Dienstag, 31. Juli 2012

Woody Allen: A Documentary

Nachdem er Woody Allen zwei Jahre lang begleitet hat, legt Robert Weide nun seine umfassende filmische Biografie des Kult-Regisseurs vor. In Woody Allen: A Documentary werden in gut zwei Stunden 50 Jahre Kinogeschichte mit Interviews, Clips, Anekdoten und bestem Allen'schen Humor aufgearbeitet – ein Muss.

Am 1. Dezember 1935 wurde Allan Stewart Konigsberg in New York geboren. Seinen Eltern, Nettie (1906–2002) und Martin (1900–2001) fiel er in frühen Jahren als lebhaftes, aktives, äusserst glückliches Kind auf. Doch im Alter von fünf Jahren, so geht die Anekdote, erfuhr das Kind von der Endlichkeit des Lebens. Erschlagen von der schieren Unfairness dieses Systems, änderte es seine Lebenseinstellung und wurde "grumpy and bitter", ganz seinem späteren komischen Alter Ego, welches in Annie Hall (1977) etwa das Leben in die Kategorien "Miserable" und "Horrible" einteilt. Filmemacher Weide lässt Freunde, Weggefährten, Arbeitskollegen und auch Woody Allen selbst zu Wort kommen und rekonstruiert den Werdegang des Meisters vom anonymen Gagschreiber zum scheuen Stand-Up-Comedian zum Theater- und Filmautoren zum international gefeierten Regisseur.

Die stringente Chronologie dieser Entwicklung fällt in Woody Allen: A Documentary zwar mehrmals einer Assoziation oder Ähnlichem zum Opfer – auch ist die 115-minütige Laufzeit wohl etwas üppig bemessen –, doch der Film zelebriert seine Hauptfigur in bester Dokumentarfilm-Manier. Martin Scorsese beschreibt Allen als ein Unikum, als jemanden, der das Kunststück vollbrachte, fast fünf Jahrzehnte lang nicht nur aktiv zu bleiben, sondern seine Beliebtheit in dieser Zeit zu behalten und immer wieder aufs Neue zu rechtfertigen. Dementsprechend inszeniert Weide die Karriere Allens, vor allem während der ersten 45 Minuten des Films, auch als Spiegel einer ganzen Epoche; er findet in seinem Thema eine Parabel für die Geschichte der amerikanischen Nachkriegsunterhaltung. Woody Allen führt den Zuschauer durch seine alte Brooklyner Nachbarschaft ("This is the house I grew up in. It doesn't look like much but... it wasn't"), wobei der ehemalige Standort des lokalen Filmtheaters natürlich nicht fehlen darf. Die Agenten Jack Rollins und Charles Joffe (gestorben 2008) sowie Kritiker wie der immer gern gesehene Leonard Maltin verweisen auf den kulturellen Mikrokosmos Greenwich Village im New York der Fünfziger- und Sechzigerjahre, von wo aus Allen den Sprung ins nationale Fernsehen schaffte; und sie interpretieren Annie Hall als eine veritable Revolution im Genre der Komödie.

Mit Leib und Seele Regisseur und Komiker: Woody Allen auf dem Set von Sleeper.
Es sind diese Exkurse, die den Film dermassen faszinierend machen. Veredelt wird die Dok durch die Fülle von Gesprächsgästen, zu denen auch Chris Rock, Martin Landau, Kameramann Gordon Willis und sogar Robert Lauder, ein katholischer Pfarrer, gehören; durch die feinen Details; durch die reichhaltigen Filmclips, die, in den richtigen Kontext gestellt, die gängige Meinung zu diesem und jenem Werk herausfordern – etwa die viel gescholtenen Experimente Interiors (1978), ein an Ingmar Bergman angelehntes Drama, und Stardust Memories (1980), eine zynische Farce nach Fellini –; und durch die Anwesenheit des Meisters selbst. Woody Allen: A Documentary zeigt, dass dieser auch mit 76 Jahren noch nichts von seinem schlagfertig-selbstkritischen Humor und seiner Intelligenz eingebüsst hat – siehe seine treffende Einschätzung, seine Komödien, speziell Manhattan (1979), den er eigentlich gar nicht mag, würden dem Prinzip der "ausländischen" Komödie folgt. Eine hervorragende Dokumentation, die dem grossen Komiker/Filmemacher/Stadtneurotiker vollauf gerecht wird.

★★★★

Donnerstag, 26. Juli 2012

Bullhead

Erstmals seit dem Jahr 2000 und Dominique Derudderes Everybody's Famous! schaffte es 2012 wieder ein belgischer Film in die Endausscheidung für den Fremdsprachen-Oscar. Obwohl zweifellos ein Erfolg für die ganze Nation, ist Bullhead – der flämische Originaltitel lautet Rundskop – für belgische Staatsbürger eine eher zwiespältige Angelegenheit. Regisseur Michaël R. Roskam lässt, ähnlich wie Nicolas Winding Refn in Drive, die Filmhistorie subversiv in seine Gangster-Erzählung mit einfliessen und zeichnet ein düsteres Bild eines innerlich tief zerrissenen Landes.

Sein Geschäft ist die Rinderzucht. Schon als Kind wurde Jacky Vanmarsenille (Matthias Schoenaerts, der sich für die Rolle 27 Kilo Muskelmasse antrainierte) in die illegalen Machenschaften der limburgischen Landwirtschaft eingeführt. Den Tieren werden Wachstumshormone und andere Steroide gespritzt; Einschüchterungen und Preisabsprachen gehören zum Geschäft. Doch auch der hünenhafte Jacky ist auf Drogen angewiesen. Seit er im Kindesalter seine Hoden verlor, spritzt er sich Testosteron, nach dem er heute süchtig ist. Als die Familie Vanmarsenille mit einem dubiosen Rindfleischhändler aus Westflandern einen Handel eingeht, fühlt sich Jacky nicht mehr wohl; er misstraut der mafiösen Rindfleisch-Connection, die mitunter auch zwielichtige Wallonen ihre Drecksarbeit verrichten lässt. Eine Schlüsselrolle bei den Flamen spielt der schweigsame Diederik (Jeroen Percevall), die rechte Hand des mächtigen Händlers. Die Angelegenheit spitzt sich dramatisch zu, als ein auf die Hormon-Mafia angesetzter Polizist ermordet wird.

Michaël Roskam eröffnet seinen Film mit prächtigen Breitbildaufnahmen der Limburger Landschaft. Der Morgen dämmert, Vanmarsenilles Stimme ist zu hören. Kurz darauf erhält die Stimme ein Gesicht und – fast noch wichtiger – einen Körper. Jacky atmet schwer, sein Gang könnte etwas sicherer sein, doch man möchte mit ihm nicht den Weg kreuzen, wenn er wütend ist; äusserlich ist er ein Tier von einem Mann, muskelbepackt und scheinbar immer am Rande eines Wutausbruchs, ein Bulle, wie seine Zuchtrinder vollgespritzt mit Hormonen. Roskam und Hauptdarsteller Matthias Schoenaerts, dessen Leinwandpräsenz schlicht grossartig ist, schaffen es aber, in ihm einen durchaus menschlichen, tragischen Kern zu finden, den er sich nicht einmal selber eingesteht. Eine der gegen ihn und seine Geschäftspartner ermittelnden Polizistinnen folgt dem persönlichen Motto "Zufälle gibts nicht"; dabei beweist Jackys Leben das genaue Gegenteil. Wie wäre sein Leben verlaufen, wenn er nicht an den aggressiven Sohn eines Drogenhändlers geraten wäre? Was wäre geschehen, wenn er sich nicht mit der flämischen Mafia angelegt hätte? Fragen, die der Film nicht beantworten muss, weil sie letztendlich nebensächlich sind. Es sind lediglich weitere Dimensionen in Jackys Kampf mit sich selber.

Ein Leben mit dem künstlich gestählten Körper: Jacky Vanmarsenille (Matthias Schoenaerts).
Parallel zu den Einzelschicksalen, auf die er in Bullhead eingeht, inszeniert Roskam einen kompromisslosen, überaus brutalen Krieg der Interessen, Banden und, provokativerweise, Ethnien. Die Flamen tragen Schals von Club Brugge und fluchen über die Wallonen, die Wallonen tragen Sportjacken von Standard Liège und fluchen über die Flamen – "Diese Faschisten!" –, die Limburger trauen beiden nicht über den Weg. Dabei vertraut Roskam auf die Ästhetik der Siebzigerjahre, die Mise en scène erinnert an die ausstatterische Meisterleistung Maria Djurkovics in Tinker Tailor Soldier Spy: viele Schatten, verrauchte Hinterzimmer, prominente Brauntöne. Man wähnt sich in einem amerikanischen Mafia-Film des New Hollywood, einem Werk wie Francis Ford Coppolas The Godfather. Und doch wird Flämisch und Limburger Dialekt gesprochen, was die Illusion interessanterweise noch verstärkt; beides sind Sprachen, die freimütig mit englischen Einschüben operieren. Dabei wird aber auch offensichtlich, dass Roskams Qualitäten eher in seiner virtuosen Regie denn in der Entwicklung einer Erzählung liegen. Die Geschichte vermag ihre 124 Minuten Laufzeit nicht vollständig zu rechtfertigen und das Wechselspiel zwischen Handlung und Rückblenden in Jackys Kindheit sorgt für eine stellenweise allzu lose Dramaturgie. Diverses wirkt zusammengewürfelt.

