Mittwoch, 23. Dezember 2009

Whatever Works

Frischer Wind in der Junggesellenwohnung: Boris Yellnikoff (Larry David) weiss nicht so recht, wie er mit der jungen Melody (Evan Rachel Wood), die sich bei ihm einquartiert, umgehen soll.

5 Sterne


Woody Allen zählt zu den fleissigsten Filmemachern Hollywoods. Seit ungefähr 1970 hat er mit wenigen Ausnahmen jedes Jahr ein Drehbuch verfasst und umgesetzt. Dabei entstanden hinreissende Filme wie Annie Hall (1977), eine wegweisende Liebeskomödie, die zurecht mit vier Oscars ausgezeichnet wurde, Love and Death (1975) oder Manhattan (1979). Insbesondere in den letzten Jahren sprach das Brooklyner Original wieder vermehrt Freunde des ernsten Kinos an, etwa mit dem Liebesdrama Match Point (2005) oder Cassandra's Dream (2007), einer Studie von Schuld und Sühne im Stile der griechischen Tragödie. Letztes Jahr erschien der bittersüss-frivole Vicky Cristina Barcelona, der die Kritiker im Sturm eroberte. Doch irgendwie ist Woody Allen in Barcelona nicht richtig zu Hause, ebenso wenig in London, wo er auch einige Filme drehte. Mit Whatever Works kehrt er in die multikulturelle heimische Metropole zurück und greift gleichzeitig seine alten Stilmittel wieder auf: Das Niederreissen der vierten Wand, das Fokussieren auf einen neurotischen Zeitgenossen und die Irrungen und Wirrungen der Liebe. Für den Grossteil der Rezensenten ist es ein Fehlgriff, für den Schreibenden (fast) ein Treffer ins Schwarze.

Whatever Works ist für so manchen Kinogänger nichts anderes als eine Notlösung. Ist eine andere Vorstellung ausverkauft, dann fährt man mit dem Finger über das Programm und stösst auf den Namen "Woody Allen" und die Titulierung "Liebeskomödie". Man denkt bei sich, dass wohl nichts anderes bekömmlicher wäre und setzt sich ahnungslos in den Kinosaal. Doch statt einer harmlosen und schnell vergessenen Posse über zwei Liebende bekommt man zunächst eine Gruppe Herren in mittleren Jahren zu sehen, die darüber diskutieren, ob und wenn nicht, weshalb, Religion nicht funktioniert. Nach einer Weile erhebt sich einer der Protagonisten und fängt an darüber zu reden, dass sie von Menschen in einem Kino beobachtet werden. Und schon wäre die vierte Wand, die Grenze zwischen den Teilnehmern einer Geschichte und den Beobachtern, erstmals ernsthaft angeknackst. Die Idee ist natürlich alles andere als neu. Die einseitige Interaktion zwischen der Hauptfigur und dem Kinozuschauer hat Allens Filme der 1970er Jahre entscheidened geprägt. Wer erinnert sich nicht an Alvy Singer in Annie Hall, der bei einer Diskussion mit einem bockigen Zeitgenossen mir nichts, dir nichts den Literaturprofessor Marshall McLuhan quasi aus dem Hut zaubert, seinem Gegenüber damit die Sprache verschlägt, sich zur Kamera wendet und "If it were that easy in real life..." sagt? Doch die Persönlichkeit von Boris Yellnikoff, der Hauptfigur von Whatever Works, ist der von Alvy - und überhaupt fast allen von Woody Allen selber gespielten Charakteren - dermassen ähnlich, dass das Stilmittel hervorragend passt. Die Komik von Allens Drehbuch liegt aber bei weitem nicht nur in einem lustigen Einfall. Zugegeben, die Geschichte ist grundsätzlich recht einfach - ein älterer Mann und seine junge Freundin/Frau -, doch sie ist gespickt mit derart vielen Wendungen und neuen Entwicklungen, dass sie bis zum Schluss interessant bleibt. Ausserdem werden an den richtigen Stellen neue Charaktere eingeführt, die der manchmal etwas ins Flache abzudriften drohenden Story wieder den nötigen Schwung verleihen. Woody Allen hat es auf eine wunderbare Art und Weise geschafft, diese neuen Figuren nicht als blosse Staffage auftreten zu lassen, sondern er hat sich für jede einzelne eine spezielle Entwicklung ausgedacht. Die pfiffigen Dialoge, die stellenweise an die "Machine Gun Dialogues" aus den Screwball-Komödien der 1940er Jahre erinnern, sind aber eindeutig die grösste Stärke von Whatever Works. Besonders der anfänglich höchst einseitige Austausch zwischen dem intelligenten Boris und der naiven Melody ist voller herrlicher Sarkasmen. Die beiden, deren Marotten einander sehr gut ergänzen bzw. entgegentreten, sind ein klassisches "Odd Couple", das bestens funktioniert.

