spass will ich mir nicht nehmen lassen.

Diese zehn Filme sind für mich die besten Filme aller Zeiten – nicht aber meine Lieblingsfilme –, ermittelt nach möglichst objektiven Gesichtspunkten. Müsste ich bei der BFI-Umfrage meine Stimme abgeben, würde ich diese alphabetisch und nicht qualitativ geordnete Auflistung einreichen. Und welch Überraschung: Der jüngste Film ist 44 Jahre alt.

- 2001: A Space Odyssey (Stanley Kubrick, 1968)
- Battleship Potemkin ("Броненосец 'Потёмкин'", Sergei Eisenstein, 1925)
- Un chien andalou (Luis Buñuel, 1929)
- City Lights (Charlie Chaplin, 1931)
- Les enfants du paradis (Marcel Carné, 1945)
- Intolerance (D. W. Griffith, 1916)
- The Searchers (John Ford, 1956)
- The Seventh Seal ("Det sjunde inseglet", Ingmar Bergman, 1957)
- Sunset Boulevard (Billy Wilder, 1950)
- Throne of Blood ("蜘蛛巣城", Akira Kurosawa, 1957)

Donnerstag, 18. Oktober 2012

Arbitrage

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.


Die globale Finanzkrise hält an und mit Arbitrage kommt ein weiterer cineastischer Beitrag zum Thema ins Kino. Grosse Neuerungen hat Nicholas Jareckis solides Thrillerdrama zwar nicht zu bieten, doch es überzeugt mit guten Schauspielerleistungen und klug dosierter Nostalgie.

Andere Männer verbringen ihren 60. Geburtstag im Kreise der Familie und freuen sich insgeheim schon auf den langsam in Reichweite rückenden Ruhestand. Ganz anders Robert Miller (Richard Gere), milliardenschwerer Hedge-Fund-Manager: Auch an seinem Ehrentag gönnt ihm sein Terminkalender keine Ruhe. Sitzt er nicht an seinem Schreibtisch im Privatjet, befindet er sich in Verhandlungen um den Verkauf seiner Firma. Abends lässt er sich von seiner Familie feiern, danach besucht er seine heimliche Geliebte Julie (Laetitia Casta). Doch das erfolgreiche Leben ist in akuter Gefahr: Nachdem sich Robert in Russland verspekuliert hat, klafft in seinen Finanzen ein riesiges Loch, das er mit dem Profit seines Firmenverkaufs zu stopfen gedenkt. Ein Fehltritt könnte die ganze Aktion ins Wanken bringen. Es kommt, was kommen muss: Als er mit Julie im Auto unterwegs ist, baut er einen Unfall, bei dem sie ums Leben kommt. Nun muss Robert alles daran setzen, seine Schuld zu vertuschen. Damit bringt er seine Frau Ellen (Susan Sarandon) sowie seine Tochter und Geschäftspartnerin Brooke (Brit Marling) in eine heikle Situation, welche vollends aus dem Ruder zu laufen droht, als Polizeiinspektor Bryer (Tim Roth) beginnt, dem Ex-Häftling Jimmy (Nate Parker) nachzustellen, der Robert vom Unfallort abgeholt hat.

In den vergangenen Jahren waren Irrationalität, Verlogenheit und Unbelehrbarkeit der Finanzwirtschaft schon mehrfach Stoff für erfolgreiche Filme. Charles Fergusons oscarprämierte Dokumentation Inside Job aus dem Jahr 2010 deckte kompromisslos die begangenen Fehler auf und scheute nicht davor zurück, die Namen der Verantwortlichen zu nennen. Im folgenden Jahr rekonstruierte J. C. Chandor die zum Symbol der Finanzkrise gewordenen Kollapse von Goldman Sachs, Lehman Brothers und Bear Stearns in Margin Call. Und 2012 präsentierte David Cronenberg in der enigmatischen Don-DeLillo-Adaption Cosmopolis eine radikale Abrechnung mit dem modernen Kapitalismus. Zu sagen, dass sich Arbitrage irgendwo zwischen diesen drei Filmen bewegt, wäre aber zu kurz gegriffen. Spielfilmdebütant Nicholas Jarecki vermischt Aktualitätsbezug mit Rückgriffen auf Schlüsselwerke der vor gut 25 Jahren aufgekommenen "New Economy", insbesondere auf Oliver Stones Wall Street – Robert Miller wirkt wie ein weniger zynischer Gordon Gekko – und die John-Grisham-Romane und -Verfilmungen (etwa Sydney Pollacks The Firm).

