Montag, 31. Januar 2011

Des hommes et des dieux

Richtungsweisendes Gespräch: Père Christian (Lambert Wilson, Mitte) bespricht mit seinen Ordensbrüdern, ob sie die Klosteranlage im algerischen Tibhirine verlassen sollen oder nicht.

5.5 Sterne

In der Nacht vom 26. auf den 27. März 1996 wurden sieben Trappisten-Mönche aus der Klosteranlange Abbaye Notre-Dame de l'Atlas in Tibhirine, im Norden Algeriens, entführt und am 21. Mai desselben Jahres tot aufgefunden. Wer hinter dem Massaker steckt, ist umstritten, obwohl die radikalislamische Groupe Islamique Armé sich dazu bekannt hat. Doch es gibt Berichte, nach denen die algerische Regierung ihre Finger im Spiel gehabt haben soll. Xavier Beauvois interessiert sich aber nur am Rande für die tatsächlichen Begebenheiten in seinem Film Des hommes et des dieux und benutzt die Tragödie als Parabel auf Glauben, Humanismus und interreligiöses Verständnis. Wie in seinem bisher erfolgreichsten Film - dem eindringlichen Polizeidrama Le petit lieutenant - vertraut er auch hier auf eine minimalistische Vorgehensweise: Es herrschen Ruhe und Stille vor, ganz dem Setting des Klosters entsprechend. Eine Oscarnomination blieb ihm verwehrt, doch für die Césars wurde Des hommes et des dieux ganze elfmal nominiert - hochverdient.

Das filmische Beschreiben christlich-muslimischer Beziehungen ist seit dem 11. September 2001 nichts Neues mehr. Doch Xavier Beauvois geht einen Schritt weiter: Bei ihm steht nicht nur die Beziehung der beiden grössten Weltreligionen im Zentrum, sondern auch die Koexistenz - ein kleiner, aber feiner Unterschied. Besonders während der ersten halben Stunde beeindruckt Des hommes et des dieux mit der kitschfreien Darstellung des Credos "Wir sind alle Menschen": Die Mönche nehmen an muslimischen Feiern teil, lesen den Koran und behandeln die algerischen Dorfbewohner in der Arztpraxis des Klosters, während die muslimischen Dorfchefs mit ihnen über die politische Lage sprechen, Islamisten als unreligiöse Heuchler bezeichnen und zum Gemeinschaftsgebet einladen. Keine der beiden Seiten hat missionarische Absichten. Einerseits differenziert diese Exposition zwischen islamistischen Eifereren und der durchschnittlichen muslimischen Landbevölkerung, andererseits erinnert sie einen daran, dass die katholische Kirche nicht nur aus pädophilen Priestern und Holocaustleugnern besteht. Es wird einem bewusst, dass Mönche eigentlich bewundernswerte Menschen sind, die ihr Leben einer Sache widmen, an die sie glauben und die sie erfüllt. Wie weit diese Hingabe gehen kann, gehen soll, ist Thema mehrerer Diskussionen unter den acht Mönchen, da das Kloster immer mehr Gefahr läuft, das Ziel terroristischer Akte zu werden. Beauvois' und Etienne Comars Drehbuch lässt die Figuren sehr durchdacht die pragmatische sowie die ethisch-moralische Seite des Dilemmas abwägen: Verlassen sie das Kloster, lassen sie die Dorfbewohner im Stich und kapitulieren vor dem Terrorismus; bleiben sie, werden sie vielleicht früher oder später einen gewaltsamen Tod finden. Letztendlich bleiben sie alle und geben sich weiterhin ganz ihren Idealen und ihrem Auftrag hin: Sie helfen den Menschen, wo sie nur können - sie behandeln selbst verwundete Guerilla-Kämpfer -, sie beten, singen und halten das Prinzip der Nächstenliebe und der Treue hoch. Die Kulmination ist der Vorabend der Entführung: Die Mönche sitzen an einem Tisch, trinken Wein und lauschen Tschaikowskis "Schwanensee" - neben ihren Chorälen die einzige Musik in Des hommes et des dieux. Die Szene, eine gut platzierte Allegorie auf das letzte Abendmahl, ist - abgesehen von der überwältigenden Musik - stumm und konzentriert sich voll und ganz auf die Gesichter der Charaktere, die langsam ihr Lächeln wiederfinden; denn sie wissen, dass das, was sie tun, das Richtige ist.

