Montag, 30. April 2012

The Turin Horse

1977 begann die Karriere des ungarischen Filmemachers Béla Tarr mit dem düsteren Family Nest. Nun, 35 Jahre später, gilt Tarr, dem die Welt Werke wie Damnation (1988), Werckmeister Harmonies (2000) oder Satan's Tango (1994), das 450-minütige Opus magnum des Remodernismus, verdankt, als grösster lebender Regisseur seines Landes. Mit seinem neunten Film will der erst 56-Jährige jetzt einen Punkt unter sein Œuvre setzen. Sollte er Wort halten, wird sein letztes Projekt, The Turin Horse – Originaltitel: A torinói ló –, als triumphaler Abschluss in Erinnerung bleiben.

Am 3. Januar 1889 verlässt der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche sein Haus in Turin. In der Nähe versucht ein frustrierter Fuhrmann, sein stures Pferd in Bewegung zu setzen, indem er es mit seiner Peitsche schlägt. Nietzsche geht dazwischen; der Peitscher lässt von seinem Tier ab. Doch anstatt wieder seinen Geschäften nachzugehen, wirft sich der grossgewachsene Deutsche um den Hals des Pferdes. Kurz darauf wird er nach Hause geführt, wo er zwei Tage lang vor sich hin stiert, bevor er seine letzten Worte spricht – "Mutter, ich bin dumm". Die restlichen zehn Jahre seines Lebens verbringt er in geistiger Umnachtung in Obhut seiner Mutter und seiner Schwestern. Vom weiteren Schicksal des Pferdes wissen wir nichts.

Für die Zuschauer ist es wichtig, diese Anekdote zu kennen und zu verstehen, auch wenn sie auf den ersten Blick nur marginal mit den Vorgängen in The Turin Horse verknüpft ist. Nach der düster-poetisch vorgetragenen Vorgeschichte finden wir uns auf dem Land wieder. Auf einem Bauernhof, der von Hügeln umgeben ist, leben Ohlsdorfer (János Derzsi) und seine Tochter (Erika Bók) in ärmlichen Verhältnissen. Am ersten Tag reitet der Bauer, der von einem lahmen Arm gepeinigt wird, in einem heftigen Sturm nach Hause. Dort stellt er die Kutsche in die Scheune, bringt das Pferd in den Stall und setzt sich zum Essen hin: eine gekochte Kartoffel, wie jeden Tag. Danach setzt er sich ans Fenster, schaut in den Sturm hinaus und begibt sich zu Bett. Am zweiten Tag entdecken Vater und Tochter, dass ihr Pferd nicht mehr frisst und sich auch kaum bewegt. Die Tochter kleidet ihren Vater, holt Wasser, bereitet das Essen zu. Am dritten Tag kämpft sich ein Nachbar (Mihály Kormos) durch den unablässig wütenden Orkan zum Bauernhaus und beschwört die Apokalypse, was Ohlsdorfer aber als Unsinn abtut. Am vierten Tag tauchen Zigeuner auf. Am fünften versiegt der Brunnen. Der Sturm tobt weiter, das Pferd frisst immer noch nicht. Was haben diese Phänomene zu bedeuten? Und was wird am sechsten Tag geschehen?

Erika Bók als Tochter des Bauern Ohlsdorfer.
The Turin Horse ist kein Film im klassischen narrativen Sinn. Es wird zwar eine Geschichte erzählt, doch diese basiert auf Wiederholung und Symbolismus. In dreissig langen, hypnotischen Einstellungen in kontrastreichem Schwarzweiss, meisterhaft eingefangen von Fred Kelemen, dessen Bildsprache des Öftern Rudolph Matés Arbeit an Carl Theodor Dreyers Vampyr evoziert, zeichnet Tarr eine vielschichtige Chronik des Elends, die trotz – oder eben gerade wegen – ihrer repetitiver Motive und der immer wiederkehrenden gespenstischen Musik tief bewegt und fasziniert. Es geht, so der Regisseur, um die "Schwere der menschlichen Existenz", die Last des Alltags, der unter Umständen, wie etwa hier dem der lähmenden Armut, zur trostlosen Sisyphusexistenz verkommt. In diesem Rahmen entfaltet sich der philosophische Kern des Films, in dem auch die Ideen Friedrich Nietzsches nachhallen. The Turin Horse ist in gewisser Hinsicht die nihilistische Umkehr der biblischen Genesis-Geschichte; Lebensgrundlagen – Vieh, Wasser, Lebenswille – verschwinden, eine schlechte Welt versinkt endgültig in Dunkelheit.

Im Zentrum dieser pessimistischen Weltsicht steht der Besucher, der Ohlsdorfer und dessen Tochter am dritten Tag aufsucht und dessen fünfminütiger Monolog zum Eindringlichsten und Besten gehört, was in jüngerer Zeit im Kino zu sehen war. Mihály Kormos' grossartige Sprechleistung trifft auf die raue Poesie der Autoren Tarr und László Krasznahorkai. Der Nachbar will eine Flasche Schnaps kaufen; der anhaltende Sturm habe die nahe Stadt dem Erdboden gleich gemacht. Doch diese Zerstörung innerer und äusserer Welten habe schon vor Jahrhunderten begonnen; sie käme nicht nur von Gott, es seien die Menschen, welche die Verantwortung für den Ruin ihrer Welt trügen. So wird die mysteriöse dritte Figur des Films zu einem Rufer in der Wüste, einer Inkarnation von Nietzsches Zarathustra, der zwar nicht den Tod Gottes, dafür aber dessen Ohnmacht angesichts der nachlässigen, in ihrer Apathie destruktiven Menschheit beklagt.

Mihály Kormos als philosophischer Besucher – laut Regisseur Tarr ein "Schatten Nietzsches".
Der Aktualitätsbezug dieses Klagelieds ist nicht von der Hand zu weisen: Tarr mag primär universelle Problematiken der Condition humaine ansprechen, doch sein Film hat auch eine offenkundige politische Komponente. Es fällt schwer, den Sturm, der laut Erzähler nur aus einer Richtung bläst und jeden Widerstand überwindet, sowie den Besucher, der von "Endsiegen" und unbelehrbaren Menschen spricht, nicht mit den Vorgängen in Ungarns Politik in Verbindung zu bringen. Tarr, ohnehin ein Gegner der Fidesz-Regierung unter Premierminister Viktor Orbán, scheint hier die rechtspopulistische Übernahme seines Landes und die damit verbundene Ausblutung der unabhängigen Kultur anzuprangern, womit sein Rücktritt vom Filmemachen auch eine Äusserung politischen Protests wäre.