Sorgenvolle Zukunft: Hedge-Fund-Manager Robert Miller (Richard Gere) sieht sich mit grossen Problemen konfrontiert.
Bei einer derartig geballten Ladung an Einflüssen ist eigentlich nur logisch, dass Arbitrage in Ästhetik und Plot mitunter etwas antiquiert wirkt. Jareckis Botschaft ist dies aber glücklicherweise nicht abträglich; Wall Streets Teufelskreis ist unmissverständlich: Spekulationsblase reiht sich an Spekulationsblase, jedem Boom folgt eine Rezession und am Ende gewinnt immer das ominöse "eine Prozent". Die Geschichte, die um dieses Gerüst herum aufgezogen wird, besticht durch bewährte Spannungsmache, atmosphärische Inszenierung und eine Schauspieltruppe, die bis in die Nebenrollen überzeugt – grosses Lob an Nate Parker und Tim Roth – und von einem Richard Gere in Bestform angeführt wird. Nach einer mehrjährigen Durststrecke darf dieser wieder einmal sein ganzes Talent ausspielen. Gere schafft es, Robert Miller eine ungeahnte Dreidimensionalität zu verleihen, wodurch es Arbitrage gelingt, der kühlen Materie menschliches Drama zu entlocken.

★★★★

Sonntag, 14. Oktober 2012

Amour

Psychologische Thriller und Dramen bilden seit jeher das Kerngeschäft der österreichischen Regisseurs Michael Haneke, von Benny's Video über Funny Games und Caché bis hin zu Das weisse Band. Letzterer brachte ihm 2009 in Cannes die Palme d'or ein, ein Erfolg, den er 2012 wiederholen konnte. Doch Amour scheint so gar nicht ins Schema Haneke zu passen: Mit chirurgischer Genauigkeit, aber eben auch ungeahnter Zärtlichkeit, nimmt er sich des Sterbens an. Ein Meisterstück.

Eine Tür wird aufgebrochen, Feuerwehrleute stürmen in eine elegante Pariser Stadtwohnung. Im Schlafzimmer der Residenz finden sie eine tote Frau, festlich gekleidet und auf Blumen gebettet. Bei der Frau handelt es sich um Anne (Emmanuelle Riva), die ein paar Wochen zuvor noch mit ihrem Ehemann Georges (Jean-Louis Trintignant) ein normales, glückliches Leben führte. Beide sind um die 80 Jahre alt, pensionierte Musikprofessoren, Pariser Bourgeoisie; im Wohnzimmer steht ein Konzertflügel, die Wände schmücken mit Büchern gefüllte Regale, aus der Musikanlage klingt hin und wieder Schubert. Eines Abends besucht das Paar ein Konzert eines ehemaligen Schülers. Am nächsten Morgen findet das Idyll jedoch ein jähes Ende: Beim Frühstück wird Annes Blick plötzlich starr und glasig, sie ist nicht mehr ansprechbar. Gerade als Georges den Notarzt rufen will, kommt sie wieder zu sich, kann sich aber an den Aussetzer nicht erinnern. Nach einem Besuch im Krankenhaus steht fest, dass Anne einen leichten Schlaganfall erlitten hat. Die nötige Operation misslingt, fortan ist sie auf der rechten Körperseite gelähmt und ihr Zustand verschlechtert sich zusehends, was nicht nur Georges, sondern auch Tochter Eva (Isabelle Huppert) schwer belastet.