Im Schauspielensemble von Whatever Works sucht man vergebens nach grossen Namen. Schmälert das die Freude am Film? Keineswegs. Larry David ist die ideale Besetzung für Boris. Wie Woody Allen verkörpert auch David den von sich selbst überzeugten, mit dem Leben unzufriedenen, hypochondrischen, hibbeligen New Yorker. Sein komödiantisches Talent äussert sich aber nicht allein dadurch, dass er den Zuschauer in jeder Lage zum Lachen bringen kann. Er schafft es sogar, alle Sympathien auf seiner Seite zu halten, egal ob er wildfremde Menschen anpflaumt, über seine Fast-Nominierung für den Physiknobelpreis schwadroniert oder ohne jede Spur von Reue darauf zurückblickt, wie er einem Kind Schachfiguren an den Kopf geknallt hat. Der Grund dafür ist wohl beim Donald-Duck-Effekt zu suchen. Eine Figur ist glaubwürdig und liebenswert, wenn sie so fehlerhaft wie möglich ist. Wieder einmal hat Woody Allen bewiesen, dass er ein Gespür für dreidimensionale Charaktere hat (Boris' Entwicklung unterstützt die These.). Die weibliche Hauptfigur wird von der mehr oder weniger bekannten Evan Rachel Wood verkörpert. Sie spielt Melody, das Klischee-Landei aus dem Südstaat Mississippi, die - aus unerfindlichen Gründen (?) - etwas an Boris findet. Mit einem breiten Akzent, Schusseligkeit und einer Tendenz, das zu tun, was Boris sauer aufstösst, spielt sie sich in die Herzen der Zuschauer. Zwar wurde der Figur von diversen Kritikern vorgeworfen, sie entwickle sich bis zum Ende nicht, doch auch hier beweist Woody Allen, dass feine Nuancen durchaus eine Entwicklung aufzeigen können. Whatever Works dreht sich in den ersten beiden Akten grösstenteils um Boris und Melody und wie sie miteinander zurechtkommen. Die Beziehung mündet in eine Hochzeit und verläuft ganz passabel, bis Melodys Mutter vorbeikommt. Patricia Clarkson übernahm diesen Part. Wer der Meinung ist, dass scheinbar strenggläubige Christinnen, die mit der Grossstadt, insbesondere New York, konfrontiert werden und sich dabei ändern, sei ein veraltetes Konzept, der wird hier durch Clarksons Leistung Lügen gestraft. Denn eine derart radikale, aber gleichzeitig vollauf glaubwürdige Verwandlung hat die Komödienwelt noch selten gesehen. Zudem hat Melodys Mutter einige umwerfend komische One-Liner zu bieten. Ihr Mann, gespielt von Ed Begley Jr., taucht im Laufe des Films auch auf. Zwar mag Begleys Auftritt nur ein Gimmick sein, um die Aussage von Whatever Works zu unterstreichen, zu sein; doch was der Schauspieler/Umweltschützer daraus macht, ist solide und obendrein humorvolle Arbeit. Der Einzige, der schauspielerisch nicht ganz mitzuhalten vermag, ist Henry Cavill, der Randy James, das jüngere Interesse in Liebesdingen für Melody, zum Besten gibt. Er ist erträglich, aber sehr, sehr farblos. Cavill ist wohl das einzige Klischee in Whatever Works, das nicht aufgeht.