Dennoch ist die Nomination für den Oscar vollauf verdient. Bullhead orientiert sich am klassischen Gangster-Kino des Kalten Krieges, stellt dessen Konventionen aber auf den Kopf und interpretiert sie mit einem so kaum je gesehenen Milieu, frisch wirkenden Figuren in bekannten Konstellationen und einem speziell auf das Land Belgien zugeschnittenen Subtext neu. Der Konflikt der Landesgruppen schwingt im belgischen Film schon seit geraumer Zeit mit, doch noch selten war das Porträt derart schonungslos, tief greifend, vernichtend – und faszinierend.

★★★★

Hasta la vista

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Es ist eine oft verdrängte Tatsache, dass auch Menschen mit körperlichen Behinderungen das Bedürfnis nach Sex verspüren. In seinem tragikomischen Roadmovie Hasta la vista greift Geoffrey Enthoven dieses heikle Thema auf und liefert einen wichtigen Beitrag zur Integration Behinderter.

Ein Blinder, ein Tetraplegiker und ein Krebskranker... Was sich anhört, wie der Beginn eines zynischen Witzes, ist die Prämisse von Hasta la vista. Der vom Hals an abwärts gelähmte Philip (Robrecht Vanden Thoren) hat einen Traum: Er will Sex. Und er hat eine klare Vorstellung, wie er das bewerkstelligen will: Ein Freund hat ihm von einem Bordell erzählt, das sich auf eine körperlicht handicapierte Klientel spezialisiert hat. Zwar liegt das rollstuhlgängige Freudenhaus in Spanien, doch davon lässt sich der junge Mann nicht beirren. Mit seinen besten Freunden, dem fast blinden Jozef (Tom Audenaert) und dem wegen eines unheilbaren Hirntumors an den Rollstuhl gefesselten Lars (Gilles De Schrijver), will er die Reise wagen. Ein Pfleger wird als Begleitperson gefunden, den Eltern wird die Lüge von einer Weintour aufgetischt. Kurz vor der Abreise jedoch verschlechtert sich Lars' Zustand, weshalb dessen Eltern ihm die Fahrt verbieten. Doch Philip und Jozef lassen ihren Freund nicht im Stich: Sie helfen Lars dabei, im Geheimen Vorbereitungen zu treffen; mit der burschikosen Claude (Isabelle de Hertogh) wird eine neue Pflegerin gefunden. Die Fahrt gen Süden kann beginnen.

Obwohl Hasta la vista, trotz seiner Thematik, nicht viel mit dem französischen Hit Intouchables verbindet, dürfte auch die belgische Dramödie dem allzu empfindlichen Kinogänger Mühe bereiten. Das Autorentrio Pierre De Clercq, Mariano Vanhoof und Asta Philpot zeigt keinerlei Berührungsängste mit Humor der deftigeren Sorte und schreckt auch vor unverblümten Behindertenwitzen nicht zurück – so etwa Lars' Bemerkung, als er während einer Nacht im Zelt Philip mit einem Camper vergleicht, der kürzlich von einem Bären verschleppt und ohne Arme und Beine aufgefunden wurde: "Bei dir würde das ja keinen grossen Unterschied machen". Dem Film ist es ein grosses Anliegen, Leute wie Philip, Lars und Jozef als normale Menschen mit normalen Wünschen und Bedürfnissen, aber auch Fehlern und unsympathischen Seiten zu verstehen. So gehen Humor und Ernsthaftigkeit oft Hand in Hand: Als Flamen mokieren sich die Hauptfiguren über Holländer und Wallonen und ziehen auf übelste Art und Weise über Claude her, die ihrerseits schwer an ihrer eigenen "Behinderung" – ihrer Vergangenheit – zu tragen hat.

Lars (Gilles De Schrijver, links), Jozef (Tom Audenaert, Mitte) und Philip (Robrecht Vanden Thoren) warten auf den Bus, der sie ins spanische Bordell bringen soll.
Die grösste Stärke des vielleicht etwas allzu formelhaften Films ist sein ungleiches, aber letztlich überaus sympathisches Hauptdarsteller-Ensemble, welches mehrfach an das famose Duo Josef Hader/Alfred Dorfer in Paul Harathers Indien erinnert. Gilles De Schrijvers Lars, von seinem näher rückenden Tod deprimiert und verunsichert, kann einige exzellente Szenen für sich verbuchen, insbesondere seine wenigen, dafür umso traurigeren, Gespräche mit seiner jüngeren Schwester Yoni (Kimke Desart). Tom Audenaert und Isabelle de Hertogh fungieren als ruhende Pole zwischen Lars und dem draufgängerischen Philip. Dieser wird seinerseits von Robrecht Vanden Thoren grossartig dargestellt; Thoren, obgleich nur stimmlich und mimisch agierend, blüht in seiner Rolle förmlich auf und verleiht ihr eine ungeahnte Dynamik. Seine Darbietung fasst Hasta la vista trefflich zusammen: Wir mögen behindert sein, aber wir sind Menschen – im Guten wie im Schlechten.

★★★★

Mittwoch, 25. Juli 2012

The Lorax

Das Werk des legendären Kinderbuchautors Theodor Geisel, besser bekannt unter dem Pseudonym Dr. Seuss, umfasst mehr als 60 Bücher, von denen einige über die Jahre Kultstatus erreicht haben, etwa Horton Hears a Who, How the Grinch Stole Christmas!, The Cat in the Hat oder Yertle the Turtle. Eine seiner weniger bekannten, dafür umso umstritteneren Publikationen erschien 1971. In The Lorax prangert der grosse Erzähler die Gier von Konzernen und deren rücksichtslose Umweltverschmutzung an – parallel zur sich während der Siebzigerjahre langsam formierenden Naturschutzbewegung. Eine der Reaktionen auf die 45-seitige Geschichte war eine Gegendarstellung in Buchform, herausgegeben von der nationalen Interessengemeinschaft der Parkettboden-Hersteller, welche ihrerseits für ihre laxe Haltung gegenüber bedrohten Arten und ihre plumpe Art der Propaganda kritisiert wurde. Insofern hat die neue, computeranimierte Adaption von The Lorax mehr mit dieser Version als mit Geisels originaler Vision gemeinsam.

Thneedville ist eine herrliche Stadt: Alles besteht aus Kunststoff, die Bäume lassen sich per Fernbedienung steuern, die Skipiste liegt gleich neben dem Badestrand und frische Luft kann vom mächtigen Geschäftsmann O'Hare (Stimme: Rob Riggle) gekauft werden. Einzig der junge Ted (Zac Efron) findet nur begrenzt Gefallen an all den technischen Annehmlichkeiten. Seit ihm die hübsche Audrey (Taylor Swift) gesagt hat, dass sie denjenigen, der in ihrem Garten einen echten Baum pflanzt, sofort heiraten würde, ist er fieberhaft auf der Suche nach einer Möglichkeit, ihren Wunsch wahr werden zu lassen. Seine Grossmutter (Betty White) erzählt ihm deshalb die Geschichte des Once-lers (Ed Helms), der ausserhalb der hohen Stadtmauern wohnt und offenbar alles über Bäume weiss. Also macht sich Ted auf zum geheimnisvollen Einsiedler, dessen Haus mitten in einer schmutzigen, baumlosen Einöde steht, und lässt sich erläutern, wie es dazu kommen konnte. Einst war der Once-ler nämlich ein aufstrebender Geschäftsmann, der im nun brach liegenden Tal ein spezielles Produkt – den "Thneed" – herstellen wollte. Als er den ersten Truffula-Baum fällte, erschien der Lorax (Original- und deutsche Synchronstimme: Danny DeVito), ein orangefarbenes, schnauzbärtiges Wesen, das für die Bäume spricht. Derweil ist O'Hare Ted bereits auf den Fersen, da das Pflanzen von Bäumen das Luftgeschäft des Trillionärs unnötig machen würde.

Rettet den Samen! Ted (Stimme: Zac Efron) und Audrey (Taylor Swift) wollen einen echten Baum pflanzen.
Wenn auf das Motiv und die Aussage von Dr. Seuss' Geschichte eingegangen wird, wird oft das 22-minütige TV-Special aus dem Jahr 1972 als eine Art Begleitwerk erwähnt. Der Kurzfilm verfeinert die politische Komponente der Erzählung mit Montagen, Liedern und einigen wichtigen Dialogen zwischen dem Lorax und dem Once-ler. Berühmt geworden ist dabei sicherlich das Argument des Magnaten, ohne seine Thneed-Fabrik würden hunderte Menschen arbeitslos, woraufhin der kleine Baumbeschützer zugibt, dass dies ein Problem sei und auch er nicht wisse, wie es zu lösen ist. Dem Fernsehtrickfilm ist es gelungen, die umweltbewusste Botschaft des Originals beizubehalten, die Debatte aber eingehender und realistischer anzugehen; nicht der Fortschritt an sich hinterlässt den Schaden, sondern zu viel unbedachter Fortschritt in zu kurzer Zeit. Nun, 40 Jahre später, sind Umweltthemen wie Artensterben, Verschmutzung und globale Erwärmung – allesamt oft politisch unterstützt – aktueller denn je und verdienen es, einem kindlichen Publikum näher gebracht zu werden.