Wer sich auf A torinói ló einlassen will, sollte mit Geduld und dem Willen, über den Film eingehend zu reflektieren, ausgestattet sein. Dann wird man mit einem tiefgründigen Kunstwerk belohnt, wie es nur das Kino zu bieten hat. Eine grosse Leistung eines grossen Filmkünstlers.

★★★★★

Sonntag, 29. April 2012

The Avengers

Mit dem Erfolg des Superheldenteams "Justice League of America", welches 1960 von DC Comics ins Leben gerufen wurde, geriet der konkurrierende Marvel-Verlag Anfang der Sechzigerjahre in Zugzwang und veröffentlichte 1963 die erste Ausgabe der "Avengers", einer Heldentruppe, bestehend aus Iron Man, Thor und Hulk sowie den in Vergessenheit geratenen Ant-Man und Wasp. Zwar scheint das Konzept wie gemacht für eine gross angelegte Verfilmung, doch die Fans mussten bis 2008 warten, bis ein derartiges Projekt ins Auge gefasst wurde. Eine Serie von Adaptionen einzelner Charaktere, die 2008 mit Iron Man begann, führte nach und nach zu The Avengers, einem der meisterwarteten Hollywood-Unterhaltungsstreifen des Jahres 2012. Enttäuscht werden dürften die Wenigsten: Joss Whedons Film mag seine Schwächen haben, perfektioniert aber die Actionelemente und die Darstellung der beliebten Figuren.

Nach den Ereignissen in Kenneth Branaghs Thor konnte S.H.I.E.L.D. den "Tesseract" aus Asgard an sich bringen. Zurzeit wird der blau leuchtende Würfel in den Labors der Organisation unter der Leitung von Erik Selvig (Stellan Skarsgård) und Nick Fury (Samuel L. Jackson) untersucht. Doch plötzlich steht der böse Halbbruder Thors (Chris Hemsworth), Loki (Tom Hiddleston), vor dem Tesseract, holt Selvig und den Bogenspezialisten Hawkeye (Jeremy Renner) auf seine Seite und macht sich davon. Der Plan des zwischen Welten reisenden Gottes besteht darin, mit dem mächtigen Energieartefakt und einer ausserirdischen Armee – den Chitauri – die Erde zu unterwerfen. Die Lage ist dermassen verzweifelt, dass Nick Fury die eigentlich abgebrochene "Avengers-Initiative" reaktiviert. Es werden der Donnergott Thor, der hochintelligente Playboy und Magnat Tony Stark alias Iron Man (Robert Downey Jr.), der bis vor Kurzem im arktischen Eis festgefrorene Steve Rogers alias Captain America (Chris Evans), die Agentin Natasha Romanoff alias Black Widow (Scarlett Johansson) und der brillante Wissenschaftler Bruce Banner (Mark Ruffalo), der, wenn er wütend wird, sich in den grünen Giganten Hulk verwandelt, engagiert. Das Team bekundet allerdings Mühe, zueinander zu finden – nicht zuletzt durch Lokis Eingreifen –, treffen hier doch Egomanen auf Patrioten und Muskelprotze auf schüchterne Kopfmenschen.

Verschiedene Persönlichkeiten, Seite an Seite: Iron Man (Robert Donwey Jr.) und Captain America (Chris Evans).
Dass ein Comic-Crossover wie The Avengers im Kino schwierig umzusetzen ist, war von Anfang an klar. Die goldene Mitte zwischen dem eingeweihten und dem unbedarften Zuschauer muss gefunden werden; es ist abzuwägen, wieviel Vorwissen vorausgesetzt werden soll; es besteht das Risiko, gewisse Fangemeinden zu verärgern, da Superhelden nach wie vor in erster Linie Einzelkämpfer sind. Es lässt sich kaum bestreiten, dass Joss Whedon (Buffy the Vampire Slayer) und sein Co-Autor Zak Penn (Last Action Hero, The Incredible Hulk) in ihrem Drehbuch den bestmöglichen Weg gingen. The Avengers ist kein Film, der von seinem Plot angetrieben wird; es sind die Charaktere, die im Zentrum stehen. Dafür mussten allerdings Konzessionen gemacht werden. So wirkt das Ganze in den ersten 30 bis 45 Minuten allzu behäbig, sodass teilweise sogar, wie in den schwächsten Passagen von Thor, das Gefühl entsteht, die Geschichte bewege sich kaum vorwärts.

Jedoch zahlt es sich in eben diesen Momenten aus, dass in Whedon ein Regisseur und Autor gefunden wurde, der mit einem solchen Ensemble umgehen kann. Nicht nur führt er Nebenfiguren wie Black Widow und Hawkeye, deren individuelle Franchisen nicht prestigeträchtig genug sind, um eigene Filme zu generieren, äusserst elegant ein; er weiss auch, wie er die verschiedenen Persönlichkeiten seiner Helden, den "lost creatures", wie es Loki hervorragend auf den Punkt bringt, aufeinanderprallen lassen kann. Anders als bei DCs oftmals überperfekten Kämpfern für Gerechtigkeit ist die Menschlichkeit von Marvels Helden nämlich ein wichtiger Teil ihres Reizes; es wird viel Wert auf die menschlichen Schwächen der übermenschlichen Kreaturen gelegt. Whedon findet im uramerikanischen und deswegen auch gottesfürchtigen Captain America einen würdigen Antipoden zum nordischen Gott Thor und dem zynischen Tony Stark. Dieser wiederum freundet sich schnell mit Bruce Banner an, da beide Unfälle hinter sich haben – Stark eine Explosion, Banner eine Verseuchung durch Gammastrahlen –, welche sie nach gängiger Lehrmeinung nicht hätten überleben sollen. Daraus gewinnt Whedon die nötigen Konflikte und Spannungen, welche dem kaum vorhandenen Plot etwas dringend gebrauchte Dynamik verleihen. Auch lässt er den Humor zu seinem Recht kommen, sei es durch die grandiosen Einzeiler, an welchen es jüngeren Marvel-Verfilmungen, mit Ausnahme von Iron Man, meist fehlte, den stets ironischen Tonfall, die Anspielungen auf vorangegangene Filme oder die herrlichen gegenseitigen Neckereien der Figuren.