Will uns Woody Allens neuster Wurf etwas Spezielles sagen? Jawohl. Die Antwort liegt angenehmerweise im Titel des Films. "Whatever works" ist Boris Yellnikoffs Lebensmotto und bedeutet soviel wie "Auch wenn es ungewöhnlich erscheint, wenn es passt, dann passts und niemand kann daran etwas ändern!". Bezogen auf die Liebe, bei Woody Allen ein immer wiederkehrendes Thema, ist dies eine mehr als nur nachvollziehbare Moral. Überlegt man es sich genau, dann war das auch ein Ton, der in Vicky Cristina Barcelona gespielt wurde. Offene Beziehung, geschlossene Beziehung oder Ménage à trois - solange es passt, soll man es nicht hinterfragen.

Die Sozialkritik von Match Point, die Frivolität von Vicky Cristina Barcelona, der dunkle Zynismus von Cassandra's Dream, die dezente Spannung von Scoop - das sind alles Aspekte, die Whatever Works nicht mitbringt. Aber trotzdem steht er qualitativ über all diesen Filmen und beweist einmal mehr, dass die alte Woody-Allen-Formel die beste ist und bleibt. Romantische Ironie, temporeicher verbaler Schlagabtausch und absurde Situationen machen diesen Film sehenswert. Die Kritiker, die Whatever Works nichts abgewinnen können, müssen einem leid tun, denn sie beweisen eine beklagenswerte Humorlosigkeit. Alle anderen dürfen sich jetzt schon auf den Allen-Film mit dem Jahrgang 2010 - You Will Meet a Tall Dark Stranger - freuen.

Montag, 21. Dezember 2009

Looking for Eric

Psychotherapie einmal anders: Eric Bishop (Steve Evets, links) unterhält sich mit einem imaginären Eric Cantona (Eric Cantona) über alles, was mit seinem Leben falsch läuft.

5 Sterne

Spielfilme über Berühmtheiten, die sich tatsächlich selber spielen, sind nichts Neues. Qualitativ variieren die Beispiele aber gewaltig. Sidekicks war eine peinliche Idealisierung von Chuck Norris, während Being John Malkovich weithin als Perfektionierung der Idee angesehen wird. In diesem breiten Spektrum gibt es viele Filme, die unterschiedlich stark und auf verschiedene Weise mit ihren berühmten Figuren umgehen. Ken Loach benutzt seinen Star, Manchester-United-Legende Eric Cantona, in seinem neusten Werk, Looking for Eric, als skurrilen Verfremdungseffekt, Handlungskatalysator und sogar Deus ex machina. Gleichzeitig ist es dem 73-jährigen Sozialisten aus Überzeugung gelungen, eine zutiefst menschliche Geschichte zu erzählen, in der sein Lieblingsthema, die britische Working Class, auch seinen Platz findet. Was man letzten Endes zu sehen bekommt, ist ein tragikomischer Film über das Leben, Familienwerte, Loyalität und, nicht zuletzt, den Fussball - die schönste Nebensache der Welt.