Doch die von Chris Renaud (Despicable Me) und Kyle Balda (Animationstechniker bei A Bug's Life, Toy Story 2 und Monsters, Inc. sowie beim Videospiel-Klassiker Day of the Tentacle) inszenierte und von Cinco Paul und Ken Daurio geschriebene, starbesetzte CGI-Verfilmung gibt sich anscheinend nicht die geringste Mühe, Geisels Sinn und Geist wiederzugeben. The Lorax ist auf seine Art ein anschauliches Beispiel für den sprichwörtlichen Hollywood-Zynismus, für die Ideale, die angesichts der Möglichkeit schnellen Geldes allzu rasch über den Haufen geworfen werden – und damit ist nicht nur die veritable Flut an Werbeverträgen gemeint, von Waffel-Restaurants bis Geländewagen, welche die Produzenten im Vorfeld abschlossen. Renaud und Balda verfolgen in ihrer Adaption eine einfache Botschaft: Bäume sind cool. Die Balance zwischen wirtschaftlichem und wissenschaftlichem Fortschritt und dem Respekt vor der bedrohten Natur, die Rolle des Menschen in seiner Umwelt, das Plädieren für Nachhaltigkeit, das Warnen vor Ignoranz gegenüber den Fehlern der Vergangenheit – alle diese Motive werden so entweder im Quellenmaterial angesprochen oder sie liessen sich zumindest daraus ableiten. Stattdessen werden sie hier vereinfacht, eingestampft und auf eine simple, weltfremde Parole reduziert, deren pädagogischer Wert vernachlässigbar ist und die nicht der geringsten kritischen Analyse standzuhalten vermag.

Der junge Once-ler (Ed Helms) fällt die Truffula-Bäume, um seine Thneeds herzustellen.
Bäume sind cool. Nicht schön, eindrucksvoll oder etwa wichtig. Sie sind cool. Der einzige Grund, weshalb Ted die Reise zum Once-ler auf sich nimmt, ist Audrey. Dadurch verliert der Film jegliche dramatische Spannung, vor allem als Ted den letzten Truffula-Samen ohne grössere Probleme erhält und damit Audreys Herz gewinnt. Der finalen Verfolgungsjagd durch Thneedville fehlt ein konkreter Zweck, ein Beleg für ihre Wichtigkeit. Die Stadt ist in keinster Weise auf echte Bäume angewiesen; die frische Luft, sprich der Sauerstoff, des bösen O'Hare – eine neu kreierte Figur, die auf eine Dystopie in einem Comic von Carl Barks zurückzugehen scheint – geht nicht zur Neige; und die beiden jungen Protagonisten sind bereits ein Paar. Niemand würde verlieren, wenn Thneedville weiterhin ohne echtes Blattwerk auskommen müsste; es wird nicht erklärt, warum es im Kontext des Film-Universums so essentiell wäre.

The Lorax ist kein ethisches Plädoyer für einen sorgsamen Umgang mit Flora und Fauna; er ist ein lautes, buntes, leicht vermarktbares, uninspiriertes Spektakel für Kinder mit einer besonders kurzen Aufmerksamkeitsspanne, das allem Anschein nach nicht an seine eigene, im Grunde gut gemeinte, aber letztlich sinnlose Botschaft glaubt. Die ursprüngliche Geschichte wird abgekürzt; die "Charakterentwicklungen" spielen sich in Nebensätzen ab; der Lorax wird zum unsympathischen Verfremdungseffekt degradiert; der Streifen wird mit peinlichen Musiknummern, einer unnötigen, oberflächlich behandelten Liebesgeschichte und unlustigen Running Gags auf Spielfilmlänge gestreckt; die Figuren sind eindimensional, langweilig und werden, im Falle der Tiere, die der Lorax beschützt, ihrer originalen Bestimmung beraubt; nach thematischer Subtilität sucht man vergebens – Erinnerungen an ein gewisses Büchlein der Parkettboden-Industrie werden wach.

"I'm the Lorax, and I speak for the trees!" – Der Lorax (Danny DeVito) will die Zerstörung des Waldes verhindern.
Gute politische Absichten generieren nicht zwangsläufig gute Filme, besonders wenn die vermittelte Botschaft, wie bei The Lorax, praktisch bedeutungslos ist. Bäume mögen cool sein, doch dadurch lassen sich Kinder nicht überzeugen, Rücksicht auf die Natur zu nehmen, auch weil Massenkonsum und Umweltverschmutzung weitaus dringendere und vom Einzelnen einfacher zu bekämpfende Probleme sind. The Lorax ist ein zynischer, einfallsloser und vollkommen überflüssiger Film, der nicht nur bereits als Fernsehspecial existiert, sondern auch als herausragendes animiertes Kinoabenteuer für Kinder und Erwachsene. Sein Name? WALL-E.

Donnerstag, 19. Juli 2012

The Woman in the Fifth

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Mysteriöse Handlungen und offene Enden, gekonnt eigesetzt, führen unter Zuschauern zu anregenden Diskussionen und fruchtbaren Reflexionen über das Gesehene. The Woman in the Fifth setzt diese Elemente weniger gekonnt ein – man erhält einen guten, aber hochgradig frustrierenden Film.

Der amerikanische Literaturprofessor und Schriftsteller Tom Ricks (Ethan Hawke) reist nach Paris, um seine sechsjährige Tochter Chloé (Julie Papillon) zu besuchen. Doch seine Ex-Frau Nathalie (Delphine Chuillot) will ihn nicht sehen und verbietet ihm jeglichen Kontakt mit Chloé. Als Tom kurz darauf in einem Bus einschläft, wird ihm sein ganzes Gepäck gestohlen. Verzweifelt begibt er sich in ein schäbiges Hotel und bittet darum, dort übernachten zu dürfen. Der Besitzer (Samir Guesmi) bietet ihm einen Deal an: Wenn er eine seltsame, aber einfache Arbeit verrichtet, darf er ein Zimmer haben. Tom soll sich fortan sechs Stunden pro Nacht in einen Raum setzen, einen Bildschirm im Auge behalten und jene, welche die korrekte Losung sagen können, hereinlassen. Dafür bekommt er jeweils 50 Euro. Auf einer Party lernt Tom zudem die geheimnisvolle Witwe Margit (Kristin Scott Thomas) kennen, mit der er eine Affäre beginnt.

Der polnische Regisseur Paweł Pawlikowski, der mit Last Resort (2000) und My Summer of Love (2004) international auf sich aufmerksam machte, gibt sich in seinem vierten Spielfilm alle Mühe, dem Literatur-Motiv von Douglas Kennedys Romanvorlage gerecht zu werden. Der Zuschauer sieht sich in The Woman in the Fifth in die Rolle eines beobachtenden Schriftstellers versetzt: Ryszard Lenczewskis Kamera verweilt auf Details; sie folgt den heimlichen Blicken, die Tom seiner Tochter auf dem Spielplatz zuwirft; ihr Blick schweift von Objekt zu Objekt; das immer wieder eingesetzte Teleobjektiv verdichtet das Geschehen. Toms enigmatische Reise durch das Paris der Noveaux Riches einerseits, dem der Immigranten aus Nordafrika und Osteuropa andererseits – vom Postkarten-Paris bleibt lediglich der Eiffelturm übrig, stets hinter einem dunstigen Schleier verborgen –, wird zu einer gediegen prosaischen Reise in seinen angeschlagenen Geist.

Der Schriftsteller Tom (Ethan Hawke) trifft in Paris die geheimnisvolle Übersetzerin Margit (Kristin Scott Thomas).
Die literarischen Bezüge sind dabei stets präsent. Während der subtil spielende Ethan Hawke durch die ihm fremde Stadt irrt, schreibt er an Hart Crane angelehnte Briefe, in denen er einen utopischen Wald, eine romantische Gegenwelt, entwirft; er arbeitet in einem anonym wirkenden, geradezu kafkaesken Komplex, dessen Geheimnisse hinter verschlossenen Türen liegen; er findet in Margit eine an die Frauengestalten klassischer britischer Schauerromane erinnernde Partnerin. Pawlikowski beruft sich auf das Bild der Literatur als Ausprägung des Wahnsinns. Dabei gelingt es ihm hervorragend, mit Bildinhalt und -komposition zu spielen, und er schafft eine faszinierende Atmosphäre des Rätselhaften und Poe'schen Grauens. Doch das sorgfältig aufgebaute Konstrukt fällt letztendlich mit der antiklimaktischen "Auflösung" in sich zusammen. Das blosse Fehlen einer Erklärung der Vorgänge ist nicht das Problem des Films – im Gegenteil, eine eindeutige Auflösung wäre äusserst unstimmig gewesen –; vielmehr ist es die schiere Einfallslosigkeit des Endes. Ein klischeehaftes, nur begrenzt aussagekräftiges Schlussbild genügt auch als offener Endpunkt nicht. Die Erzählung wird gestoppt, aber nicht beendet. Zurück bleibt eine frustrierende Leere.

★★

Donnerstag, 12. Juli 2012

Cosmopolis

Als der amerikanische Autor Don DeLillo, der ewige Geheimfavorit auf den Literaturnobelpreis, 2003 seinen dystopischen Roman Cosmopolis als Reaktion auf die wenige Jahre zuvor geplatzte Technologie-Blase veröffentlichte, schlugen ihm teils herablassende, teils wütende Kritiken entgegen. Die einen werteten seine apokalyptische Vorstellung eines dem Untergang geweihten New Yorks als literarische Aufarbeitung des 9/11-Traumas; die anderen sahen darin einen ungelenken und blauäugigen Versuch, den Kapitalismus anzugreifen. Börsencrash und Occupy-Bewegung haben nun jedoch zu einer Reevaluierung des Werkes geführt, wozu auch David Cronenbergs ambitionierte Verfilmung zählt. Die werkgetreue Adaption ist nicht nur der mit Abstand politischste Film des kanadischen Regisseurs, sie darf ohne weiteres zu den radikalsten und wichtigsten Beiträgen zur finanziellen Weltlage gezählt werden.