Es ist ein Szenario, wie es sich wohl jeden Tag tausendfach überall auf der Welt abspielt. Ein Ehepaar jenseits der 70 wird durch einen Schicksalsschlag – sei es ein Sturz, ein Schlaganfall, eine Hirnblutung – schlagartig mit dem Unausweichlichen konfrontiert. Nicht mit dem Tod per se, sondern mit dem Akt des Sterbens. Nicht mit der eigenen Vergänglichkeit, sondern mit der Hinfälligkeit und Ohnmacht, dem Zustand – in Georges' Worten – "eines hilflosen Kindes". Nicht nur gehört dieser Vorgang zum Menschlichsten überhaupt, er gehört auch zu den privatesten Angelegenheiten im Leben.

Georges (Jean-Louis Trintignant) versucht, seine nicht ansprechbare Frau Anne (Emmanuelle Riva) wieder aufzuwecken.
Und genau hier setzt Michael Haneke mit seinem nunmehr elften Film an. Mit radikalem, unbeirrbarem Minimalismus beobachtet er, wie das fein säuberlich arrangierte Leben zweier Menschen innert kürzester Zeit in sich zusammenfallen kann. Bald nehmen Frustration, Wut und Verzweiflung auch mal Überhand und die Weigerung einer immer hinfälligeren Anne, Essen und Trinken anzunehmen, wird von Georges im Affekt mit einer Ohrfeige quittiert. Haneke seziert – im Sinne Claude Chabrols –, doch er behält sich jegliche Wertung vor. So entsteht in Amour ein faszinierendes, manch einen Zuschauer womöglich irritierendes, jedoch dem Anspruch seines Regisseurs, dem Publikum Interpretationsspielraum zu lassen, entsprechendes Paradox: Klinische Nüchternheit und kühle Observation treffen auf berührende Einfühlsamkeit und wunderschöne Miniaturen.

Aufgezogen wird das Ganze als klassisches Kammerspiel. Das schicke Appartement der beiden Hauptfiguren, Refugium und Gefängnis zugleich, wird während der 126 Minuten Laufzeit nur zweimal verlassen, einmal davon nur im Traum. Darius Khondji bewegt seine Kamera kaum, die ruhigen, ja starren Einstellungen sind Tableaux, wodurch sie umso stärker die die Wohnung schmückenden Gemälde – die einzigen Fenster zur Aussenwelt – widerzuspiegeln scheinen. Die vier Wände werden zum Mikrokosmos der Ehe von Anne und Georges; der reduktionistische Titel erweist sich als so treffend, dass sich Amour auch als ein – gelungener – Versuch auslegen lässt, das Konzept der Liebe zu erfassen. Das Paar teilt das quälende Leid genau so wie die Momente der Freude miteinander. Dabei liegen Lachen und Weinen oft nah beieinander, etwa wenn Anne ihren neuen elektrischen Rollstuhl ausprobiert oder Georges mit seiner bereits ans Bett gefesselten Frau "Sur le pont d'Avignon" singt. Hie und da schwingt sogar die Lakonie von Mike Leighs Another Year mit: Was er denn sagen würde, wenn niemand zu seinem Begräbnis erschiene, fragt Anne, eindringlich dargestellt von Emmanuelle Riva, ihren Mann. "Rien, probablement", antwortet er, der ruhige, in sich gekehrte Jean-Louis Trintignant, ohne eine Miene zu verziehen.

Ein Bild aus besseren Tagen: Anne am Flügel.
Und trotz der übermenschlichen Belastungen für beide Protagonisten spielt Amour ganz im Hier und Jetzt. Anne und Georges verschwenden keinerlei Gedanken an ein mögliches unbeschwertes Wiedersehen im Jenseits, niemand faltet je die Hände zum Gebet. Die Religion, wie letztlich auch Aussenstehende wie Eva oder die diversen Pflegerinnen, bleiben aussen vor. Dennoch wäre es falsch, den Film als deprimierend oder gar hoffnungslos darzustellen. Haneke mag zwar zeigen, wie trostlos und verheerend sich das Ende eines Lebens gestalten kann; doch gleichzeitig – und darin zeigt sich einmal mehr seine Klasse als Regisseur und Drehbuchautor – bietet er eine tröstliche Differenzierung an: Wenn Anne ein altes Fotoalbum durchblättert, scheint sich die Frage aufzudrängen, wie schwer der Tod denn im Vergleich mit einem Leben voller Liebe wiegen kann. Wie kann er jemals obsiegen, wenn die Welt voller Schönheit ist, fragt man sich, als Georges sich mit einer Taube im Atrium konfrontiert sieht.