Es ist die traurige Wahrheit, dass man als Zuschauer bei Filmen, die auf prominente Cameos zugeschnitten sind, oft das Spielchen "Finde den Plot" spielen darf. Häufige Probleme sind unnötiges Beweihräuchern der auf der Leinwand agierenden Grösse oder die Stlisierung derselben zur heldenhaften Ikone. Looking for Eric geht aber einen erfrischend anderen Weg. Eric Cantona hält sich im Hintergrund und berät die Hauptfigur. Dabei beschränken sich seine Äusserungen in manchen Dialogen auf französische Sprichwörter, die man sich problemlos in einem chinesischen Glückskeks vorstellen könnte. Die daraus resultierende Absurdität ist urkomisch. Drehbuchautor Paul Laverty, der nicht zum ersten Mal mit Ken Loach kollaboriert, weiss sehr wohl, wie man die unterschiedlichen Zielgruppen von Looking for Eric angehen muss. Fussballfans und -aficionados würden am liebsten ins Fachsimpeln der Titelfigur Eric mit Eric Cantona mit einstimmen, während Freunde von Loachs ernsteren Filmen vor allem in der zweiten Hälfte voll auf ihre Rechnung kommen. Was bemängelt werden muss, ist, dass der ernste Teil der Geschichte, der selbst den letzten von Laverty geschriebenen Film, das Drama It's a Free World... (Regie: Ken Loach), an Intensität übertrifft, zu abrupt einsetzt und so gar nicht zum im Grunde genommen nachdenklichen und melancholischen Ton von Looking for Eric passen will. Urplötzlich werden kriminelle Gangs und gnadenlose Polizeigewalt thematisiert. Doch wer den Regisseur kennt, weiss, dass auch das kein Beinbruch ist. Spätestens beim Dénouement ist man den Verantwortlichen dankbar für den etwas unbeholfenen Schlenker ins Genre des Sozialdramas. Hier soll nichts über das Ende verraten werden, nur soviel: Die Schlussszene ist lustig, einfallsreich, pragmatisch und erinnert einen an die Solidaritätsbekundung von George Baileys Freunden und Sympathisanten in It's a Wonderful Life.

Stars, die nicht dank ihren schauspielerischen Fähigkeiten berühmt geworden sind, werden oft auf übelste Weise von den Kritikern demontiert, wenn sie sich auf der Leinwand versuchen. In manchen Fällen hat das sicher seine Berechtigung, doch in anderen ist die spöttische Kritik nichts weiter als ein Vorurteil. Vielleicht hat Eric Cantona Glück, dass er in Looking for Eric einerseits keine Hauptrolle spielt und andererseits bereits in mehreren Filmen sein Können unter Beweis gestellt hat, am prominentesten wohl als Monsieur de Foix in Shekhar Kapurs Historienfilm Elizabeth. Zwar wird Cantona nie einen grossen Preis für seine Schauspielkunst erhalten, doch er spielt solide und vermag, wahrscheinlich auch weil er sich selber spielen darf, durchaus zu überzeugen. Seine Sprüche sitzen, er wirkt sympathisch und man erkennt auf den ersten Blick, warum es in Manchester auch heute noch zu einem Verkehrschaos kommt, wenn er durch die Stadt spaziert. Cantonas Selbstironie, grösstenteils in Bezug auf seine schwierige Persönlichkeit als Fussballer, wirkt nicht gezwungen und er enthüllt sogar, dass sein Lieblingsmoment in seiner Karriere kein selber erzieltes Tor, sondern eine geniale Vorlage war. Ob dies nun der Wahrheit entspricht oder nicht, sei dahingestellt, eine nette Metapher und eine hervorragende Szene ist es allemal. Dass sein unrühmlichster Moment, sein Sprungkick gegen einen Crystal-Palace-Fan, fast gänzlich ausgelassen wird - im Abspann bekommen wir immerhin die dazugehörige Pressekonferenz, die nur aus einem Satz bestand, zu sehen -, sei dem Regisseur, dem Drehbuchautoren und dem grossen Fussballer verziehen.

Die weiteren Darsteller, die tragenden Figuren, sind erstklassig besetzt. Steve Evets verkörpert die Hauptfigur Eric mit viel Herz, Humor und britischen Lower-Class-Charme. Der vorab aus dem Fernsehen bekannte Schauspieler hat einige umwerfende Szenen mit Cantona zu meistern. Doch auch im dramatischen Teil vermag das Manchester-Fast-Original - er stammt aus dem Arbeiter-Vorort Salford - mühelos zu begeistern. Stephanie Bishop, eine Debütantin im Schauspielfach, spielt die von Eric begehrte Frau, die er vor 30 Jahren verliess. Zwar hat man Typen ihresgleichen auch schon oft gesehen, eine bodenständige und moderne Frau, die alles im Griff hat (oder zu haben scheint), man denke an Emma Thompson in Last Chance Harvey, doch Bishops Performance lässt das altbekannte Muster in neuem Glanz erstrahlen. Ebenso überzeugend agiert Erics Jungmannschaft, die beiden Sprösslinge Ryan und Jess, gespielt von Gerard Kearns und Stefan Gumbs, sowie die selbstständige Tochter Sam (Lucy-Jo Hudson). Alle drei sind hierzulande noch unbeschriebene Blätter, doch die Leistungen des jugendlichen Trios sind nichtsdestoweniger beeindruckend.