Eric Packer (Robert Pattinson) ist 28 Jahre alt und nennt ein mehrere Milliarden schweres Finanzimperium sein Eigen. An einem Apriltag aber steht ihm der Sinn nach etwas ganz Banalem: Er will sich bei einem spezifischen Coiffeur die Haare schneiden lassen. Dessen Salon liegt am anderen Ende der Stadt, doch Eric interessiert das nicht. Er setzt sich in eine hochmoderne Stretchlimousine und lässt sich durch die Stadt chauffieren. Doch die Reise zieht sich, denn New York befindet sich im Ausnahmezustand: Infolge eines Besuchs des Präsidenten sind zahlreiche Strassen abgeriegelt, der Verkehr steht still. Gleichzeitig findet ein zur Massenveranstaltung gewordener Beerdigungszug für einen berühmten Musiker statt und in Manhattan ist eine antikapitalistische Demonstration im Gange. Die Sache wird zusätzlich verkompliziert, als Erics Sicherheitschef Torval (Kevin Durand) die Nachricht erhält, das Leben seines Schützlings sei durch zwei "ernstzunehmende Bedrohungen" in Gefahr. Das hält Eric aber nicht davon ab, sich auf seiner Odyssee mit seiner neuen Frau (Sarah Gadon), seiner Geliebten (Juliette Binoche), seinem Geschäftspartner (Jay Baruchel), seinem Hausarzt, der ihm mitteilt, er habe eine asymmetrische Prostata – was bedeutet das? –, und seiner Finanzberaterin (Samantha Morton) zu treffen und sein ganzes Vermögen mit einer riskanten Spekulation aufs Spiel zu setzen.

Der Kapitalist, eingesargt in der Stretchlimousine: Der Multimilliardär Eric Packer (Robert Pattinson) lässt sich im Schritttempo durch New York chauffieren.
New York gehört zu den lautesten Städten der Welt. In den von Wolkenkratzern gesäumten Strassenschluchten sammeln sich Baulärm, Verkehrsgeräusche, das Treiben von Hunderttausenden von Menschen. Doch Eric Packers Limousine ist immun dagegen: Sie ist "proustifiziert", mit Kork ausgekleidet wie das Studierzimmer des französischen Autors, völlig schalldicht; jede Form von Aussenlärm wird geschluckt. Das opulente, mit Computern, Panzerverkleidung, einem Sicherheitssystem, sogar einer Toilette ausgestattete Luxusvehikel ist mehr als ein Refugium des superreichen Magnaten. Es ist eine Gegenwelt, ein Vakuum; die Existenz der sie umgebenden Stadt ist unwichtig, ja kaum bemerkbar. Mit einem die Filme der Neunzigerjahre evozierenden Weitwinkelobjektiv wird die Weite des eingeengten Raumes angedeutet. Es herrscht eine klinische, gespenstische Stille, das einzig wirklich Hörbare sind die Gespräche, die Eric mit seinen Besuchern führt. Diese drehen sich um Geld, um Firewalls, um riskante Börsengeschäfte, um Statistiken und Zahlen, bedeutungslosen Sex – die Limousine ist, wie Eric selber, frei von Gefühlen (einzig der Tod eines von ihm verehrten Rappers entlockt ihm eine menschliche Regung), also flüchtet er sich in zynische Exzesse. Er, der archetypische Kapitalist, sieht zu, wie sein Imperium in sich zusammenfällt, zuckt dabei aber nicht mit der Wimper. Er spielt mit dem Gedanken, sich ungeheure Schmerzen zuzufügen, nur um endlich etwas zu spüren. Gleichzeitig aber ist er getrieben von einer arroganten Egozentrik und einer unstillbaren Gier: Ihm wird ein Bild von Mark Rothko angeboten, Eric will die ganze – unverkäufliche – Rothko-Kapelle. Er wacht mit dem Gefühl auf, seine Haare schneiden zu müssen, also muss er sie sich von seinem Hauscoiffeur schneiden lassen, ungeachtet der gegebenen Bedingungen des Tages.

Auf der Suche nach neuen Gefühlen: Eric im Haus des mysteriösen Benno (Paul Giamatti).
Cronenberg übernimmt DeLillos Dialoge oft Wort für Wort, um die Tragödie und die Irrationalität des Finanzkapitalismus zu illustrieren. Dies führt zwar mehrfach zu irritierend gestelzten, ausgedehnten Austauschen, die durch die unterkühlten schauspielerischen Darbietungen noch unterstützt werden; doch das Gefühl, dass es sich dabei um eiskaltes Kalkül des Regisseurs handelt, lässt sich nicht abschütteln. Cronenberg erweitert DeLillos Vision einer entmenschlichten Geschäftswelt durch distanzierte Dialoge und "leere" Gesichtsausdrücke. Der Kapitalismus wird gnadenlos zerlegt und seziert. In der Limousine wird fast beiläufig über Geld und seine Wertlosigkeit philosophiert; die von Samantha Morton gespielte Finanztheoretikerin (!) wiederholt fortwährend den Satz "I understand none of this" und weist darauf hin, dass auch eine Ratte ein valables Zahlungsmittel sein könnte, solange sich nur genug Menschen darauf einlassen würden. Die anarchistischen Demonstranten berauben Erics Karosse ihres oberflächlichen Glanzes, während sie in Anlehnung an Marx' Kommunistisches Manifest die Parole "A specter is haunting the world. The specter of capitalism." verbreiten. Cronenberg enttarnt das System aus Daten, Devisen, Dividenden als eine einzige grosse Illusion, ein Nichts, dessen wahnwitzige Wankelmütigkeit jeglichen Fortschritt lähmt – die amerikanische Börse stockt wegen einer einzelnen Pause in einer Rede des Finanzministers; er beruft sich auf das marxistische Postulat des sich selber übersättigenden Kapitalismus – "wealth for its own sake"; und als Eric schlussendlich seinem potenziellen Mörder gegenübersteht, zieht er die logische Konsequenz. "I wanted you to save me" sind die letzten Worte des Films. Paul Giamatti spricht sie, während er Eric eine Waffe an den Kopf hält. Die Heilsverkündung des Kapitalismus ist die Aussicht, allen zu finanziellem Wohlstand zu verhelfen, sie ist seine einzige Existenzberechtigung. Hält er sein Versprechen nicht, ist sein Anspruch, das allgemein gültige System zu sein, verwirkt; er muss zerstört werden.

Cosmopolis ist ein wuchtiges Stück politisches Kino. David Cronenberg verfolgt seine – und Don DeLillos – Mission kompromisslos; er liefert keine Psychologisierung der parabelhaften Hauptfigur; er verzichtet auf versöhnliche Töne. Es ist ein überaus parteiischer Film, der auf hochgradig komplexe Art und Weise die globale antikapitalistische Revolution ausruft. Predigt er das Offensichtliche? Gut möglich, doch wie die gegen ihn vorgebrachten Vorwürfe, er sei "hohl", "oberflächlich" und "pseudointellektuell" zeigen, haben allzu viele Menschen das Offensichtliche noch nicht verstanden.

★★★★

Ice Age: Continental Drift

Kaum eine Filmserie illustriert den Satz "Zuviele Fortsetzungen verderben die Franchise" so trefflich wie die Ice Age-Reihe der Fox-Studios. Vier Jahre nach dem Überraschungserfolg des 2002 erschienenen ersten Teils wurde mit The Meltdown ein Sequel produziert, das weit weniger anspruchsvoll war als sein Vorgänger und dessen Charaktere schon empfindlich überzeichnet waren. 2009 folgte mit Dawn of the Dinosaurs der Tiefpunkt der Franchise. Trotz guter Einspielergebnisse wurde im Hinblick auf das dritte Sequel Regisseur Carlos Saldanha durch das Duo Steve Martino und Mike Thurmeier ersetzt. Obwohl sich dies zumindest einigermassen ausgezahlt hat, ist Ice Age: Continental Drift immer noch ein mittelmässiges Familienabenteuer. Die krude Vermenschlichung der Charaktere ist vollständig, die emotionalen Zwischentöne werden auf die übelsten Klischees reduziert und die Hoffnung auf das Ende der Reihe ist ungebrochen.

Einige Jahre, nachdem Mammut Manny (Stimme: Ray Romano), Säbelzahnkatze Diego (Denis Leary) und Faultier Sid (John Leguizamo) ihr Abenteuer im Land der Dinosaurier erlebt haben – Sid: "It didn't make sense but it was exciting!" –, haben sie sich nun alle zusammen an einem ruhigen Plätzchen niedergelassen. Diego pflegt seinen Ruf als furchtloser Jäger, Manny kümmert sich mit seiner Frau Ellie (Queen Latifah) um seine mittlerweile im Teenager-Alter angelangte Tochter Peaches (Keke Palmer), und Sid bekommt unverhofft seine zahnlose, in einem fort redende Grossmutter (Wanda Sykes) aufgehalst. Als das Urzeithörnchen Scrat (Chris Wedge) in seiner unstillbaren Gier nach Eicheln versehentlich die Kontinentalplatten zum Brechen bringt, stranden Manny, Sid, Diego und Oma Faultier auf einer Eisscholle und treiben ins offene Meer hinaus, derweil Ellie und Peaches, die zum Leidwesen ihres Igel-Freundes Louis (Josh Gad) um die Gunst des Mammut-Schönlings Ethan (Drake) kämpft, die restlichen Bewohner ihrer Heimat an einen sicheren Ort führen. Das Eisschollen-Trio wird seinerseits von Piraten aufgelesen, die sich unter dem Kommando des blutrünstigen Affen-Kapitäns Gutt (Peter Dinklage) befinden. Unter Gutts Mannschaft befindet sich die gerissene Säbelzahnkatze Shira (Jennifer Lopez), die Diego den Kopf verdreht.