Überhaupt ist die Schlussviertelstunde des Films eine Meisterleistung der Inszenierung und Grund genug für einen César-Gewinn in der Kategorie "Bester Regisseur" für Xavier Beauvois. In diesem letzten Teil wird kaum gesprochen und beim Zuschauer herrscht ein Gefühl des bangen Wartens vor. Eine gewisse Versöhnlichkeit ist dem Ende aber auch nicht abzusprechen: Nicht nur die Szene des "letzten Abendmahls" veranschaulicht dies, sondern auch die Mönche, die sich als geschlossene Einheit der Gewalt, die in Form eines Kampfhubschraubers ihre Kapelle umkreist, stellen; oder Vorsteher Christian, der sein Quasi-Testament in Gebetform verliest, während auf der Leinwand winterliche Bilder von Notre-Dame de l'Atlas zu sehen. Schlussendlich schliesst Des hommes et des dieux mit einem tief bewegenden letzten Bild, das man so schnell nicht mehr vergisst. Doch Beauvois' Regie trägt während des ganzen Films meisterhafte Züge. Die Gegenüberstellung des ruhigen und geregelten Klosterlebens mit der sich der Anarchie ergebenden Aussenwelt ist äusserst wirkungs- und stimmungsvoll gehalten. Ebenso die Messen der Ordensbrüder, deren Gesänge ein wiederkehrendes Thema des Films ist. Abgerundet wird das Ganze durch die tolle Kameraarbeit von Caroline Champetier, deren lange Einstellungen das Klosterleben und die Gemütslage der Figuren optimal einfängt.

Wer kein Freund von langsamen und ruhigen Inszenierungen ist, ist bei Des hommes et des dieux definitiv an der falschen Adresse. Beauvois lässt sich für jedes Element der Geschichte genug Zeit und gibt den Schauspielern die Chance, ihre Charaktere Schritt für Schritt zu entwickeln. Der bei den Césars als Hauptdarsteller gelistete Lambert Wilson, Sohn des 2010 verstorbenen Georges Wilson, einer franzöischen Schauspiel-Legende, spielt den Père Christian, auf dessen Schultern eine enorme Verantwortung lastet. Er spricht sich von Anfang gegen das Verlassen des Klosters aus und erntet dafür von seinen Brüdern einige Kritik. Doch man merkt ihm an, dass er wirklich bereit ist, für seine Ideale - Liebe und Treue - einzustehen und sie gewaltlos zu verteidigen. Wilsons Performance ist zurückhaltend, überzeugt aber durch eine Ausdrucksstärke erster Güte. An seiner Seite glänzen vor allem Olivier Rabourdin als Christophe, der jüngste Mönch im Bunde, und Michael Lonsdale, der die stärkste Leistung des Casts abliefert, als Bruder Luc. Lonsdale, ein bekanntes Gesicht im internationalen Kino (Munich, Ronin, Der Name der Rose), spielt den asthmatischen Kloster-Arzt mit ergreifender Menschlichkeit, gemischt mit einer Prise gallischen Humors. Luc ist eine Art Vaterfigur für die Dorfbewohner und seine Brüder und verliert nicht mal dann die Ruhe, wenn er einen Terroristen behandeln muss. Ein spannender Charakter, hervorragend gespielt von einem begnadeten Schauspieler. Der Rest des Casts, obwohl mit weniger Screentime, vermag ebenfalls sehr zu überzeugen, allen voran der 83-jährige Jacques Herlin als Bruder Amédée, einer von zwei Mönchen, die der Entführung entgingen (Amédée starb 2008 im Alter von 88 Jahren). Herlins Amédée lässt, wie auch Lonsdales Luc, mehrfach Humor aufblitzen und fungiert auch einige Male als Stimme der Besinnung. Sein von Tränen begleitetes Lächeln beim "letzten Abendmahl" ist besonders kraftvoll und kann sinnbildlich für das ganze Ende verstanden werden.

