Donnerstag, 26. Januar 2012

Intouchables

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Innert zwei Monaten avancierte die Komödie Intouchables zu einem der erfolgreichsten französischen Filme aller Zeiten – völlig zurecht. Auf wahre Begebenheiten gestützt, wird eine einfühlsame und zugleich urkomische Geschichte zweier ungleicher Freunde erzählt.

Bürokratie ist ein komplizierter, irrationaler Albtraum. Diese Erfahrung muss auch Driss (Omar Sy), ein junger Mann aus der Pariser Banlieue, machen. Der gut dreissigjährige Senegalese kommt gerade aus dem Gefängnis und möchte Arbeitslosengeld beantragen. Schön und gut, doch dazu muss er erst einmal beweisen, dass er nach einem Beruf sucht; drei Absagen trennen ihn von seinem "Glück". Also bewirbt er sich – der negativen Rückmeldung willen – beim seit einem Gleitschirmunfall an den Rollstuhl gefesselten Adligen Philippe (François Cluzet), der in seinem Hauptstadt-Anwesen von Helfern umgeben ist und einen neuen persönlichen Pfleger sucht. Wider Erwarten wird Driss eingestellt und residiert fortan in der luxuriösen Villa und kümmert sich, wenn anfangs auch reichlich ungeschickt, um den vornehmen Philippe.

Die Inspiration für Intouchables fanden die Regisseure und Autoren Olivier Nakache und Éric Toledano in einer 2004 produzierten Dokumentation über den reichen Paraplegiker Philippe Pozzo di Borgo und dessen nordafrikanischen Pfleger Abdel Sellou. Als Ersterer um die Rechte gebeten wurde, gab er sein Einverständnis, allerdings unter einer Bedingung: Der Film darf kein Mitleid erregen. Nakache und Toledano nahmen es sich zu Herzen und beschenkten Pozzo di Borgo, Sellou und den Rest der Welt mit einer hinreissenden Tragikomödie, zu der wohl nur Franzosen in dieser Form fähig gewesen wären.

Ansteckende Lebensfreude: Der Immigrant Driss (Omar Sy) und der gelähmte Adlige Philippe (François Cluzet) freunden sich immer mehr an.
Intouchables ist nicht Le scaphandre et le papillon, keine Abhandlung über den Körper, der für Gelähmte zum Gefängnis wird. Es ist ein scharfsinniges Lustspiel, welchem das Kunststück gelingt, die Balance zwischen unerhörtem, und damit unglaublich lustigem, Sarkasmus und glaubwürdiger und bewegender Charakterdarstellung zu halten. Auch driftet das Ganze nie ins Plakative ab; die Witze – seien sie nun über "Telethon-Behinderte", wie Driss sie nennt, gelähmte Nazis ("Non! Absolument pas! Nein!") oder moderne Kunst – werden nicht ausgeschlachtet und sind, in gewissen Fällen, dermassen subtil, dass sie der Zuschauer selber entdecken muss – eine Tugend, die im heutigen Komödienkino nicht selbstverständlich ist. Ein Grossteil dieses fantastischen Humors rührt von der uralten Formel von "Straight Man" und "Funny Guy", dem Dummen August und dem weissen Clown. Filme, die sich dieses Konzepts bedienen, stehen und fallen mit der Qualität ihres Drehbuchs und ihres Hauptdarstellerduos. Intouchables bekundet auch in letzterem Fall keinerlei Probleme. François Cluzet und Omar Sy verkörpern ihre jeweiligen Rollen nahezu perfekt; Driss' ungehobelte Art ergänzt Philippes gediegene Melancholie ideal.

Politische Interpretationen des Films liessen von Seiten der Kritik nicht lange auf sich warten. Doch Vorwürfe des Rassismus oder des Missachtens der Banlieue-Problematik sind total unangebracht. Im Zentrum steht eine ebenso ungewöhnliche wie ergreifende und enorm erheiternde Freundschaft. Und was meinte der vom Nacken herab gelähmte Philippe Pozzo di Borgo dazu? "Ich applaudiere mit beiden Händen."

★★★★★½

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