"We have a Hulk" – Bruce Banner in seiner Superheldenform.
Sein ganzes Potential schöpft The Avengers schliesslich in der zweiten Hälfte aus. Sobald sich alle Protagonisten zusammengefunden haben und ein Plan ausgeheckt ist, wirkt der Film wie entfesselt. Die bestens aufgelegten, endlich vereinten Schauspieler – allen voran Robert Downey Jr. und Samuel L. Jackson – interagieren prächtig miteinander, die Witze sitzen, Dramatik und Dringlichkeit stellen sich ein. Zur Vollendung werden diese Elemente in einer gigantischen finalen Schlacht gebracht, in welcher Whedon und Kameramann Seamus McGarvey demonstrieren, wie eine derartige Materialschlacht zu inszenieren ist. Anders als die endlosen Roboterkämpfe in Michael Bays Transformers-Reihe lassen sich hier Pro- und Antagonisten tatsächlich unterscheiden; die Kamera wackelt nicht unnötig; Humor und Charakterzüge werden beibehalten; Sinn und Zweck sowie ein Ziel sind eindeutig erkennbar. Zudem reüssiert The Avengers dort, wo Hulk und The Incredible Hulk gescheitert sind: Der grüne Wüterich wird in dieser letzten halben Stunde erstmals treffend dargestellt und eingesetzt: Bruce Banner wird zu einem quasi unbesiegbaren Monster, welches seine Taten aber immer noch kontrollieren kann. Seine Begegnung mit Loki ("Puny god") dürfte einem noch lange in Erinnerung bleiben.

Es ist kaum anzunehmen, dass die lange herbeigesehnte Kinoadaption von Marvels Superheldenteam als Sieger aus dem direkten Vergleich mit Christopher Nolans anstehendem dritten Teil seiner Batman-Trilogie, The Dark Knight Rises, hervorgehen wird. Dennoch beweist Joss Whedon mit The Avengers, dass auch in einem auf Action ausgerichteten Unterhaltungsfilm geschmackvoller Humor und dreidimensionale Charaktere ihren Platz haben – auch wenn Dampfhammer-Filmer wie Michael Bay die Zuschauer dauernd vom Gegenteil überzeugen wollen.

★★★★

My Week with Marilyn


★★★★

In 1956, the legendary Marilyn Monroe went to England to shoot the movie The Prince and the Showgirl in which she was to act alongside Sir Laurence Olivier, who was then considered to be the greatest actor alive. While filming, she allegedly had an affair with Olivier’s third assistant, Colin Clark, who subsequently wrote in much detail about his experiences with the famous actress. In his new film, My Week with Marilyn, which was nominated for two Oscars and won various other awards, director Simon Curtis picks up on Clark’s story but offers us something more: a genuinely heartfelt, thoroughly fascinating look at Marilyn Monroe and her role as a cultural icon. 

Ganze Kritik auf The Zurich English Student (online einsehbar).

Donnerstag, 26. April 2012

Albert Nobbs

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Trotz zahlreicher Auszeichnungen und drei Oscarnominationen vermochte die neueste irische Grosspruduktion bisher weder Publikum noch Kritik zu überzeugen. Albert Nobbs, der gediegenen Adaption von George Moores Geschichte, fehlt es an Fokus und Stringenz.

Dublin im 19. Jahrhundert: Im Morrison's Hotel geben sich Vertreter der "besseren" Gesellschaft die Ehre. Unter dem Personal schätzen die Gäste vor allem einen: Albert Nobbs (Glenn Close, welche die Rolle 1982 schon auf der Bühne spielte), treuer Bediensteter in Mrs. Bakers (Pauline Collins) Etablissement. Jeder kennt ihn, jeder steckt ihm ein Trinkgeld zu. Doch der schüchterne Butler hat ein Geheimnis: Er ist eine Frau, die sich in jungen Jahren dazu entschloss, sich eine erfundene Identität anzueignen, um einer gut bezahlten Arbeit nachzugehen. Als der Maler Hubert Page (Janet McTeer) hinter ihr Geheimnis kommt und ihr offenbart, dass auch er eine Frau ist, freundet sich "Albert" mit ihr und ihrer Frau Cathleen (Bronagh Gallagher) an. Derweil verliebt sich das Zimmermädchen Helen (Mia Wasikowska) in den Handwerker Joe (Aaron Johnson), der sich nach Amerika absetzen will. Allerdings versucht nun auch Albert, um die junge Frau zu werben, sodass er sie heiraten und einen Tabakladen eröffnen kann, um endlich in Freiheit zu leben.

Man kann der Academy of Motion Picture Arts and Sciences vieles vorwerfen, doch bezüglich Albert Nobbs ist er ihr gelungen, den Film in den exakt richtigen Kategorien zu nominieren: Haupt- und Nebendarstellerin sowie Makeup. Dieses sind ohne Frage die grössten Stärken des Films von Rodrigo García (Mother and Child). Unterstützt von sehr dezenter Schminke, begeistern Glenn Close (Fatal Attraction, Dangerous Liaisons) und Janet McTeer (Tumbleweeds, Into the Storm) als Pragmatikerinnen, die sich in einer Gesellschaft, in welcher Geschlechterrollen von Garderobe und Gebaren abhängen, ein Stück Selbstbestimmung erarbeiten, sich dabei aber selber verleugnen müssen: "What's your name?" – "Albert" – "Your real name?" – "Albert". Dieser Dialog zwischen den beiden Frauen ist keine Stilisierung; nicht zuletzt das grandiose Schauspiel Closes und McTeers sorgt dafür, dass die beiden in Albert Nobbs in Frauenkleidern letztlich unnatürlich aussehen.

Albert (Glenn Close) wirbt um die Gunst der jungen Helen (Mia Wasikowska).
Unverständlicherweise gibt sich der Film aber nicht damit zufrieden, sich auf das Zusammenspiel der beiden verkleideten Frauen und die damit verbundenen Themen – Emanzipation, Identität, Homosexualität, Freiheitsbegriff – zu konzentrieren. García, der den ursprünglich für die Regie vorgesehenen István Szabó ersetzte, sowie die Drehbuchautoren Close und der irische Autor John Banville jonglieren mit zu vielen Motiven und Nebenplots, wodurch die Erzählung ihre Prägnanz verliert. Vor allem die Liebesgeschichte zwischen Joe und Helen kann nicht überzeugen, wohl auch weil Aaron Johnson und Mia Wasikowska, obgleich solide, von ihren älteren Kollegen – Close, McTeer und auch Brendan Gleeson – an die Wand gespielt werden. Darüber hinaus scheint sich Albert Nobbs nie richtig sicher zu sein, welchen Tonfall angeschlagen werden soll. Das Resultat ist eine Tragikomödie, die Tragödie und Komödie nie harmonisch miteinander vereinen kann, schön veranschaulicht vom bemühten Ende, das vielem zuwiderläuft, was in den vorangegangenen zwei Stunden aufgebaut wurde.