Es ist sicherlich einfach, Des hommes et des dieux als kitschigen Gutmenschenfilm über die humanistische Seite der Religion abzutun. Doch das wäre eine bemitleidenswert oberflächliche, ja ignorante Sichtweise. Xavier Beauvois hat einmal mehr sein cineastisches Talent eindrucksvoll bewiesen und liefert einen intimen, vorsichtigen und starken Film ab, der mit seiner Menschlichkeit und seinem Sinn für Zurückhaltung bewegt und zum Nachdenken anregt. Des hommes et des dieux ist grossartiges französisches Kino, das den Mönchen der Abbaye Notre-Dame de l'Atlas die verdiente Bewunderung entgegenbringt und ihnen ein würdiges filmisches Denkmal setzt.

Sonntag, 30. Januar 2011

Another Year

Unter Freunden: Mary (Lesley Manville, Mitte) ist wieder einmal zu Gast bei Tom (Jim Broadbent) und Gerri (Ruth Sheen).

★★★★★★

Mike Leigh gehört zu den grossen Realisten des Kinos. In seinen Filmen agieren Figuren, die direkt aus dem Leben gegriffen zu sein scheinen und die in ihrer Alltäglichkeit so vollendet sind, dass man sie irgendwoher zu kennen glaubt. Doch damit nicht genug: Leigh widersteht der Versuchung, seine Charaktere in eine aussergewöhnliche Situation hineinzuversetzen, sondern belässt es dabei, sie zu beobachten und sie ein Eigenleben entwickeln zu lassen. Das Ergebnis sind jeweils episodenhafte Filme, die im Grunde nur lose zusammenhängen, durch ihre Protagonisten jedoch zusammengehalten werden und trotz allem als geschlossene Einheit funktionieren. Another Year ist ein weiterer Beleg für Leighs diesbezügliches Talent. Sein erster Film seit dem Hit Happy-Go-Lucky (2007) ist eine kleine Perle des britischen Kinos.

Der Name ist bei Another Year Programm. Man könnte sogar so weit gehen und dem Filmtitel ein "Just" anhängen. Denn so verhält sich die Geschichte und so fühlt sie sich auch an. Charaktere kommen und gehen, sind im einen Moment wichtig, nur um im nächsten wieder komplett von der Bildfläche zu verschwinden. Und im Zentrum stehen Tom und Gerri, ein glückliches Ehepaar um die 60, er ein Geologe, sie eine Psychologin, in deren Schrebergarten sich der Fortlauf der Jahreszeiten und des Lebens widerspiegelt. Tom und Gerri sind der ruhende Pol in einem kleinen Ensemble von Menschen, die auf die eine oder andere Weise - manche mehr, manche weniger - unglücklich sind. Jim Broadbent und Ruth Sheen strahlen in ihren jeweiligen Rollen eine bewundernswerte Gemütsruhe und Einfühlsamkeit aus, jedoch immer gewürzt mit sanfter britischer Ironie; etwa wenn Gerri sich erkundigt, wie Tom bei seiner Arbeit vorankommt, worauf er schmunzelnd mit "Inexorably!" antwortet. Sie sind kein aussergewöhnliches Paar, aber immerhin eines, das man nur zu gerne kennt. Entsprechend gehen diverse Freunde und Bekannte in ihrem Haus aus und ein: Mary, gespielt von der starken Lesley Manville, ist geschieden, hat die Suche nach dem "Richtigen" allerdings noch nicht aufgegeben und hat ein Problem mit dem Alkohol; doch sie gaukelt sich vor, mit ihrem Leben zufrieden zu sein. Zu allem Überfluss scheint sie sich in Tom und Gerris erwachsenen Sohn Joe, der von Oliver Maltman sehr nuanciert dargestellt wird, verguckt zu haben, trotz des erheblichen Altersunterschieds. Entsprechend verstimmt reagiert sie, als Joe zum ersten Mal seit Jahren in einer Beziehung ist; in einer, die in Sachen Glück der seiner Eltern in nicht viel nachsteht. Manvilles kraftvollste Szene ist ihr Dialog mit Ronnie, Toms Bruder, hervorragend gespielt von David Bradley (den man als Hausmeister Argus Filch aus den Harry Potter-Filmen kennen könnte). Der frisch verwitwete Ronnie sagt kaum ein Wort und steht immer noch unter Schock. Doch dank ihrer Hilfe findet er ganz langsam seinen Lebenssinn wieder. Für Mary hat das ausgedehnte Gespräch einen leicht kathartischen Charakter, da sie für einmal keine Hilfe annehmen muss, sondern jemandem helfen kann, möglicherweise sogar unbewusst.