In zehn Jahren und drei Fortsetzungen hat sich Ice Age sehr weit von seinem ursprünglichen Konzept entfernt. Im Original figuriertern nomadisch lebende Menschen, die in einer eher jüngeren Steinzeit zugeordnet werden konnten; die Tiere, obgleich nicht alle wirkliche Zeitgenossen, verhielten sich mindestens stellenweise so, wie man es von ihnen erwarten würde; und es wurden durchaus erwachsene Motive wie Einsamkeit, Familienwunsch, ja sogar die Auswirkungen der menschlichen Evolution auf den Rest der Fauna angesprochen. Die Zerstörung dieser Bemühungen nahm in The Meltdown ihren Lauf, als mit Ellie ein Mammut eingeführt wurde, welches in einer Sippe von Opossums aufgewachsen ist. Die animierte Eiszeit wurde zum prähistorischen Jekami: Die Menschen verschwanden spurlos, die Autoren ersannen Schneeschmelzen, versteckte Dinosaurierhöhlen und gegen tropische Temperaturen resistentes Eis. Und nun gründet der neueste Eintrag in die Reihe darauf, dass Sid, Manny, Diego und ihre tierischen Freunde in Tat und Wahrheit bis anhin auf Pangäa lebten. Angesichts der Tatsache, dass es sich bei Ice Age um eine Franchise handelt, in der ein Smilodon, ein Wollmammut und ein zu kurz geratenes Riesenfaultier gemeinsam Abenteuer bestehen, ist es müssig, über Sinn und Unsinn derartiger historischer Unstimmigkeiten zu debattieren. Doch diese bringen andere Unstimmigkeiten mit sich.

Und wieder wird gewandert: Faultier Sids (Stimme: John Leguizamo) Gequassel geht Mammut Manny (Ray Romano) und Smilodon Diego (Denis Leary) immer noch auf die Nerven.
Da Manny neuerdings nicht nur die Rolle des Ehemanns, sondern auch die des Familienvaters zu spielen hat, ist es verständlich, dass sich Continental Drift eines Generationenkonflikts annimmt. Zwischen Manny, der sich drei Filme lang in Lebensgefahr begeben hat – wobei ein hungriges Rudel von Säbelzahnkatzen noch das kleinste Übel war –, und seiner Tochter, welche die Waghalsigkeit ihrer Mutter geerbt hat, eine Coming-of-Age-Geschichte aufzuziehen, hätte durchaus Potenzial – selbst wenn Pixar dies 2003 bereits in ähnlicher Form tätigte (Finding Nemo) und es dezeit neu auflegt (Brave). Die Beziehung zwischen Clownfisch-Vater und -Sohn funktioniert nicht zuletzt deswegen, weil die Reibungen auf natürliche Weise zustande kommen und die Streitpunkte universell genug sind, um auf umständliche und peinliche Vermenschlichung verzichten zu können. Manny und Peaches hingegen streiten sich, weil die Autoren Michael Berg, Jason Fuchs und Mike Reiss (The Simpsons, The Critic) der Auffassung waren, die beiden Handlungsstränge bräuchten eine engere Verbindung. Manny blamiert seine Tochter, also spricht sie die Konflikt garantierenden Worte, die auf den Index für Autoren gehören – "I wish you weren't my father!" –, traurige Musik setzt ein und das verheerende Erdbeben folgt sogleich, sodass beide Seiten fürchten, sich im Streit von einem Familienmitglied verabschiedet zu haben. Die obligate Charakterentwicklung von Manny und der liederlich geschriebenen Peaches wird mit je einem Satz abgewickelt, was nur noch einmal unterstreicht, wie überflüssig dieser Subplot ist. Noch schlimmer aber ist der Versuch des Films, Romantik Einzug halten zu lassen. Auf der einen Seite stehen Diego und Shira, deren klischeehafte Hassliebe zu manchem schmerzhaften Austausch führt. Auf der anderen agieren Peaches, Louis und Ethan mitsamt der an die Protagonisten von Jersey Shore erinnernden Mädchen-Entourage, komplett mit Blumen im Fell und "kecken" Kommentaren.

Liebestoller Nachwuchs: Mannys Tochter Peaches (Keke Palmer) berät sich mit ihrem besten Freund Louis (Josh Gad).
Und doch findet sich inmitten des Durcheinanders aus nervtötenden Figuren, unsinnigen Elementen – mit Blättern segelnde Schliefer, Piratenschiffe aus Eis –, uninspirierten Anspielungen, zu vielen Handlungen, überhasteten Problemlösungen, schlechten Dialogen, unbrauchbaren Subplots, einer plötzlich auftretenden Gesangseinlage und einer inzwischen überbeanspruchten Botschaft – das Credo "Familie ist wichtig" generiert eine begrenzte Anzahl von Geschichten – etwas, das in Dawn of the Dinosaurs schmerzlichst vermisst wurde: Humor. So ärgerlich, so vorhersehbar, so abgedroschen der Plot auch sein mag, Continental Drift profitiert von einigen wirklich gelungenen Witzen, die wohl hauptsächlich auf Mike Reiss' Mitwirken zurückzuführen sind. Rohrkrepierer sind immer noch vorhanden, aber die Gag-Dichte hat gegenüber dem letzten Teil deutlich zugenommen. Wanda Sykes' Faultier-Grossmutter ist köstlich, die Selbsterkenntnis von Ellies Opossum-Geschwistern trifft den Nagel auf den Kopf ("We're very, very stupid") und sogar Scrat kann wieder einige Lacher für sich verbuchen. Zudem scheinen die meisten Sprecher – im Gegensatz zum dritten Teil – wieder Spass an der Sache gehabt zu haben; besonders Denis Leary und Peter Dinklage laufen zu Höchstform auf. Und selbst Patrick Stewarts Kürzest-Gastauftritt überzeugt.

Ice Age: Continental Drift ist nach dem katastrophalen dritten Teil zweifellos ein Schritt nach vorne. Doch der Hauptgrund für Erwachsene, sich ins Kino zu begeben, liegt beim Vorprogramm – einem Simpsons-Kurzfilm. Dieser trägt den Titel The Longest Daycare und zeigt Maggie, wie sie in der Kindertagesstätte eine Raupe vor dem Hammer ihres Erzfeindes Gerald, dem Baby mit nur einer Augenbraue, retten muss. Der fünfminütige Film, der wie ein klassischer Disney-Cartoon aufgezogen ist, ist fantasievoll, lustig, mitreissend, berührend und wunderschön. Wenn ein Animationsabenteuer in Spielfilmlänge einer fast zwanzigmal kürzeren Beigabe in sämtlichen Belangen unterlegen ist, dann ist es an der Zeit, darüber nachzudenken, ob man die Franchise nicht besser zu Grabe tragen sollte.

★★

Mary & Johnny

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Oft muss sich die zeitgenössische Schweizer Filmszene Farblosigkeit und Eintönigkeit vorwerfen lassen. Dem schrillen Mary & Johnny, der innovativsten hiesigen Produktion seit Jahren, ist es nun gelungen, dieses Klischee aufzubrechen. Doch das Projekt wird von seiner Selbstgefälligkeit zu Fall gebracht.

Irgendwo in einer dunklen Gefängniszelle sitzt Mischa (Marcus Signer, der als Erzähler seine beste Pedro-Lenz-Imitation zum Besten gibt), wettert gegen die dumpfe Gesellschaft aus "iPhönlern, Twitterern und Blögglern" und schickt sich an, eine Geschichte zu erzählen, die ganz besonders werden soll. Die Hauptrolle sollte "einer mit Augen wie Tobey Maguire" spielen – Johnny: Philippe Graber; die oberflächliche Mary wäre für eine "Ex-Schwizermeischterin im Usgseh" geeignet – Mary: die chargierende Ex-Miss Nadine Vinzens. Was folgt, ist eine wilde, verwirrende, katastrophale Sommer-Partynacht am Zürifäscht 2010, frei nach Ödön von Horváths Stück Kasimir und Karoline – die Wirtschaftskrise 1929 wird zum Finanzdesaster 2008, das Oktoberfest zur Zürcher Sause. Johnny hat seine Arbeit verloren und verkracht sich beim abendlichen Feiern mit seiner Freundin Mary. Sie sucht Trost beim Aufreisser Hofstettler (Nils Althaus in seiner besten Rolle) und dem Fussballfunktionär Sepp (Andrea Zogg), findet aber nur Alkohol und Drogen. Er wiederum lässt sich von Mischa für eine Diebstahltour einspannen und kommt dabei Mischas Freundin (Gina Gurtner) näher. Doch die Wege des ehemaligen Paars kreuzen sich andauernd.

Das auffallendste Charakteristikum von Samuel Schwarz' erstem Kinofilm ist der Umstand, dass sich Mary & Johnny als Film begreift; Mischa fantasiert über eine Verfilmung seiner Erzählung, distanziert sich von einem "Gewackel wie bei den Dänen" und redet von einem einführenden Voiceover à la Robert De Niro; es müsse einfach etwas philosophischer sein. Diese Anfangsminuten sind trotz der stellenweise etwas aufdringlichen Meta-Kommentaren recht gelungen, erfassen sie doch punktgenau das Gefühl von überbordendem Party-Chaos, auch dank Marcus Signers stimmigen "Sommer 2010"-Monologs. Es wird schnell ersichtlich, dass Schwarz daran gelegen ist, seinen Film buchstäblich aus allen Nähten platzen zu lassen, um so die Atmosphäre des Zürifäschts möglichst realistisch einzufangen. Dazu gehören nicht nur die Wackelkamera und das brillante Sounddesign – häufig die grosse technische Schwäche neuerer deutschsprachiger Produktionen –, sondern auch die poppige Inszenierung mit ihren schrillen Farben, der erdrückenden Musikbeschallung und der Betonung des Unvollendeten, des Billigen. Ästhetisch funktioniert Mary & Johnny.