Das Alter und das Kino unterhalten schon lange eine heikle Beziehung. Betagte Menschen spielen Nebenrollen oder dominieren allenfalls in eher unrealistischen, wenn auch unterhaltsamen, Tragikomödien wie Et si on vivait tous ensemble? oder Bis zum Horizont, dann links! das Geschehen. Insofern ist Amour ein hochgradig ambitioniertes Projekt, dem jegliche Kommerzialität abzugehen scheint. In den Händen eines Michael Haneke jedoch wird daraus ein einfühlsames, subtiles und ungemein berührendes Drama, welches einen so schnell nicht wieder loslässt.

★★★★★

Donnerstag, 11. Oktober 2012

Looper

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.


Seit dem viel beachteten Inception scheint sich das Action-Genre ein wenig festgefahren zu haben. Doch nun bringt Indie-Regisseur Rian Johnson Verbesserung. Looper mag Christopher Nolans Film nicht ganz das Wasser reichen; dafür ist er sympathischer, zugänglicher, blutiger und tiefgründiger.

Kansas, 2044: Joe (Joseph Gordon-Levitt – mit Nasen-Prothese, um seinem älteren Ich ähnlicher zu sehen) ist ein junger Mann mit ansehnlichem Einkommen, was in einer Welt voller Landstreicher und Strauchdiebe keine Selbstverständlichkeit ist. Der Grund: Joe arbeitet als "Looper" für die Mafia. 30 Jahre später sind Zeitreisen nämlich erfunden, aber verboten. Dennoch nutzt die "ehrenwerte Gesellschaft" die Technologie, um Menschen loszuwerden. Die Opfer werden gefesselt, geknebelt und verhüllt ins Jahr 2044 zurückgeschickt, wo die Looper sie mit Retro-Schrotflinten umgehend exekutieren. Ein Teil der Abmachung ist, dass man in diesem Berufszweig eines Tages sich selber ermorden wird; danach kann man sich zur Ruhe setzen und darauf warten, am anderen Ende des Gewehrlaufs zu enden. Doch als Joes zukünftiges Selbst (Bruce Willis, der nach Moonrise Kingdom schon zum zweiten Mal in diesem Jahr sein wahres Schauspieltalent unter Beweis stellt) auftaucht, entwischt ihm dieses. Der alte Joe sucht nach drei Kindern, von denen eines in 30 Jahren zu einem grausamen Mafiaboss werden wird. Auf der Flucht vor seinem Arbeitgeber Abe (ein grossartiger Jeff Daniels) sucht der junge Joe Schutz auf der Farm von Sara (Emily Blunt). Dumm nur, dass ihr Sohn (Pierce Gagnon) auf der Todesliste des alten Joe steht.

2005 beschenkte Rian Johnson das Publikum mit Brick, einem hochintelligenten Thriller, in welchem er den Film Noir neu interpretierte und das Geschehen in eine High School des 21. Jahrhunderts versetzte – mitsamt den dazugehörigen Rollenmustern. Nun legt der 39-Jährige seinen ersten Actionfilm vor, erst seine dritte Regiearbeit, und er untermauert, was sein Debüt erahnen liess: Er gehört mit seiner Fertigkeit, Coolness mit Substanz und Subversion mit Innovation zu verschmelzen, zu den spannendsten Talenten im zeitgenössischen amerikanischen Independent-Kino. Auch Looper blickt in der Geschichte zurück, um gleichzeitig mit Originalität und einem anregenden Konzept zu begeistern. Johnson orientiert sich an Dystopien aus den Achtziger- und Neunzigerjahren – Brazil, 12 Monkeys, Total Recall, Demolition Man – sowie an einigen Klassikern wie etwa Once Upon a Time in the West oder den Erzählungen Philip K. Dicks, spinnt daraus aber eine ganz eigene, durch und durch faszinierende Vision.