Der Grossteil der Handlung dreht sich um Tom, Gerri, Mary und Joe und ihre Beziehung untereinander. Doch wie auch im richtigen Leben verläuft diese Geschichte nicht ohne andere Menschen und Ereignisse. Seien es trivial anmutende Dinge wie Marys neues Auto, der Besuch eines alten Freundes von Tom oder der Auftritt einer todunglücklichen Patientin Gerris, gespielt von Imelda Staunton (Mike Leighs Vera Drake), die aber doch alle Einfluss auf die Protagonisten üben, oder sei es ein tragischer Anlass wie der Tod und die Beerdigung von Ronnies Frau - es findet alles Erwähnung.

Letztendlich sind die Charaktere die grösste Stärke von Another Year. Es überrascht nicht, dass Mike Leigh und sein Cast sie über Monate hinweg gemeinsam entwickelt haben. Selten wurden einem in jüngerer Zeit so abgerundete und vollendete Figuren präsentiert. Es ist ein kleines Sammelsurium echter Menschen, mit denen man sich problemlos identifiziert und für deren Leben man grenzenloses Interesse verspürt. Und genau wie sie sind auch Leighs Dialoge und Situationen frei von Klischees und unrealistischen Kunstgriffen. Die Dialoge sind Alltagsgespräche, denen man vermutlich so oder in ähnlicher Form auch schon beiwohnte, doch man verfolgt sie sehr gerne, vielleicht gerade deshalb. Zudem ist Leigh nicht nur ein Meister des Realismus und der feinen Beobachtung, sondern auch einer des britischen Humors. Besonders wenn Tom, Gerri und Joe sich miteinander unterhalten, herrscht stets eine angenehme Atmosphäre der freundlichen und lockeren Ironie (Stichwort: "Basically he just digs holes.").

Ein Wort, welches einem im Zusammenhang mit Another Year immer wieder einfällt, ist "Understatement". Dies bekommt man in vielen Filmen zu sehen, doch in Another Year wirkt es völlig natürlich. Es scheint so, als ob es ganz von alleine den Ton und die Art des Films bestimmen würde. Kameramann Dick Pope hat hier sicherlich auch einen Teil dazu beigetragen. Seine langen, unaufgeregten Einstellungen lassen den Schauspielern Zeit, viel mit Mimik zu arbeiten. Ausserdem verfährt Pope mehrmals nach dem Prinzip, einer Szene einen festen Rahmen zu geben und die Figuren ihn durchqueren, verlassen und wieder betreten zu lassen. Auch darf man seine Farbschemen nicht vergessen: besonders während des im Winter spielenden dritten Akts herrschen kalte Farben vor, die perfekt zur Beerdigung von Ronnies Frau und Marys Gemütslage passen.

Another Year
ist ein Film, der nur schwer zu beschreiben ist. Er ist genial in seiner Einfachheit und seiner Bescheidenheit. Obwohl er mehr Beobachtung als Erzählung ist und sich so einer konventionellen Story widersetzt, fasziniert und berührt er mit seinen Figuren, die, gemeinsam mit Tom und Gerris Schrebergarten, die einzige Konstante in den vier Kapiteln - Frühling, Sommer, Herbst und Winter - sind. Mike Leigh weiss, wo seine Stärken liegen, und die spielt er hier grandios aus. Sein brillantes Drehbuch, welches die Oscarnomination mehr als nur verdient hat, kreiert ein eigenes kleines Universum, das von überwiegend nachfühlbaren und sympathischen Charakteren bevölkert wird, für die wir uns wirklich und wahrhaftig interessieren. Another Year ist ein intimer, humorvoller und ehrlicher Blick auf normale Menschen in alltäglichen Situationen. Wieder einmal zeigt Mike Leigh, dass auch gerade ein einfaches Konzept einen wunderbaren Film ergeben kann.

Montag, 10. Januar 2011