★★★

Sonntag, 22. April 2012

Michael


★★★

The world abounds in delicate subjects, many of which have been the inspiration for films, despite their stigma. However, there are a few that are so tabooed that even the notion of centering a film, a work of fiction no less, around them generates controversy. Austrian casting director and actor Markus Schleinzer experienced this with his first feature as a director and screenwriter. Michael is about paedophilia, its main character being the offender. This would be a risky project to actualise under any circumstances but the matter is made even more precarious by the fact that Schleinzer’s native country is only slowly recovering from the trauma of two cases concerning paedophilia. Then again, controversy and angry responses from critics are exactly what a debut filmmaker like Schleinzer needs. If you strip Michael to its bare essentials, you find a clinical, tasteful, overly distant drama about one of the most horrible crimes imaginable.

Ganze Kritik auf The Zurich English Student (online einsehbar).

Donnerstag, 19. April 2012

The Lady

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Mit einem für ihn ungewöhnlichen Projekt meldet sich Luc Besson im grossen Stil als Regisseur zurück. Im mit grosser Begeisterung vorgetragenen Biopic The Lady verneigt er sich vor der burmesischen Oppositionspolitikerin Aung San Suu Kyi.

Zu den ersten Lektionen, welche ein angehender Filmemacher lernen muss, gehört, dass ein durch ein Objektiv betrachteter Gegenstand aufhört, der Realität anzugehören. Dies hat sich Luc Besson in seiner nun schon 31 Jahre währenden Karriere stets zu Herzen genommen und immer gekonnt mit Überzeichnung und -stilisierung operiert, mal erfolgreich, mal weniger. Es überrascht demnach also nicht, dass er The Lady nicht als rundum wahre Geschichte verkauft – trotz akribischer Recherche, einschliesslich eines Gesprächs mit Aung San Suu Kyi –, sondern vielmehr als "based on a true story". Trotzdem: Die Kerninformationen, die der Film in kurzweiligen 135 Minuten darlegt, sind sehr akkurat.

Suu Kyi (Michelle Yeoh), Tochter des burmesischen Freiheitskämpfers und Staatsgründers Aung San (1915–1947), lebte viele Jahre mit ihrem Mann Michael (der hervorragende David Thewlis) und ihren Söhnen im englischen Oxford. Als ihre Mutter 1988 einen Schlaganfall erleidet, reist sie in ihr Heimatland zurück, wo sie mitansehen muss, wie ein Studentenaufstand blutig niedergeschlagen wird. Sie beschliesst, ihr Leben der Demokratiebewegung ihres Landes zu widmen, was ihr zwar unter anderem den Friedensnobelpreis einbringt, sie aber auch zum Feindbild der Militärjunta unter General Than Shwe (Agga Poechit) macht, welche sie mehrfach unter Hausarrest stellt und ihrer Familie die Einreise verwehrt.

Ruhiger Widerstand: Eine Wahlkampfveranstaltung Aung San Suu Kyis (Michelle Yeoh) wird vom burmesischen Militär gestört.
Während sich die Frauen in Bessons bisheriger Filmografie nicht selten durch einen ausgesprochenen Hang zur Brutalität hervortaten – von Anne Parillauds Nikita über Natalie Portman in Léon bis hin zu Milla Jovovichs Jeanne d'Arc –, ist Suu Kyi eine stille Kämpferin, die mit eiserner Disziplin für ihre Sache einsteht. Dass dabei ganz bewusst Parallelen zum Leben Mahatma Gandhis gezogen werden, ist angesichts ihrer beeindruckenden Leistungen absolut folgerichtig. Dennoch wirkt das Ganze stellenweise etwas gar pathetisch, sodass einen mehrfach das Gefühl beschleicht, man wohne weniger einem Biopic und mehr einer Hagiografie bei. Zudem macht sich Besson des Vergehens schuldig, gewisse Elemente seiner Geschichte, welche schlussendlich eher stoppt statt endet, zu stark zu vereinfachen, wobei sich auch sein Flair für die Stilisierung bemerkbar macht. Aung Sans Ermordung wird zur elegant komponierten Stilübung; und Than Shwe wird zum korrupten Bösewicht im Stile von Gary Oldmans Stansfield (Léon).

Suu Kyi jedoch bleibt so natürlich, wie es das von hölzernen Dialogen durchsetzte Drehbuch erlaubt, nicht zuletzt dank Michelle Yeohs Darstellung. Zwar tut sich die Malaiin, die hier in die Fussstapfen Adelle Lutz' tritt, welche die Friedensnobelpreisträgerin bereits 1995 in John Boormans Beyond Rangoon verkörperte, in den Passagen auf Burmesisch schwer, doch es gelingt ihr vorzüglich, ihrer Figur die Strahlkraft der Realvorlage zu verleihen.

The Lady hätte womöglich besser funktioniert, wäre er einige Monate später erschienen, da er dann den grossen Sieg der Partei Suu Kyis bei den Nachwahlen in Burma hätte beinhalten können. So aber ist Bessons 14. Film ein unvollkommenes, aber durchaus anregendes, Biopic und obendrein sein bestes Werk seit Jahren.

★★★

Donnerstag, 12. April 2012

Iron Sky

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Timo Vuorensolas Kinodebüt Iron Sky hat schon lange vor der Premiere an der diesjährigen Berlinale für Aufsehen gesorgt. Das Konzept – Nazis vom Mond – eckte an, empörte, belustigte, fachte die Vorfreude an. Nun ist der Film im Kino zu sehen. Gewitzt? Ja. Überzeugend? Nein.

Hätte er das Budget gehabt, wäre die Ikone des B-Movies, Trash-Regisseur Edward D. Wood Jr., kurz Ed Wood (Plan 9 from Outer Space), womöglich selbst auf eine derartige Idee gekommen: Abgesandte der NSDAP flohen kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges mittels selbst hergestellter fliegender Untertassen auf die dunkle Seite des Mondes, wo sie seither die Rückeroberung der Erde planen. 73 Jahre nach dem Exodus ist es soweit. Als ein afroamerikanischer Astronaut auf einer Mondmission, deren Ziel es unter anderem ist, der US-Präsidentin (Stephanie Paul als Sarah-Palin-Verschnitt) die Wiederwahl zu sichern, auf eine Anlage der Nazis treffen, nimmt das Unheil seinen Lauf: Der neue Führer, Wolfgang Kortzfleisch (der deutsche Kultschauspieler Udo Kier), lässt den hinterhältigen Offizier Klaus Adler (Götz Otto) zur Erde reisen. Mit dabei bei der Erkundungsmission ist dessen von der nationalsozialistischen "Friedensideologie" überzeugte Freundin Renate (Julia Dietze).