Looking for Eric ist ein Film, der von seinen Charakteren angetrieben wird. Die sorgfältige Figurenzeichnung hat zur Folge, dass sich der Zuschauer wirklich mit den Protagonisten, vor allem Eric Bishop, identifizieren kann. Zudem thematisiert Ken Loach entfernt auch soziale und ethische Fragen wie Loyalität und Treue. "God once said: "Leave your wi... you can change your wife, change your politics, change your religion. But never, never can you change your favourite football team!"", sagt einer von Erics Kumpanen. Eine überaus wahre Lehre, welche moderne Fussballfans gerne vergessen.

Looking for Eric ist ein kleiner Arthouse-Film, dem nie so viel Aufmerksamkeit zuteil werden wird, wie er es verdienen würde. Als Zuschauer lacht und bangt man mit den Charakteren mit und freut sich über jede Szene mit Eric Cantona. Zugegeben, der Film ist nichts für die Geschichtsbücher. Bald wird Looking for Eric in Vergessenheit geraten und zur Randnotiz der Filmhistorie werden. Aus diesem Grund sollte man ihn sich ansehen, solange man kann. Es lohnt sich wirklich! Wo sonst hat man schon einmal einen kiffenden, Trompete spielenden Ex-Fussballstar gesehen, der sich selber spielt?

Dienstag, 24. November 2009

2012

Auf der Flucht: Jackson (John Cusack) flieht mit seiner Familie (im Bild: Tochter Lilly (Morgan Lily)) vor dem drohenden Weltuntergang. In China sind angeblich Rettungsschiffe versteckt.

1.5 Sterne


Godzilla, Independence Day, The Day After Tomorrow - man kann nicht sagen, Roland Emmerichs Katastrophenfilme seien, gemessen an der Thematik, nicht vielfältig. Was den Inhalt betrifft, ist der in die USA ausgewanderte Deutsche jedoch ideenlos und untalentiert. Der Film über die japanische Kult-Killerechse war zum Haareraufen hirnlos, die Alien-Invasion vom 4. Juli langweilte die Massen und die moralisierende Klimaschutzlektion war zwar akzeptabel, krankte aber vor allem daran, dass, trotz des aktuellen Themas, Glaubwürdigkeit gar nicht aufkam. So gesehen passt der gigantischste Film in Emmerichs Œuvre, der bombastische 2012, sehr gut ins Gesamtbild. Ein annehmbarer Katastrophenstreifen ist das Resultat, könnte man denken. Falsch. Das aufgegriffene Motiv, das angebliche Ende der Welt am 21. Dezember 2012, basierend auf dem Kalender der Maya, wird so bearbeitet, dass es jedweden Intellekt beleidigt und eigentlich nur zu Sarkasmus taugt.