Glücklichere Zeiten: Mary (Nadine Vinzens) und Johnny (Philippe Graber) besuchen zunächst noch als Paar das Zürifäscht 2010.
Doch das gerade wegen seiner Dissonanz plausible Potpourri aus Geräuschen, Blinklichtern und Gefühlen scheitert leider an Schwarz' selbstverliebtem Drehbuch. Der wütende, zynische Rundumschlag gegen Konsumgesellschaft, Profitgier, Oberflächlichkeit, Korruption und Zürich – hier bewohnt von desillusionierten Wallisern, Bündnern und Luzernern – falliert; er verliert sich in pseudophilosophischen Platitüden und unlustigen Witzen – Anspielungen auf Carl Hirschmann und die Fifa, deren Name mit einem Piepston anonymisiert wird, generieren nicht automatisch Subtext. So versinkt der Film in der eigenen Bedeutungslosigkeit. Und selbst seinem Anspruch auf Realismus wird Schwarz nicht gerecht: Die Fussball-WM 2010 als zusätzliche Szenerie wird fehlerhaft bemüht; das Viertelfinale Holland-Brasilien (2. Juli) findet plötzlich am gleichen Tag wie das Finale Spanien-Holland (11. Juli) statt.

Innovation garantiert keinen Erfolg; Schwarz' Debüt belegt dies anschaulich. Es mag sich über Konventionen helvetischen Filmschaffens hinwegsetzen, tut dies aber mit einer unausstehlichen Selbstzufriedenheit. Mary & Johnny ist ein Film wie ein One-Night-Stand: Er ist wild, aufregend, oberflächlich, schnell vorüber und er gaukelt einem eine Bedeutsamkeit vor, die er eigentlich gar nicht hat.

★★

Samstag, 7. Juli 2012

Et si on vivait tous ensemble?

Eine soziologische Tatsache, welche in den letzten Jahren immer wieder mit Besorgnis festgestellt wird, ist die der Überalterung. Westlichen Industriestaaten, besonders in Europa, wie Deutschland oder Frankreich, droht in nur wenigen Jahrzehnten ein Übergewicht an Menschen jenseits von 65 Jahren, wobei sich schon jetzt die Frage stellt, wie angesichts dieser Aussichten ein Altern in Würde überhaupt möglich ist und ob das Bild des pensionierten Mittsechzigers nicht ausgedient hat. Rund um die Problematik der Parallelgesellschaft der alten Leute baut Stéphane Robelin Et si on vivait tous ensemble?, eine Komödie, die sich mit Jean Becker'scher Leichtigkeit an ein ernstes Thema heranwagt und sich dabei übernimmt – allerdings auf charmante Art und Weise.

Das Rentner-Quintett, alle 70 und älter, bestehend aus Claude (Claude Rich, 83), den Eheleuten Albert (Pierre Richard, 77) und Jeanne (Jane Fonda, 74) sowie Annie (Geraldine Chaplin, 67) und Jean (Guy Bedos, 78), kennt sich schon seit Jahrzehnten; ihre Freundschaft dauert an, auch wenn mittlerweile alle den Beschwerden des Alters ausgesetzt sind. Frauenheld Claude muss nach einem Herzinfarkt kürzer treten und auf Schäferstündchen mit Prostituierten verzichten; andernfalls droht ihm der Gang ins Altersheim. Gourmet Albert leidet zunehmend an Alzheimer, die offene Akademikerin Jeanne erholt sich von einem Krebsleiden, Annie erträgt ihr Alter nicht und Politaktivist Jean sieht sich gezwungen, seinen geliebten Demonstrationen fortan fern zu bleiben, da ihm sonst die Lebensversicherung gekündigt wird. Nach einem Schwächeanfall von Claude steckt dessen Sohn ihn tatsächlich in ein Pflegeheim, woraufhin ihn seine Freunde "befreien". Gemeinsam wird beschlossen, dass das Leben einfacher ist, wenn sie alle unter einem Dach leben – unter demjenigen von Annie und Jean. Zusätzlich quartiert sich auch der deutsche Ethnologie-Student Dirk (Daniel Brühl) ein; er schreibt seine Dissertation über die Rolle der Alten im modernen Frankreich.

Et si on vivait tous ensemble? mag auf einem Originaldrehbuch, geschrieben von Regisseur Stéphane Robelin, beruhen; prominente filmische und literarische Bezugspunkte lassen sich aber mühelos erkennen. Das Untersuchen von Dynamiken unter alten Freunden scheint sich auf Cécile Telermans Tout pour plaire zu berufen, auch wenn hier die Protagonisten mehr als 30 Jahre älter sind; die Idee, eine Gruppe von Rentnern und einen jungen Mann, dem die Funktion eines Beobachters zukommt, zusammen in ein Haus ziehen zu lassen, erinnert schwer an Deborah Moggbachs Roman These Foolish Things, der Anfang 2012 von John Madden unter dem Titel The Best Exotic Marigold Hotel – wie Robelins Film mit schauspielerischem Hochadel besetzt – verfilmt wurde. Doch am augenfälligsten scheint der Einfluss der Filme Jean Beckers hervor. Becker, seit 1961 im Geschäft, Regisseur von kleinen Wunderwerken wie Dialogue avec mon jardinier oder La tête en friche, ist zurzeit der unbestrittene Meister des französischen Understatements; seine Filme sind herzliche, oft komische Oden ans Einfache und Menschliche voller philosophischer Anklänge. Diesem Ideal eifert Robelin in seinem zweiten Langspielfilm beflissen nach, trifft aber die richtigen Töne nicht immer.

Heiterkeit herrscht, auch im Alter: Die Freunde Jean (Guy Bedos, vorne), Albert (Pierre Richard, Mitte) und Claude (Claude Rich).
Eine der grossen Stärken Beckers ist das Aufrechterhalten von Interesse, selbst wenn im Film selber nur wenig passiert; Robelin bekundet Mühe damit. Et si on vivais tous ensemble? plätschert während des ersten Akts recht gemächlich vor sich hin. Langeweile stellt sich keine ein, doch es fehlt der Geschichte die Dringlichkeit, die Charaktere werden nicht konzis genug eingeführt. An dieser holprigen, allzu langen Exposition leiden auch Motiv und Subtext; hölzerne Linien, zumeist von Seiten der ohnehin durchschnittlich geschriebenen Annie, etablieren den Grundton. Erst durch das Erreichen der Prämisse – die Wohngemeinschaft – bekommt der Film einen fliessenden, schlüssigen Rhythmus; das definitive Zusammenführen der Protagonisten hilft dem Erzählfluss. Dass gewisse Elemente des Films vorhersehbar sind – in einem Freundeskreis von Mittsiebzigern ist mindestens eine Person dem Tode geweiht –, tut diesem keinen Abbruch. Robelin gelingt es ausgezeichnet, die Schmerzen, aber auch die Freuden seiner Figuren zu artikulieren. Nicht zuletzt ist dies einem Becker'schen Minimalismus zu verdanken: Alberts Alzheimererkrankung wird nie als solche benannt, Jeannes Krebs ebensowenig; wie die Erhaltung der eigenen Sexualität oder die Rückbesinnung auf längst vergessene Wünsche werden die Beschwerden werden zu natürlichen Begleiterscheinungen des Alters.

Interessant an Robelins Film ist die fast vollständige Auslassung der "normalen" Gesellschaft. Et si on vivait tous ensemble? ist ein Milieu-Kammerspiel; jüngere Akteure, Dirk ausgenommen, spielen Nebenrollen: Ärzte, Umzugsmänner, Pfleger, Claudes besorgter Sohn. Unter den WG-Bewohnern spielen sich aber auch ohne ein sich einmischendes Umfeld Szenen von grosser emotionaler Kraft ab – die lange letzte Einstellung ist ebenso rührend wie tragisch. Grossen Anteil daran hat der Cast: Jane Fonda und Geraldine Chaplin gefallen wie gewohnt; Claude Rich und Guy Bedos mögen die meisten Lacher auf ihrer Seite haben, doch Komiker Pierre Richard behält auch als Alzheimerkranker seinen typischen Schalk bei, spielt aber, wenn es darauf ankommt, gross auf; in Alberts verwirrtesten Momenten scheint er sich an Nigel Hawthornes Darbietung in The Madness of King George zu orientieren. Als grösste Überraschung erweist sich Daniel Brühl. Zwar fällt seine Rolle vergleichsweise klein aus, doch mit seiner Darbietung – wohl seiner besten seit Good Bye Lenin! – vermag er ihr eine ungeahnte Tiefe zu verleihen.

Vereint in der Rentner-WG (v.l.): Annie (Geraldine Chaplin), Jean, Claude, Student Dirk (Daniel Brühl), Albert und Jeanne (Jane Fonda).
Wäre Robelins Tragikomödie zehn bis zwanzig Minuten kürzer, könnte man sie wahrscheinlich als kleine französische Kinoperle verbuchen. Eigentlich ist Et si on vivait tous ensemble? eine emotional kraftvolle, vorzüglich gespielte, nachdenkliche Dramödie um das viel diskutierte Thema des Alterns in Würde und Zufriedenheit – allemal ein gehaltvollerer Beitrag als The Best Exotic Marigold Hotel. Leider aber wird der Gesamteindruck durch eine eher träge, nicht sonderlich inspiriert geschriebene und inszenierte erste halbe Stunde getrübt; gerettet wird das Projekt letztendlich durch die Realisierung seiner Grundidee. Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass Jean Becker immer noch der beste Jean Becker ist.