Im Komödiengenre sind Nazis schon seit Jahrzehnten Freiwild, ihre Persiflage hat Tradition. Während der Vierziger- und Fünfzigerjahre konnte sich praktisch jeder Darsteller deutscher Herkunft sein Geld mit dem Mimen simpel gestrickter SS- und Gestapo-Schergen verdienen; die passenden Drehbücher dazu wurden nicht selten von – welch Ironie – Juden verfasst. Vor allem der Hamburger Sig Ruman machte sich in diesen Rollen einen Namen; unvergessen seine Auftritte als Johann Sebastian Schulz in Billy Wilders Stalag 17 (1953) oder als Colonel "Concentration Camp" Ehrhardt in Ernst Lubitschs To Be or Not to Be (1942). Dementsprechend wirkt die Kritik, Iron Sky sei geschmacklos und anstössig, fast ein wenig lächerlich, besonders da es dem Film ganz anderes anzukreiden gibt. Vuorensola ist weder Lubitsch noch Wilder, Götz Otto ist nicht Ruman. Die Witze, die hier mit den Nazis getrieben werden, sind eher von der fantasielosen Seite und erschöpfen sich in teutonisch-zackiger Diktion und schneidiger Haltung sowie einer übersteigerten Obrigkeitshörigkeit, die man auch schon origineller umgesetzt gesehen hat.

Die Mondnazis Klaus (Götz Otto, rechts) und Renate (Julia Dietze) erkunden die Erde mithilfe eines entführten Astronauten (Christopher Kirby).
Auch die Slapstick-Einlagen und One-Liner wollen Vuorensola nicht so richtig gelingen: Die ersten 40 Minuten von Iron Sky erschöpfen sich in abgedroschenen Linien und dürftig getimter Bewegungskomödie. Überraschenderweise sind die Witze dann am besten, wenn sich der Streifen auf der satirischen Schiene bewegt und die amerikanische Kriegspolitik ("The Nazis?! They're the only ones we've ever beaten in a fair fight!"), den nordkoreanischen Grössenwahn oder die fast schon ermüdende Friedfertigkeit Finnlands, seines Herkunftslandes, verspottet. Die Szenen im UNO-Konferenzraum, welche unübersehbar Stanley Kubricks Dr. Strangelove evozieren, bilden zweifellos die Highlights des Films.

In seinen stärksten Momenten ist Iron Sky ein mit funktionierender Politsatire vermischtes Stück urkomischen Blödsinns im allerbesten Sinne. In seinen schwächsten kommt er nicht über das Niveau einer schwachen Hit-and-Miss-Komödie hinaus. Ein Kinobesuch lohnt sich aber dennoch – und sei es wegen der haarsträubend grotesken Grundidee.

★★★

Mittwoch, 11. April 2012

Corpo celeste

Es gehört Mut dazu, sich als italienische Jungregisseurin gleich in der ersten grossen Produktion kritisch mit der katholischen Kirche und ihrem Einfluss im modernen Italien auseinanderzusetzen. Alice Rohrwacher aber, die Schwester der Schauspielerin Alba Rohrwacher (Io sono l'amore), stellte sich der Herausforderung, liefert aber mit ihrem Debüt einen Film ab, der sich bestens als Beispiel für das polare Gegenteil "mutigen Filmemachens" eignet. Corpo celeste ist ein unsicheres, zimperliches Coming-of-Age-Drama ohne den nötigen Fokus.

Die 13-jährige Marta (Yle Vianello) stammt aus Kalabrien, verbrachte aber zehn Jahre ihres Lebens in der Schweiz und hat nur wenig Bezug zu ihrer alten Heimat. In dieser ihr fremen Welt, wo Bauruinen, ein trockenes Flussbett und ein halbfertiger Autobahnzubringer die Landschaft bestimmen, muss sie sich nun, nachdem sie mit Mutter und Schwester zurückgezogen ist, einleben. So fühlt sie sich nicht nur in der Schule als Aussenseiterin, sondern auch im Firmunterricht, der ihr aufgezwungen wird. Dieser wird von Santa (Pasqualina Scuncia) geleitet, die erhebliche Schwierigkeiten hat, die desinteressierten Jugendlichen für die Religion zu begeistern. Doch während ihre Kollegen wenigstens ein gewisses Traditionsbewusstsein haben – und sei es der Spruch "Man macht das in unserer Familie so" –, fehlt Marta jegliche Bindung zur katholischen Tradition und sie beginnt deshalb, ihr Leben selber in die Hand zu nehmen.

Das Ziel, das Alice Rohrwacher in Corpo celeste verfolgte, lässt sich anhand einer kurzen Szene, vielleicht sogar der stärksten des Films, nachvollziehen. Santa leiert Marta das katholische Glaubensbekenntnis herunter, dessen erster Teil auf die Frage "Glaubst du an Gott, unseren Erlöser?" hinausläuft. Nach kurzem Zögern antwortet der Teenager: "Credo". Ich glaube. Was folgt, ist heikler: "Glaubst du an die heilsbringende katholische Kirche?" Marta schweigt, Santa platzt der Kragen. "Credo!", ruft die Frau und schmettert die symbolische Ohrfeige eine Spur zu beherzt hinterher. Das Dilemma, das sich hier abzeichnet, ist schon seit Jahrhunderten eine der eklatantesten Schwächen der grössten christlichen Konfession: Wer steht im Mittelpunkt, Gott oder der Klerus? Und wo bleibt das Weltliche dabei? An dieser Schnittstelle zwischen Geistlichem und Weltlichem bewegt sich Rohrwacher. Sie zeigt in oftmals körnigen Handkamerabildern, wie der sehr an Lokalpolitik interessierte Pfarrer Don Mario, subtil gespielt von Salvatore Cantalupo, obwohl tief gläubig, trotzdem nach einer Beförderung in eine bessere Gemeinde giert; wie Santa versucht, das neue Jahrtausend in ihrem Unterricht mittels PC-Quiz und Popsongs Einzug halten zu lassen, ihre Schüler damit aber noch weiter von der Materie distanziert.