Die Annahme, die Welt komme zur Wintersonnenwende 2012 an ihr Ende, ist inkorrekt, das sei schon einmal verraten. Neuste Nachforschungen haben ergeben, dass sich die Wissenschaftler, die den kryptischen Maya-Kalender entschlüsselt zu haben glauben, um 208 Jahre vertan haben. Zudem halten die meisten respektierten Wissenschaftler, die etwas diesbezüglich zu sagen haben, die Erklärung, den Maya sei einerseits die Mathematik zu kompliziert, andererseits die ganze Vorhersagerei zu mühsam geworden, für die wahrscheinlichste. Allein mit diesen Fakten im Kopf, erscheint einem 2012 auf den ersten Blick gar nicht einmal so besonders an den Haaren herbeigezogen, denn die Prophezeiung spielt während des Films so gut wie keine Rolle. Selbst das Datum des 21. Dezembers wird auf halbem Wege über Bord geworfen. Vielmehr nahmen Roland Emmerich und Harald Kloser in ihrem Drehbuch eine bestimmte Planetenkonstellation, die in drei Jahren eintreten wird, als Grundlage. Diese wird tatsächlich geschehen, wird aber aller Voraussicht nach nur minimale Effekte auf unseren Planeten haben. Und da fangen die Probleme von 2012 an. Der Zuschauer wird ins kalte Wasser geworfen und muss sich gleich zu Beginn mit einer für Katastrophenfilme typischen Unart, dem unter jüngeren Filmspezis liebevoll "Random Scientific Crap" genannten Stilmittel, herumschlagen. Man fühlt sich wie in einer langweiligen Chemielektion, wenn sich die ersten fünf Minuten des Films um solare Gasexplosionen und physikalisch reagierende Neutrinos drehen. Dabei ist dieses pseudowissenschaftliche Gefasel nichts anderes als Blendwerk. Dass das Konzept von 2012 natürlich völliger Quatsch ist, hat sogar Roland Emmerich selber zugegeben. Dies schützt ihn aber nicht vor kritischer Betrachtung seines Streifens. 1'500 Meter hohe Wellen, die den Himalaya problemlos unter Wasser setzen? Ein schmelzender Erdkern? Menschen überleben eine Vulkan-Aschewolke? Auch ein zur Unterhaltung produzierter Actionreisser sollte sich an ein paar Grundregeln halten. Ausgeschlossen davon sind Faktoren wie minutenlanges Luftanhalten und das unbeschadete Überstehen jeglicher Gefahrensituation; das sind offenbar Standardprämissen, die man in derartigen Filmen hinnehmen muss. Sieht man von diesen gigantischen Plotlöchern ab, bleiben noch die erzählte Geschichte und die Dialoge, die das Drehbuch retten könnten. Tun sie es? Die Antwort lautet - oh Wunder - nein. Schlimmer noch, die resultierende Moral stinkt nach unterschwelligem Zynismus. Nicht nur wird darin quasi ein ganzer Erdteil verkauft, nein, es wird indirekt die Frage gestellt, was denn so schlimm an Milliarden von Toten sei, solange die klassische amerikanische Familie Wiedervereinigung feiern darf. Vorbereitet wird die Moral durch eine löchrige Story, die, mit Ausnahme eines Staatsangestellten, gespielt von Oliver Platt, mit platten Charakteren, deren Konflikte auf die banalste Weise gelöst werden, massenweise Klischees und endlos ausgeschlachteten Actionsequenzen garniert ist. Positiv anzumerken sind ein paar gelungene Anspielungen auf aktuelle Politiker, etwa der augenzwinkernde Arnold-Schwarzenegger-Verschnitt, der italienische Staatschef, der sich ideologisch nicht mehr von Silvio Berlusconi unterscheiden könnte, oder die Karikatur der englischen Queen und ihrer geliebten Hunde.

Unter den drögen Figuren lassen sich wenigstens noch ein paar einigermassen befriedigende Schauspielleistungen entdecken. John Cusack rennt so würdevoll wie er nur kann durch die haarsträubend formelhafte Geschichte, Danny Glover wehrt sich bewundernswert gegen das Ertrinken in der schablonenhaften Einfältigkeit seiner Figur, des volksnahen Präsidenten der USA, und Woody Harrelson ist als wissender, liebenswerter Besessener - ein in Katastrophenstreifen schon zigmal bemühter Protagonist -, ein willkommener Farbtupfer in einem ansonsten absolut farblosen Film. Doch auf jedes Mitglied dieses Trios kommen zahlreiche unnötige Personen und schwache Schauspieler. Zlatko Buric unterhält das Publikum mit markigen Sprüchen des Bilderbuch-Russen, was sein hölzernes Spiel in einem besseren Licht erscheinen lässt, aber Morgan Lily, Liam James, Amanda Peet - John Cusacks Filmfamilie - sowie Zlatko Burics Filmfrau Tamara (Beatrice Rosen) würde man am liebsten im Yellowstone-Vulkan versinken sehen. Schliesslich wären noch Thomas McCarthy, John Cusacks Rivale in Liebesdingen, Thandie Newton, die emotional verwirrte Präsidententochter, und Chiwetel Ejiofor, der unbedeutende Wissenschaftler, dem die zweifelhafte Ehre zukommt, den Reichen der Welt zu sagen, dass nur sie gerettet werden - das versteht Emmerich wohl unter Sozialkritik -, erwähnt werden, die allesamt schauspielerisch nicht stattfinden. Naja, vielleicht findet sich im nächsten Teil der Twilight Saga ein Part für sie, dort wären sie sicherlich hervorragend aufgehoben.