★★★

Donnerstag, 5. Juli 2012

Shame

Sex. Der phyische Akt der Liebe. Coitus. Vor kaum einem anderen Thema schreckt das Mainstream-Kino noch immer so sehr zurück. Hollywoods "Production Code" mag längst Geschichte sein, doch die Hemmungen bestehen nach wie vor. Nacktheit figuriert nur in Extremfällen und wenn, dann ist in der Regel nur die obere Körperhälfte zu sehen. Dieses Prinzip der Scham – manche mögen es für vernünftig, andere für verklemmt halten – wird nun vom britischen Künstler Steve McQueen radikal aufgebrochen. McQueen, "von Haus aus" der Provokation zugetan – sein Debüt drehte sich um Bobby Sands, die umstrittene Ikone der militanten nordirischen Republikaner –, porträtiert in Shame den inneren und äusseren Zerfall eines Sexsüchtigen ohne jede Furcht vor der heiklen Thematik.

Brandon (Michael Fassbender), so scheint es, ist ein selbstsicherer und erfolgreicher Mittdreissiger – man könnte ihn beneiden. Er bewohnt ein schickes New Yorker Appartement, geht einer gut bezahlten Arbeit nach, er ist attraktiv und bekundet keinerlei Probleme, Frauen zu verführen. Niemand aber ahnt, dass sich hinter der geordneten Fassade ein vom Sex Besessener verbirgt. Der Mann konsumiert Pornos, wann immer möglich; während der Arbeit nutzt er seine Toilettenpausen zum Masturbieren; abends bestellt er sich Prostituierte in seine Wohnung. Eine längere Beziehung konnte er noch nie unterhalten und inzwischen hat er auch jegliches Interesse an einer solchen verloren. Seine krankhafte Routine wird jäh gestört, als sich seine jüngere Schwester, die talentierte, aber höchst sensible Nachtclubsängerin Sissy (Carey Mulligan), bei ihm einquartiert. Er versucht nun erstmals, seine Dämonen zu besiegen, etwa indem er mit seiner hübschen Arbeitskollegin Marianne (Nicole Beharie) ausgeht. Doch diese sind nicht einfach zu überwinden.

Brandon liegt im Bett, von der Hüfte abwärts von der Decke verhüllt, und starrt ein Loch in die Luft. Brandon starrt eine junge Frau in der U-Bahn so lange an, bis ihr die Tränen kommen und sie nicht mehr ruhig an ihrem Platz sitzen kann. Brandons Tagesablauf wird durch Sissys Männerbesuch – ausgerechnet sein Chef – gestört, also rennt er auf einer kontinuierlichen Geraden durch das nächtliche New York, parallel zu Sean Bobbitts Kamera. Wer Hunger, Steve McQueens Erstling aus dem Jahr 2008, gesehen hat, hat schon eine vage Ahnung von der künstlerischen Vision des Regisseurs: Karge, meist symmetrische Bilder, lange Einstellungen, die Kamera bewegt sich kaum, die Figuren oft noch weniger. Shame führt diesen Stil konsequent weiter und erzielt mit der Verbindung von schnurgeraden Linien, steril-spartanischer Einrichtung, in die sich das kantige Gesicht des sich häufig am Rand der Einstellung befindenden Michael Fassbender hervorragend einfügt, und klinisch-kühler Inszenierung eine ureigene Ästhetik, die einen faszinierenden Kontrast zu den zahlreichen Sexszenen bildet. Bobbitts Kamera wird zum entrückten Beobachter, frei von jeglichem Voyeurismus; es ist nicht der Sex, der im Mittelpunkt steht, auch nicht die Partnerinnen, deren Gesichter, wenn sie denn einmal zu sehen sind, schnell wieder vergessen sind, sondern einzig und allein Brandons Situation.

Angeschlagene Geschwisterliebe: Der sexsüchtige Brandon (Michael Fassbender) muss seine von Depressionen geplagte Schwester Sissy (Carey Mulligan) bei sich aufnehmen.
Die Geschichte, die McQueen und Co-Autorin Abi Morgan (The Iron Lady) rund um ihre Grundidee aufziehen, mag an sich nicht ausreichen, um 100 Minuten Film auszufüllen, doch mit den langen Sequenzen, von denen einige mit grossartigen, weil lebensnahen, Dialogen angereichert sind, öffnen sich für den Zuschauer spannende, abgrundtief tragische Gefühlswelten. Die Ursachen für Brandons Abhängigkeit bleiben ebenso im Dunkeln wie die weitere Entwicklung; Shame ist eine nach allen Seiten hin offene Charakterstudie, ein Psychogramm, welches primär aus feinsten Andeutungen besteht. Brandons Bemühungen, seine Sucht zu besiegen, versprechen keinen bleibenden Erfolg und obwohl Sissys Anwesenheit ihn dazu veranlasst, sein Leben zu überdenken, obwohl sie familiäre Wärme mit sich zu bringen scheint – sie ist die einzige Figur, welche in der Lage ist, die im Film herrschende Kühle zu überwinden –, garantiert auch dieser Weg keine Erlösung, ist sie doch ebenso geschädigt vom Leben wie ihr Bruder – "We're not bad people, we just come from a bad place." Shame ähnelt in seiner kompromisslosen Haltung und seiner Beschreibung zweier im Grunde kaputter Menschen sehr Paddy Considines Tyrannosaur, dem anderen grossen britischen Arthouse-Film des Jahrgangs 2011.

Wie bereits Hunger ist auch Steve McQueens Zweitwerk ein vielschichtiges Kunstwerk. Der Film über Bobby Sands' berühmt-berüchtigten Hungerstreik fand ungeahnte Schönheit im Elend, in den mit Exkrementen verschmierten Wänden des Maze-Gefängnisses, während er gleichzeitig die Debatte um den Status der IRA-Kämpfer streifte; Shame wiederum hinterfragt mit seiner schonungslosen Offenheit und strikten Neutralität die Einstellung der Menschen zur medialen Darstellung von Sexualität und stellt mit der Rekonstruktion des Zusammenbruchs seines Hauptcharakters gleichzeitig die soziokulturelle Frage, welchen Wert Sex in einer desensibilisierten Gesellschaft hat – oder überhaupt haben kann. Letztendlich aber könnte McQueen mit Shame vor allem eines ermöglicht haben: einen erwachsenen Umgang des Kinos mit Sex – dem urmenschlichsten aller Triebe und Tabus.

★★★★

The Amazing Spider-Man

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Viel wurde geschrieben über die "Reboot-Mania", die zurzeit in Hollywood grassiert. Mit The Amazing Spider-Man etwa wird eine Franchise neu aufgelegt, die erst vor fünf Jahren endete. Doch der Film gibt dem Marvel-Studio Recht: Regisseur Marc Webb verbessert Sam Raimis Originalserie mühelos.

Nach einem Einbruch in Mr. Parkers Büro sieht er sich gezwungen, mit seiner Frau auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Den gemeinsamen Sohn gibt das Paar in die Obhut von Onkel Ben (der grossartige Martin Sheen) und Tante May (Sally Field), wo er zu einem intelligenten, aber etwas schüchternen jungen Mann heranwächst. Peter (Andrew Garfield) ist sein Name und an seine verschollenen Eltern denkt er erst wieder, als er eines Tages auf die Aktentasche seines Vaters stösst, die ihn in die Labore des Forschungsinstituts Oscorp führt. Dort lernt er den einarmigen Dr. Curt Connors (Rhys Ifans) kennen, der einst mit Mr. Parker nach einer Möglichkeit suchte, dem menschlichen Körper die Kraft zu verleihen, sich selber zu heilen. Auf seinem Rundgang durch das Labor wird Peter von einer speziell gezüchteten Spinne gebissen, was unglaubliche Konsequenzen nach sich zieht: Der Teenager verfügt plötzlich über enorme Kräfte, übermenschliche Reflexe und ist in der Lage, Wände zu erklimmen. Aus Peter Parker wird "Spider-Man", der durch die Strassen New Yorks streift und Kriminelle dingfest macht. Dadurch bringt er aber nicht nur sich selber, sondern auch Onkel und Tante sowie seine Schulkameradin Gwen Stacy (Emma Stone) in Gefahr. Zudem hat sich Curt Connors inzwischen durch einen Selbstversuch in eine riesige Eidechse verwandelt und verfolgt einen düsteren Plan.

Hätte Sam Raimis Spider-Man-Trilogie (2002, 2004, 2007) wirklich einen Reboot gebraucht? Darüber lässt sich streiten. Immerhin hat die Franchise als Ganzes weltweit fast zweieinhalb Milliarden Dollar eingespielt und erhielt von vielen Kritikern grosses Lob. Rückblickend jedoch wirken Raimis Filme, obwohl unterhaltsam, eher oberflächlich und albern und werden der Figur Peter Parker/Spider-Man kaum gerecht. Entsprechend erfrischend wirkt darum im Vergleich The Amazing Spider-Man. Marc Webb, der hier nach der gehaltvollen romantischen Tragikomödie (500) Days of Summer erst seinen zweiten Film inszeniert, und sein Autorenteam, dem auch der renommierte Steve Kloves (Harry Potter, Teile eins bis vier und sechs bis acht) angehört, nahmen die nötigen Veränderungen gegenüber Raimis Versuchen vor und liefern einen Streifen ab, welcher den 1962 von Steve Ditko und Stan Lee – der, wie in jeder Marvel-Produktion, einen Cameo-Auftritt hat – ersonnenen Spider-Man genau richtig angeht.