Verloren im Mezzogiorno: Die 13-jährige Marta (Yle Vianello) in ihrer neuen Heimat.
Dass dabei keine tiefer schürfende Kritik geäussert wird, dass die übergeordneten Problematiken von Katholizismus und organisierter Religion im Allgemeinen grösstenteils ignoriert werden, lässt sich dem Film nachsehen, da er sonst leicht hätte ins Dogmatische abdriften können. Störender wirkt Rohrwachers Art, die Thematik kritisch zu beleuchten. Auch wenn man die Frage nach der Existenz Gottes ausklammert, böte die Kirche, besonders die katholische, genügend Angriffsfläche für ein provokantes Drama zum tiefer werdenden Graben zwischen soziokultureller Realität und traditionsorientierter Religion. Corpo celeste mag Motive und Methoden von Zeitgenossen wie Don Mario hinterfragen, trägt damit aber Eulen nach Athen; die korrupten Auswüchse und der fehlende Bezug der Geistlichkeit zum Volk, speziell in Italien, sind wohlbekannte Phänomene, die schon in vielerlei Form breitgetreten wurden. Rohrwacher trägt nichts Neues zur Diskussion bei; ihre Provokation erschöpft sich in vagem Formalismus und zaghafter Symbolik – so etwa das bedeutungsschwangere Bild des im Meer treibenden klassischen Kruzifix, welches das Neonkreuz in Marios Kirche hätte ersetzen sollen. Eine schöne Komposition; aber ein anregender Gesprächsansatz sieht anders aus.

Und auch wenn man die religiöse Seite des Films aus der Gleichung nimmt, vermag Corpo celeste nicht recht zu überzeugen. Nicht zuletzt dank Yle Vianellos beachtlicher Schauspielleistung gelingt es ihm zwar, Martas bittersüsses Herantasten an emotionale Unabhängigkeit sowie ihre Verlorenheit im verarmten italienischen Süden zu illustrieren – auch wenn die Auswirkungen der Wirtschaftskrise in Daniele Luchettis La nostra vita weitaus besser, weil weniger schwarz-weiss, dargestellt wurden. Dem Ganzen fehlen eine Richtung und ein dramaturgisches Zentrum. Die Aufmerksamkeit des Zuschauers gilt abwechselnd Marta und Don Mario. Dahinter steckt wohl die Absicht, ausgewogen zu sein, beiden Seiten des Konflikts ein Gesicht zu geben, aber leider wird dabei auf keine richtig eingegangen. Vielmehr resultiert daraus eine nur oberflächliche Beziehung zwischen Charakteren und Kinogägern; beide Figuren, Marta etwas weniger, Mario etwas mehr, bleiben einem fremd.

Blinder Glaube: Santa (Pasqualina Scuncia) versucht, die Teenager für die Religion zu begeistern.
Es lässt sich nicht bestreiten, dass Corpo celeste, zumindest auf dem Papier, ein ambitiöses Projekt ist. Hätte Rohrwacher mehr Mut zum Risiko bewiesen und sich weniger von der Angst, religiöse Gefühle zu verletzen, leiten lassen, hätte ihr erster Film ein spannender und wertvoller Beitrag zur anhaltenden Diskussion um den in der Krise steckenden Katholizismus sein können. Am erforderlichen cineastischen Flair sowie an hochkarätigem Schauspielermaterial hätte es nicht gefehlt. So aber bleibt das Gefühl einer verpassten Chance.

★★

Dienstag, 10. April 2012

Un cuento chino

Obwohl in Argentinien Immigration verfassungsgemäss begrüsst wird, beträgt der Ausländeranteil des Landes lediglich um die vier Prozent. Die Volksgruppe der Chinesen wiederum macht von diesen insgesamt zwei Millionen Menschen nur 9'000 Personen aus. Und dennoch ist der neue Film von Sebastián Borensztein ebendieser Minderheit gewidmet – an der Oberfläche zumindest. In seinem Innern ist Un cuento chino eine feinfühlige Tragikomödie, eine melancholische Parabel auf die Einsamkeit und das Fremdsein in der Welt.

Roberto (Ricardo Darín) hat seinen Tagesablauf fest im Griff. Morgens isst er Brot, ohne die Rinde, und trinkt Tee dazu; danach begibt er sich in sein Eisenwarengeschäft, wo er sich über hochnäsige Kunden und fehlende Schrauben in den Fabriklieferungen echauffiert; abends kommt ein reichhaltiges Fleischgericht auf den Tisch; anschliessend blättert er sich durch einen Stapel Zeitungen; und um Punkt 23 Uhr löscht er seine Nachttischlampe. Gegen diesen Lebensstil, der in seiner geregelten Schlichtheit an denjenigen Phileas Foggs erinnert, kommt auch die hübsche Mari (Muriel Santa Ana) nicht an, die schon lange von diesem Einzelgänger fasziniert ist. Durch einen Zufall trifft Roberto auf den jungen Chinesen Jun (Ignacio Huang), der ohne Geld und Spanischkenntnisse in Buenos Aires gestrandet ist. Der mürrische Eisenwarenhändler nimmt den hilflosen Flüchtling bei sich auf, was seinen Alltag gehörig durcheinander bringt.

Im internationalen Geschäft wird Sebastián Borenszteins dritter Film mit dem irreführenden Titel Chinese Take-Away vertrieben, dem zwar eine gewisse Ambiguität innewohnt, primär aber an eine heitere Mischung aus Intouchables und Soul Kitchen denken lässt. Ganz anders der spanische Originaltitel: "Cuento chino" bedeutet wörtlich "chinesische Geschichte", umgangssprachlich "Lügenmärchen", wobei sich nicht nur erstere Bedeutung auf den Film bezieht. Scheinbar erfundene Mären sind nämlich Robertos grösstes und wohl auch einziges Hobby: Er durchforstet die Zeitungen der spanischsprachigen Welt, der zweitgrössten neben der – was sonst? – chinesischen, nach morbiden, tragischen, ungewöhnlichen, Hauptsache unglaublichen, Geschichten. In seinen Fantasien projiziert Roberto sich selbst in diese Nachrichten, wobei er sich dabei von seinem eigenen, von nicht vermeidbaren, aber nichtsdestoweniger schmerzhaften Tragödien gezeichneten Leben zusehends entfremdet und dabei gleichzeitig den Sinn für die Gegenwart verliert.

Ohne Worte: Roberto (Ricardo Darín) versucht herauszufinden, wo Jun (Ignacio Huang) hingehört.
So wird Borenszteins Protagonist zum Fremden in seinem eigenen Alltag, der sich mithilfe eines anderen Fremden, dem in einem für ihn unbekannten Land verlorenen Jun, selber wiederfinden muss. Diese Brücke zwischen persönlichem Drama und funktionierender Völkerverständigung ohne eigentliches Verstehen mag etwas umständlich geschlagen werden – entsprechend fallen ein paar Szenen aufgrund ihres Tonfalls etwas aus dem Rahmen –, doch es ist Un cuento chino hoch anzurechnen, dass er nie mit erhobenem Zeigefinger den Zuschauer zu belehren sucht, sondern die Geschichte selbst diese Aufgabe übernehmen lässt. Ohne übertriebene Emphase wird etwa gezeigt, dass es auch zwischen zwei Chinesen eine unüberwindbare Sprachbarriere geben kann; oder dass das Festhalten an einer Gewohnheit den damit verbundenen Schmerz auch stärken statt lindern kann – ganz im Stile von Stéphane Brizés bewegendem Je ne suis pas là pour être aimé.