Kampf mit sich selbst: Der alte Joe (Bruce Willis) nimmt den jungen Joe (Joseph Gordon-Levitt) in die Mangel.
Die Zukunft, die er entwirft, ist nicht überfuturistisch gestaltet, sondern überzeugt durch überraschende Realitätsnähe und beissende Gesellschaftssatire – hier ein heruntergekommener Sonnenkollektor, dort ein an Children of Men erinnernder Stadt-Slum im waffenvernarrten Herzen Amerikas. Auch umgeht Johnson die Tücken des Zeitreisens; er geht das berühmt-berüchtigte Paradoxon frontal an und liefert sogar eine im Universum des Films stimmige Auflösung. Insgesamt bleiben zwar einige Storyelemente auf der Strecke; doch Looper kompensiert dies mit trockenem Humor, gewagten Einfällen, drastischen Bildern, einer hervorragend konstruierten Atmosphäre und einer Handlung, welche ganz auf ihren Charakteren ruht. Besonders bleibt hierbei die Szene in Erinnerung, in welcher sich Bruce Willis und Joseph Gordon-Levitt in einem Diner gegenüber sitzen. Und wenn am Ende der Abspann über die Leinwand rollt, ohne finalen Knall, ohne bombastische Musik, bleibt das Gefühl: Hollywood, so wird Action gemacht.

★★★★

Sonntag, 7. Oktober 2012

The Words

Nicht viele Regiedebütanten sind mit einer derartig günstigen Ausgangslage gesegnet wie Brian Klugman und Lee Sternthal. Trotz eines vergleichsweise schmalen Budgets stand ihnen ein hochkarätiger Cast mit alten Haudegen sowie aufstrebenden Stars zu Verfügung und ihre mit reichlich literarischem Pathos gefüllte Geschichte versprach, eine breite Zuschauermasse anzusprechen. Doch das Potenzial wurde nicht ausgenutzt: The Words ist ein uninteressantes Drama vom Fliessband.

Clay Hammond (Dennis Quaid) betritt die Bühne, räuspert sich und beginnt, aus seinem neuen Buch vorzulesen – "The Words, by me." Der Roman handelt von Rory Jansen (Bradley Cooper), einem um Erfolg ringenden Schriftsteller, der mit seiner Frau Dora (Zoe Saldana, welche im Abspann unverständlicherweise mit dem Ehrenzusatz "and..." gewürdigt wird) ein kleines New Yorker Appartement bewohnt. Talent wäre zwar vorhanden, doch die angespannte wirtschaftliche Lage macht es für Amateur-Autoren schier unmöglich, von den Verlagen eine Chance zu erhalten; Rory muss seinen Vater (J. K. Simmons) Monat für Monat um Geld bitten. Doch als er per Zufall ein packendes Manuskript entdeckt und unter seinem Namen veröffentlicht, ändert sich seine Situation schlagartig: Binnen kurzer Zeit wird das Buch zum nationalen Phänomen, Rory wird berühmt. Als jedoch ein mysteriöser alter Mann (Jeremy Irons) auftaucht, der behauptet, das Erfolgswerk verfasst zu haben, fällt Rorys Welt in sich zusammen.