Riskanter Nebenjob: Peter Parker (Andrew Garfield) setzt seine neuen Kräfte ein, um Verbrecher zu bekämpfen.
Funktioniert im Reboot alles? Mitnichten. Der Humor wirkt teilweise zu bemüht; von Rhys Ifans' Schauspiel ist man Überzeugenderes gewohnt; die Mischung aus realistischer und fantasievoll-futuristischer Welt hätte feinerer Ausarbeitung bedurft; und die Entwicklung einer Beziehung ist Webb in seinem Erstling besser gelungen. Andererseits aber macht The Amazing Spider-Man vieles richtig: Bei Raimi übernahm Mary Jane – eine klassische "Damsel in Distress" – die Rolle von Peters romantischem Gegenpol; Webb benutzt die von Emma Stone hervorragend gespielte Gwen Stacy, welche intelligenter und selbstständiger ist als "MJ". Zudem löst ihre Mitwisserschaft um Peters Alter Ego viele erzählerische Probleme der vorangegangenen Filme. Das Schema von Pro- und Antagonist wird durch die anfängliche Freundschaft zwischen Peter und Curt "Lizard" Connors angenehm differenziert; die Kampfchoreografien sind dynamisch und mitreissend – auch wenn das 3-D praktisch zwecklos ist –; James Horners Musikscore besticht durch experimentelle Klänge; Webb lässt feine Anspielungen auf Hitchcocks Rear Window einfliessen; die Idee, dass Spider-Man für Peter eine Bürde darstellt, wird trefflicher gehandhabt als bei Raimi; und Andrew Garfield ist ohne jeden Zweifel der überzeugendere Hauptdarsteller, als es Tobey Maguire war.

The Amazing Spider-Man wird derzeit primär deshalb von der Kritik gescholten, weil es sich bei ihm um einen womöglich unnötigen Reboot handelt. Als Film an sich aber ist Marc Webbs Zweitwerk ein befriedigendes Coming-of-Age-Actiondrama, das der filmischen Spider-Man-Franchise nicht nur ihre Würde zurückgibt, sondern auch die richtigen Prioritäten setzt: Herz und Charaktere.

★★★

Sonntag, 1. Juli 2012

A Few Best Men

In der Filmwelt gilt das Klischee: Geschmacklose Komödien kommen aus den USA, gehaltvolle aus Grossbritannien. Man denke an Death at a Funeral, Frank Oz' unterhaltsame, von der Kritik wohlwollend aufgenommene, wenn auch wenig bemerkenswerte Farce um eine chaotische Beerdigung, die drei Jahre nach ihrem Erscheinen ein recht anspruchsloses Remake amerikanischer Produktion erhielt und wütende Verrisse nach sich zog. Vielleicht ist dies der Grund, weshalb Dean Craig, der Autor beider Versionen, sich für seine neueste Posse nach Australien begab, um sich erneut dem genüsslichen Zerlegen einer feierlichen Zeremonie zu widmen – dieses Mal steht eine Hochzeit im Mittelpunkt. Allerdings wirft A Few Best Men kein gutes Licht auf die Beteiligten, weder auf die australische Filmindustrie, noch auf Craig als Autor.

Sechs Monate war David (Xavier Samuel) in der Welt unterwegs, doch nun ist es an der Zeit, wieder ins heimische London zurückzukehren – den schweren Regenwolken und den unfreundlichen Menschen in der englischen Hauptstadt zum Trotz. Diese Rückkehr soll aber nur temporärer Natur sein, da David in Tuvalu die Australierin Mia (Laura Brent) kennengelernt und ihr nach nur zehn Tagen einen Heiratsantrag gemacht hat. Als er dies voller Stolz seinen Freunden, dem Möchtegern-Draufgänger Tom (Kris Marshall), dem naiven Graham (Kevin Bishop) und dem immer noch seiner Ex-Freundin nachtrauernden Luke (Tim Draxl), verkündet, sind diese alles andere als begeistert, da ihr geliebter David nach der in wenigen Tagen in den australischen Blue Mountains stattfindenden Hochzeit für immer Down Under bleiben würde. Dennoch lassen sich die drei überreden, als Trauzeugen mitzufliegen. Nach einer wilden Jungesellenparty, bei der auch das Lieblingsschaf von Mias Vater (Jonathan Biggins), einem hochrangigen konservativen Politiker, arg in Mitleidenschaft gezogen wird, und einem Missverständnis mit dem lokalen Drogendealer (Steve Le Marquand) droht die ganze feierliche Hochzeit im Chaos zu versinken – allerdings auch auf Grund der Eskapaden von Mias Mutter (Olivia Newton-John).

Obwohl der originale Death at a Funeral durch das fehlgeschlagene Remake rückblickend nachgerade als eine Perle des Komödiengenres erscheint, kam auch jener Film aus Dean Craigs Feder nicht ohne diverse Makel aus: Gewisse Witze zündeten nicht, mehrere Charaktere wurden auf Rollenklischees reduziert und ob Nacktheit per se Humor generiert, darüber lässt sich streiten. Waren diese Misstöne auf der britischen Beerdigung aber noch leise und vereinzelt, so sind sie auf der australischen Hochzeit ohrenbetäubend und omnipräsent. A Few Best Men ist ein Chaos aus Stereotypen, Wegwerfgags, vorhersehbaren Wendungen und infantilen Übertreibungen und wirkt streckenweise so billig, als hätte eine Gruppe von Mittelschülern versucht, eine eigenständige Hommage an The Hangover zu inszenieren.

Australische Hochzeitsidylle: Braut Mia (Laura Brent) und Bräutigam David (Xavier Samuel).
Schon früh wird klar, dass Craig und Regisseur Stephan Elliott (Easy Virtue) es in ihrem Projekt nicht darauf anlegen, so etwas wie Anspruch oder gar Niveau aufkommen zu lassen. Sämtliche Elemente des Films lassen sich auf einen Satz reduzieren: London ist eine graue, freudlose, viktorianisches Stadt – fast erwartet man, Dickens'sche Waisenkinder am Strassenrand herumlungern zu sehen –; Australien kann in einem Bild zusammengefasst werden: die Skyline von Sydney im Hintergrund, ein blutiges, angebissenes Surfbrett im Vordergrund; Tom mag Frauen und Drogen; Graham ist ein neurotischer Streber; Luke ist ein depressiver Trauerkloss (Tim Draxls hölzernes Schauspiel ist der Figur ebensowenig zuträglich); und das Pärchen Luke und Mia ist im Vergleich zu den Trauzeugen dermassen normal und beschaulich, dass es beinahe nahtlos mit der, im ersten Moment atemberaubenden, nach der zehnten ausgedehnten Einstellung langweiligen, Szenerie verschmilzt, wäre da nicht die Dissonanz zwischen Xavier Samuel und Laura Brent, dieses gänzliche Fehlen von Chemie.

Man wünschte sich, die Witze wären wenigstens halbwegs erinnerungswürdig, um die fade Palette ausgelutschter Figuren zu kontrastieren – und wären sie noch so schlüpfrig und vulgär. Aber nein, selbst der Humor ist halbherzig, allenfalls mit Ausnahme von Grahams grosser Hochzeitsrede und Toms Beschreibung der Australier. Davon abgesehen, wird A Few Best Men grundsätzlich von drei Arten von Gags "belebt". Es gibt die geschmacklosen, welche ihr Ziel meilenweit verfehlen und für die sich selbst Sacha Baron Cohen in seinen niedersten Momenten schämen würde. Ebenso verbreitet sind die kindisch-überzeichneten Versuche, zu denen auch jegliche Art von Slapstick gehört; wer dem komödiantischen Potenzial von lauten Sirenen gegenüber misstrauisch eingestellt ist, der wird hier seine Skepsis bestätigt sehen. Dem Film mangelt es auch nicht an unsäglich nervigen Witzen; Gesangsstar Olivia Newton-John, die hier auf den Spuren von Julie Whites Performance in Transformers: Revenge of the Fallen wandelt, sollte nach dieser Darbietung der "Living Treasure"-Ehrentitel entzogen werden. Abgerundet wird dieses Feuerwerk des Unlustigen durch stümperhaftes Timing, unausgegorene Ansätze – Grahams Hitler-Schnäuzchen verschwindet ebenso schnell und ohne Konsequenzen wie die speziell eingeführte Sadomaso-Maske – und Craigs Art, eine Geschichte bar jeglicher Überraschung zu schreiben. Jeder Gag, dessen Pointe mehr als zwei Minuten entfernt liegt, ist vorhersehbar: von der bei schlechtem Empfang aufgenommenen Anrufbeantworter-Nachricht bis hin zum Video, das während Davids Rede eingespielt werden soll.

Alles unter Kontrolle? Die Trauzeugen Tom (Kris Marshall, links), Graham (Kevin Bishop, 2.v.r.) und Luke (Tim Draxl, rechts) verwandeln die Hochzeit in ein – unlustiges – Schlachtfeld.
A Few Best Men ist, kurz gesagt, eine Komödie aus der untersten Schublade, und eine einzige cineastische Katastrophe. Doch was ist die Erkenntnis? Sind Farcen um Gruppen junger Männer, die sich kindisch aufführen, passé? Haben Hochzeiten und Feste als Rahmen einer Story ausgedient? Beide Fragen können wahrscheinlich bejaht werden, doch Stephan Elliotts Film ist diesbezüglich nur einer in einer langen Reihe – und bestimmt nicht der letzte. Nein, die Lehre, die aus A Few Best Men gezogen werden kann, ist eine viel einfachere, weil weit weniger umfassende: Dean Craig sollte sich eine neue Arbeit suchen.