Überhaupt herrschen hier die leisen Töne vor, so wie man es etwa aus den französischen Charakterkomödien eines Jean Becker (Dialogue avec mon jardinier, La tête en friche) kennt. Wunderbar das Zusammenspiel von Ricardo Darín, unauffälliger und eben deshalb noch eindringlicher als im Oscargewinner El secreto de sus ojos, und Ignacio Huang, welche beide auch in gegenseitigem Unverständnis hervorragend harmonieren. Auch die Komik lebt vom Understatement, ja meist sogar vom nicht geäusserten oder nur gemurmelten Wort. So bedarf es beispielsweise einiges Talent, Robertos endlosem Warten in der chinesischen Botschaft eine komische Komponente abzugewinnen, doch Borensztein als Autor und Darín als Darsteller meistern diese Herausforderung vorzüglich. Die Krönung dieses Witzes auf Kosten des berüchtigten Bürokratieapparates der Volksrepublik – Robertos hinreissende Tirade gegen die "Beamtentrottel" – ist ein Hochgenuss. Und diese auf bescheidene Weise enorm komische Szene bleibt, trotz der durchwegs aufrecht erhaltenen Ernsthaftigkeit, kein Einzelfall.

Auch Mari (Muriel Santa Ana) interessiert sich für Jun – und Roberto.
Sebastián Borenszteins vorangegangener Film Sin memoria (2010) war ein mässig erfolgreicher Thriller. Sein neuer zeigt, wo seine wahren Qualitäten liegen. Mit seinem feinen Auge für die Kleinigkeiten, die persönlichen Tragödien und Glücksmomente der kleinen Leute, und einem Sinn für subtile Erzählung ist er in der Disziplin der Tragikomödie bestens aufgehoben. Einige inszenatorische Aspekte mögen ihm noch nicht vollumfänglich gelingen; doch er hat noch genug Zeit, seine Technik zu verfeinern und zu perfektionieren. Wenn der lustig-melancholische Un cuento chino ein Indikator ist, dann ist Borensztein auf dem besten Weg dazu.

★★★★

Samstag, 7. April 2012

The Pirates! In an Adventure with Scientists

Nicht einmal ein halbes Jahr ist seit Arthur Christmas, dem letzten Langspielfilm von Aardman Animations, vergangen, schon findet der nächste seinen Weg in die Kinos. Nicht nur ist The Pirates! In an Adventure with Scientists die erst die zweite 3-D-Produktion und die erste Literaturadaption des Studios aus dem englischen Bristol – als Vorlage dienten zwei Werke aus Gideon Defoes The Pirates!-Serie –, der Film markiert auch Aardmans Rückkehr zur klassischen Stop-Motion-Technik, welche hier erstmals seit Wallace & Gromit: The Curse of the Were-Rabbit (2005) wieder zum Einsatz kommt. Wer die Macher von Creature Comforts, Rex the Runt und Wallace and Gromit kennt und liebt, wird auch an The Pirates! seine helle Freude haben.

1837. Die Welt gehört zu grossen Teilen der englischen Königin Victoria (Stimme: Imelda Staunton); sie steht an der Spitze eines Reiches, in welchem die Sonne niemals untergeht. Doch in der Karibik tummeln sich nach wie vor blutrünstige Piraten, welche der Monarchin ein Dorn im Auge sind. Einer davon ist Pirate Captain (Hugh Grant), der zurzeit nicht gerade vom Glück verfolgt ist. Mit seiner Crew – keiner davon mit Namen – segelt er von Misserfolg zu Misserfolg. Auf der Suche nach Gold und Edelsteinen entert die Bande zwar ein Schiff nach dem andern, doch die Opfer sind Schulklassen, Aussätzige und Geister – allesamt mittellos. Dabei braucht der Pirate Captain dringend ein Erfolgserlebnis, um den begehrten "Pirate of the Year Award" zu gewinnen und seine erfolgreichen Konkurrenten Cutlass Liz (Salma Hayek) und Black Bellamy (Jeremy Piven) auszustechen. Bei einem weiteren Fehlschlag liest die Mannschaft den Wissenschaftler Charles Darwin (David Tennant) auf, der den etwas zu dick geratenenen Papagei des Pirate Captain als Dodo identifiziert – den letzten seiner Art. Er erklärt seinem Entführer, dass diese Entdeckung bei der jährlichen Wissenschaftsmesse in London einiges wert wäre. Doch in der Hauptstadt der englischen Königreiches residiert auch die Piratenhasserin Victoria...

Die berüchtigte (?) Piratenbande unter der Führung von Pirate Captain (Hugh Grant, rechts).
Es ist eine altbekannte Tatsache, dass Kinder Piraten mögen. So erfreut sich vor allem die Pirates of the Caribbean-Franchise, trotz ihrer PG-13-Altersfreigabe, bei den jüngeren Zuschauern grosser Beliebtheit. Insofern ist es abzusehen, dass auch Aardmans neuester Streich – dank des Themas und des guten Rufs, kindergerechte Filme zu produzieren – zu einem Hit werden wird. Zudem hat sich gerade Aardman in der Vergangenheit dadurch hervorgetan, die Kleinen wie die Grossen zu unterhalten. Entsprechend überraschend ist es also, dass die grösste Schwäche von The Pirates! darin liegt, "erwachsenen" und auf Kinder zugeschnittenen Humor zusammenzuführen. So muten die eher für Kinogänger unter zehn Jahren vorgesehenen Witze stellenweise etwas gar plump an – Stichwort: "Yo" –, was in starkem Kontrast zum komödiantischen Tonfall, dessen britisch-pythoneske Absurdität den Film ansonsten prägt, steht.