Intellektuell und hintergründig, so will The Words sein, eine subtile Meditation über das Wesen der Literatur. Den diesbezüglichen Schlüsselsatz flüstert Clay Hammond gegen Ende des Films einer Bewunderin zu: Wahrheit und Fiktion lägen nahe beieinander, aber zu einer Berührung komme es nie. Um dieses Stück Dialog zu illustrieren, bemüht das Regisseur- und Drehbuchautorenduo Klugman und Sternthal eine penetrant verschachtelte, enorm gezwungen wirkende Erzählung, die mit gewichtiger Miene auf den verschiedenen Ebenen die gleichen Bilder aufgreift und dem Zuschauer die ohnehin offensichtlichen Parallelen zwischen den Figuren buchstäblich einhämmert. Den Coup de grâce schliesslich stellen die nicht enden wollenden Querverweise auf Leben und Wirken von Ernest Hemingway dar: Der Protagonist im Buch im Buch im Film liest The Sun Also Rises; Rorys Gewissenskrise wird durch einen Mann ausgelöst, der nur als "Old Man" bezeichnet wird; und die Anekdote, wie Hemingway den Grossteil seines Frühwerkes verlor, darf selbstverständlich auch nicht fehlen.

Der Schwindler und der Schriftsteller: Rory (Bradley Cooper) setzt sich mit dem mysteriösen alten Mann (Jeremy Irons) auseinander.
Gelänge es den Machern, diese Fragmente der Inspiration mit einem vernünftigen Literatur-Motiv zu einer befriedigenden Geschichte zu verbinden – wie es etwa Regisseure wie Curtis Hanson (Wonder Boys), Jean Becker (La tête en friche) oder auch Rob Epstein und Jeffrey Friedman (Howl) geschafft haben –, dann fiele es auch leichter, das Ganze ernst zu nehmen, ihm Substanz zuzugestehen. Doch so wie die Dinge liegen, wirken die Ausschweifungen und Ausschmückungen, literarischer und sonstiger Art, bestenfalls unnötig, schlechtestenfalls selbstgefällig. Der, obgleich dreigeteilt, hauchdünne Plot vermag niemals zu packen, ebenso wenig das Schicksal seiner bloss grob skizzierten Figuren. The Words ist schlicht langweilig; es herrscht dramatischer Stillstand, den selbst der stellenweise in bester Dungeons & Dragons-Manier chargierende Jeremy Irons nicht überwinden kann. Der Rest der ansehnlichen Schauspieltruppe, vielleicht mit Ausnahme von J. K. Simmons, erledigt seine Arbeit ohne jede Begeisterung. Dennis Quaid verzieht kaum eine Miene, Zoe Saldana schluchzt sich durch die Handlung, Bradley Cooper gibt den ins Off starrenden, privilegierten, aber dennoch romantisch gequälten "Artiste".

Trotz allem ist The Words kein schrecklicher Film. Vieles von dem, was Klugman und Sternthal dem Publikum vorsetzen, irritiert, nervt, verursacht Kopfschütteln, doch so richtig empören kann der Streifen nicht. Dafür, und vielleicht ist dies angesichts des vorhandenen Potenzials sogar die vernichtendere Erkenntnis, ist er zu einfallslos, dröge und fad; er plätschert vorüber, ohne bleibende Eindrücke zu hinterlassen. The Words will grosse Literatur sein, erreicht aber schlussendlich nicht einmal das Niveau eines Groschenromans. Diese sind wenigstens zumeist unterhaltsam.

Donnerstag, 4. Oktober 2012

Death of a Superhero

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.


Das Thema Krebs, vor allem wenn jüngere Menschen betroffen sind, wurde in jüngerer Vergangenheit schon mehrfach im Kino behandelt. Entsprechend vermag die deutsch-irische Koproduktion Death of a Superhero nicht zu überraschen. Einfühlsam ist das Ganze aber allemal.

Seit rund einem Jahr leidet der 15-jährige Donald (Thomas Brodie-Sangster) an einem Hirntumor. Trotz intensiver Bestrahlung und einiger positiver Resultate hat der Teenager dem Leben gegenüber eine zynische Einstellung entwickelt; auch Suizid schliesst er nicht aus. Seine Eltern (Sharon Horgan, Michael McElhatton) sind verzweifelt, auch weil scheinbar kein Psychologe in der Lage ist, die emotionale Mauer des Jungen zu durchbrechen. Dieser kanalisiert seine Wut, indem er Comics zeichnet, in denen er als Superheld gegen den personifizierten Tod namens "The Glove" kämpft. Durch dieses Maltalent wird der renommierte Thanatologe Dr. Adrian King (Andy Serkis) auf Donald aufmerksam. Zwischen den beiden entsteht nach und nach eine ungewöhnliche Freundschaft. Doch Donalds besteht nicht nur aus Besuchen im Krankenhaus und in Therapiezimmern: In der Schule lernt er die rebellische Shelly (Aisling Loftus) kennen, in die er sich verliebt.