Dies ist aber ein Einwand auf höchstem Niveau, da sich der von Aardman-Mitbegründer Peter Lord inszenierte und vom Buchautor Defoe selbst geschriebene Film durch eine besonders zu Beginn nicht abreissen wollende Kette von hervorragenden Gags – von Slapstick à la Laurel und Hardy bis hin zu hintergründigem, feinem Wortwitz ist alles vorhanden – auszeichnet. Seien es nun die "Namen" der Piraten (The Pirate Who Likes Kittens and Sunsets, The Surprisingly Curvaceous Pirate...), die abseitigen Kleinigkeiten, die es zu entdecken gibt, oder Charles Darwins herrlicher Affenbutler Bobo – The Pirates! ist ein einziges humoristisches Sperrfeuer. Die Technik ist bekannt: Ganz im Stile von Monty Python wird der Zuschauer mit jedem erdenklichen Witz bombardiert; dass dabei nicht alle ins Schwarze treffen, ist nur logisch. Darob kommt allerdings die Geschichte hin und wieder etwas zu kurz, besonders in den letzten zwanzig Minuten, in denen die Action das Kommando übernimmt, was aber aufgrund der wie gewohnt herausragenden Knet-Designs und der dazugehörigen Animation kaum stört. Darüber hinaus übertraf sich Aardman in Sachen Casting der Stimmschauspieler wieder einmal selbst. Man mag sich Hugh Grant nicht als bärtigen Seeräuber vorstellen können, doch in The Pirates! beweist er, dass er zumindest stimmlich dazu in der Lage ist. Sein Pirate Captain bewegt sich irgendwo zwischen seinen Rollen in About a Boy und Four Weddings and a Funeral, angereichert durch einen unwiderstehlichen Piratencharme. In der Nebenrolle des Pirate with Gout wiederum glänzt Brendan Gleeson mit seinem unverwechselbarem irischen Dialekt.

Charles Darwin (David Tennant) erkennt Schiffsmaskottchen Polly als Dodo – auf zur Wissenschaftsmesse nach London!
The Pirates! In an Adventure with Scientists mag etwas die Schlagkraft von Aardman-Meisterstücken wie Chicken Run oder Wallace & Gromit: The Curse of the Were-Rabbit vermissen lassen, übertrifft aber mühelos den allzu braven Flushed Away, dank überwiegend erstklassigen Humors, toller Stop-Motion-Animation und stets überraschender Ideen – etwa derjenigen, den Soundtrack mit The Pogues, The Clash und Flight of the Conchords (!) zu bestücken. Ist man auf der Suche nach einem guten Piratenfilm, dann kann man Pirates of the Caribbean getrost links liegen lassen und sich das neueste Knetabenteuer von Peter Lord und Co. ansehen. Arrrr!

★★★★

Donnerstag, 5. April 2012

Wrath of the Titans

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

In der altgriechischen Mythologie finden sich unzählige Charaktere und Abenteuer, welche sich ausgezeichnet verfilmen oder mit fantasievollen Eigenkreationen ergänzen liessen. Wrath of the Titans versucht Letzteres, scheitert aber formal wie inhaltlich.

Seit den Vorgängen in Clash of the Titans (2010; Remake des 1981 produzierten und, mit Ausnahme von Ray Harryhausens grandiosen Spezialeffekten, recht drögen Originals) sind zehn Jahre vergangen. Die Aufmerksamkeit des Halbgottes Perseus (Sam Worthington) gilt nach seinem grossen Sieg gegen den Kraken seines Vaters, Göttervater Zeus (Liam Neeson), ausschliesslich der Fischerei und seinem Sohn. Als aber sein alter Herr von dessen Bruder Hades (Ralph Fiennes), dem Gott der Unterwelt, gefangen genommen und seiner Kräfte beraubt wird, muss der Heros wieder zum Schwert greifen. Mit den neuen Kräften will Hades nämlich seinen und Zeus' Vater, den Urgott Kronos, aus seinem Gefängnis befreien, um die Welt ins Chaos zu stürzen. Hilfe erhält er dabei von seinem Neffen und Perseus' Halbbruder, dem Kriegsgott Ares (Edgar Ramírez). Nun liegt es an Perseus; seinem Vetter, dem linkischen Halbgott Agenor (Tony Kebbell), Sohn des Poseidon (Danny Huston); Königin Andromeda (Rosamund Pike); und dem alt gewordenen Schmiedegott Hephaistos (Bill Nighy), die Zerstörung der Erde zu verhindern.

Perseus (Sam Worthington) im Kampf gegen einen Zyklopen.
Grundsätzlich spricht überhaupt nichts dagegen, den griechischen Mythenschatz durch neue Geschichten und Figurenkonstellationen zu erweitern. Auch Homer und Hesiod, denen wir die Niederschrift vieler Sagen verdanken, sowie nachfolgende Autoren frönten antiker "Fan Fiction", indem sie die bekannten Gestalten aus der minoischen Kultur in abgeänderten Szenarien agieren liessen. Dennoch muten die Freiheiten, die Regisseur Jonathan Liebesman und seine Autoren sich hier nahmen, etwas übertrieben an. Dass Perseus und sein Tross auf die Zyklopen treffen, mag noch seine Berechtigung haben – immerhin sind die einäugigen Riesen Hephaistos' Schmiedegehilfen –, doch was der von Theseus erlegte Minotaurus in Wrath of the Titans verloren hat, lässt sich kaum eruieren. Überdies mussten sich einige Charaktere zu Hollywood-Stereotypen umfunktionieren lasssen, so etwa Agenor, beim antiken Historiker Herodot noch ein phönizischer König, der vom Drehbuch zum zwielichtigen und obendrein unlustigen Comic Relief degradiert wird.

Dabei hätte, abgesehen von derartigen und anderen, für Actionstreifen typischen, Ungereimtheiten, aus der Geschichte um schwächelnde Götter und den zurückkehrenden Kronos, die hier erzählt wird, durchaus eine ansprechende Fantasyposse werden können. Anfangs weiss das Ganze sogar einigermassen zu unterhalten, doch je länger der – verdankenswerterweise nur 100-minütige – Film dauert, desto weniger vermag man das nötige Interesse dafür aufzubringen. Gute Ideen wie die Einbeziehung des mächtigen Urgottes oder gewisse Designs verpuffen aufgrund lächerlichen CGIs – Bringt Ray Harryhausen zurück! –, nutzlosen 3-Ds, inferiorer Inszenierung oder, in Kronos' Fall, eines beleidigend simplen dramatischen Höhepunkts. Dazu passen die teils fast schon schmerzhaften Schauspielleistungen: Ralph Fiennes und Liam Neeson scheinen ob des grauenhaften Drehbuchs peinlich berührt und spielen nur in ihrem grossen Moment, der besten Szene des Films, inspiriert auf, während Sam Worthington einmal mehr eine gelangweilte Performance ohne jede Gefühlsregung abliefert. Einzig der hemmungslos übertreibende Bill Nighy sorgt für etwas darstellerische Unterhaltung. Möge die Franchise gestoppt und der Gnade Hades' überlassen werden.