Es ist schwierig, nach Filmen wie Restless, 50/50 oder auch dem Schweizer Genre-Versuch Stationspiraten der Krebs-Thematik viel Neues zu entlocken, ist doch das Potenzial von gängigen Motiven wie "Die Liebe ist stärker als der Tod" oder "Tod ist nur für die Überlebenden schlimm" begrenzt. Insofern ist es wohl symptomatisch, dass ein Film wie Death of a Superhero aus einem finanziell angeschlagenen Land wie Irland kommt: Auf der Suche nach hohen Einnahmen werden beliebte Formeln bemüht. Zwar ist Ian Fitzgibbons Verfilmung eines Romans des Neuseeländers Anthony McCarten noch weit vom kommerziellen Erfolg entfernt – in den USA spielte der Streifen bisher nur etwa 600 (!) Dollar ein –, doch immerhin weiss der Film überwiegend zu gefallen.

Eine vom Tod geprägte Freundschaft: Der krebskranke Teenager Donald (Thomas Brodie-Sangster) und der Thanatologe Adrian (Andy Serkis).
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Death of a Superhero sehr formelhaft ist. Oft fällt es nicht schwer, in bedeutungsschwangeren Pausen zu erahnen, wo der Dialog hinführen wird; die Wendungen überraschen in den seltensten Fällen. Doch Regisseur Fitzgibbon hat zwei Trümpfe in der Hinterhand: die animierten Sequenzen und seine Schauspieler. Erstere sind Szenen aus Donalds Comics und bestechen durch eine rasante Inszenierung von Bildern und Musik sowie deren Verbindung mit der Realität. Den Darstellern wiederum ist es zu verdanken, dass auch Formelhaftes berühren kann. Herausragend ist das Zusammenspiel zwischen Thomas Brodie-Sangster, dem die Balance zwischen abgeklärtem Zyniker und verängstigtem Kind ausnehmend gut gelingt, und Andy Serkis – wieder einmal ohne digitales Makeup –, hinter dessen lakonischer Fassade immer Adrians Tragödie spürbar bleibt. Unter den Nebendarstellern sticht insbesondere Michael McElhatton heraus, der dem etwas bemühenden letzten Akt stimmige emotionale Kraft verleiht.

Death of a Superhero bietet kaum etwas, was nicht schon gesagt wurde. Aber der Film profitiert von seinem starken Cast, einer behutsamen Herangehensweise an das – trotz einer drohenden cineastischen Übersättigung – immer noch schwierige Thema und dem richtigen Fokus: Familie und Identität statt Krankheitskitsch.

★★★

Montag, 1. Oktober 2012

Turn Me on, Goddammit!

Seit einigen Jahren zeichnen sich Coming-of-Age-Filme primär dadurch aus, "anders" zu sein. Werke wie Richard Ayoades Submarine oder Wes Andersons Moonrise Kingdom verbinden das Abenteuer Jugend wunderbar mit surrealistisch-nostalgischen Bilderwelten. Turn Me on, Goddammit! geht einen etwas anderen Weg: Der Film ist fest in der Realität verwurzelt, profitiert aber von norwegischer Exzentrik.

Irgendwo in Westnorwegen liegt Skoddeheimen, ein kleines, nicht weiter bemerkenswertes Dorf am Fusse eines Berghangs. Eine Strasse zieht sich durch eine Ansammlung von Häusern, ein paar Schafe treiben sich herum, jeder kennt jeden. Kurz: ein Albtraum für Alma (Helene Bergsholm), ein 15-jähriges Mädchen, welches gerade seine Sexualität entdeckt. Statt ihre Hausaufgaben zu erledigen, ruft sie Sex-Hotlines an, ansonsten fantasiert sie, wie der hübsche Artur (Matias Myren) sie verführt, und plant mit ihrer besten Freundin Sara (Malin Bjørhovde) den Ausbruch in die grosse weite Welt – egal ob Oslo, Paris oder New York, Hauptsache weg. Als Artur sich bei einer Party auf eher ungebührliche Art und Weise Alma nähert und ihr daraufhin niemand die Geschichte glaubt, steht sie als Ausgestossene da. Als ihre Mutter obendrein noch die astronomisch hohe Telefonrechnung im Briefkasten findet, steht Alma fast komplett allein da. Einzig Sara hält noch zu ihr.

"Wer sich mit Wehmut an seine Kindheit erinnert, war nie ein Kind", schrieb Bill Watterson, Schöpfer der Calvin and Hobbes-Comicstrips einmal. In diesem Sinn und Geist hält auch Regisseurin und Autorin Jannicke Systad Jacobsen ihren ersten Langspielfilm Turn Me on Goddammit!Få meg på, for faen! auf Norwegisch –, einer Adaption von Olaug Nilssens gleichnamigem Roman. Mit einem feinen Auge fürs Detail fängt sie die Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens, die Crux mit der Pubertät und die spielerische Grausamkeit von Altersgenossen ein.

Allein der Kontrast zwischen der Hauptfigur des Films und der Szenerie, in der sie sich findet, illustriert dies. Skoddeheimen ist materialisierte Trägheit: Die wenigen Bewohner sitzen in oder vor ihren Häusern herum, Almas Freundinnen verbringen etwas gar viel Zeit in einem Busunterstand, der lokale Supermarkt wird kaum frequentiert. Ganz anders hingegen der Teenager: Schon der Titel des Films deutet Dringlichkeit an; das "for faen" im Schriftzug, dessen Bedeutung sich auch ohne Norwegisch-Kenntnisse erahnen lässt, ist energisch unterstrichen. Almas Momente der Lust treten spontan auf, Kameraden wie Freunde wie die eigene Mutter sind von der wilden Natur der Stürmerin und Drängerin heillos überfordert. Sie will die Schulzeit überspringen und schon mit 15 Jahren in Oslo studieren gehen – wie in Lone Scherfigs An Education steht ein Studium für Unabhängigkeit und Erlösung.

Um ihre Lust zu stillen, macht Alma (Helene Bergsholm) Gebrauch von Sex-Hotlines.
Dass solches Aussenseitertum im Teenager-Alter nicht ungesühnt bleibt, weiss Jacobsen. Nicht unbedingt aus bösartigem, aber doch immerhin aus leicht sadistisch angehauchtem Antrieb isolieren ihre Schulkollegen sie; im Alter der Rebellion sind die "Anderen" die Ausgeschlossenen. Die jungen Schauspieler interpretieren dieses Paradox herausragend: Matias Myren und insbesondere Malin Bjørhovde, die beide in ihren eigenen Miniatur-Plots agieren, trumpfen mit grosser Menschlichkeit auf. Helene Bergsholm, die für den norwegischen Amandarprisen nominiert wurde – gewonnen hat ihn Noomi Rapace, die einzige Konkurrentin –, gelingt derweil ein eindrucksvoller, total souveräner Drahtseilakt. Alma ist eine lupenreine exzentrische 15-Jährige, mal altklug-erwachsen, mal unsicher-kindlich, hie und da nervend, oft selber genervt, die mit der Veränderung ihrer Welt zu kämpfen hat.

Trotz seines expressiven Titels ist Turn Me on, Goddammit! ein Film der leiseren Töne und des äusserst trockenen Humors. Er mag stellenweise ein wenig zu skizzenhaft geraten sein, wird aber seinem Anspruch, die Psyche eines desillusionierten Teenagers in Form einer Tragikomödie abzubilden, problemlos gerecht. Jannicke Systad Jacobsens Debüt ist gelungen.

★★★