Fassen wir kurz zusammen: 2012 ist hirnlose, recycelte Dosenkost mit zynischen Untertönen, die mit einem selbstzufriedenen Grinsen jedwede Logik über den Haufen wirft. Sind aber wenigstens die Actionszenen beeindruckend genug? Nun ja, anfangs erfreuen schöne Bilder vom ausbrechenden Yellowstone-Supervulkan das Auge des Zuschauers. Auch die Zerstörung von L.A. hat optisch durchaus ihren Reiz, doch in der Folge wiederholen sich die Vernichtungen nur noch. Das Ganze wird noch langweiliger als es eh schon ist und der Zuschauer muss sich um inkonsistente Familienverhältnisse kümmern. Genau das, was man in einem Film, in dem angeblich die Welt untergeht, sehen will, oder? Zudem ist das CGI bei weitem nicht über jeden Zweifel erhaben. Insbesondere die Risse im Boden, die im ersten Akt ihre Wirkung als Spannungsaufbau grandios verfehlen, sehen arg verpixelt aus. Die anderen Spezialeffekte sehen so aus, als wären sie 1:1 aus anderen, weniger miesen Filmen kopiert worden.

Mehr gibt es wirklich nicht zu sagen. 2012 ist - ganz in der Tradition von Armageddon oder The Core - ein lachhafter Film für die breite Masse, die zufrieden ist, wenn sie eine Abwandlung dessen, was sie schon x-mal mit angesehen haben, zu Gesicht bekommt. Dem Film fehlt es an jeglichem Feingefühl und erzählerischer Finesse, die Effekte haben sich nach 45 Minuten totgelaufen und die zarten Denkanstösse, die das Ende vermitteln soll, werden durch die schiere Idiotie auf der Leinwand im Keim erstickt. 2012 ist nichts anderes als profitorientierte Geldmacherei und die Produzenten machen keinen Hehl daraus. Sollte die Erde sich 2012 wider Erwarten tatsächlich in ihre Einzelteile zerlegen, dann wäre es um derartige Machwerke nicht schade.

Montag, 23. November 2009

(500) Days of Summer

Wie alles begann: Summer (Zooey Deschanel) und Tom (Joseph Gordon-Levitt) kommen sich bei einer Firmenfeier in einer Bar näher.

5.5 Sterne


Das altehrwürdige Genre der romantischen Komödie hat auch schon bessere Zeiten gesehen. Die grossen Studios scheinen momentan nur noch den ewig gleichen Einheitsbrei (The Proposal, The Ugly Truth) oder gänzlich humorfreie Versuche, "anders" zu sein (What Happens in Vegas..., All About Steve), zu produzieren. Wer Wert auf Romantik, Humor und Substanz legt, ist meistens mit Independentfilmen am besten beraten. Besonders FOX Searchlight hat sich in den letzten Jahren in Sachen gehaltvolle Komödien hervorgetan. 2007 landete das Studio den Überraschungshit Juno, dieses Jahr griffen sie Marc Webb bei seiner ersten grösseren Inszenierung unter die Arme. (500) Days of Summer hat ist zwar von der Grundidee her recht konventionell, überrascht aber angenehm mit ausgefallenen Einfällen, frechen Dialogen und dem Versuch, den Status der Liebe in unserer zum Zynismus neigenden Zeit zu erfassen.

(500) Days of Summer packt einen schon von der ersten Sekunde an. Der Text "The following is a work of fiction. Any resemblance to persons living or dead is purely coincidental ... Especially you Jenny Beckman ... Bitch." erscheint am Anfang auf der Leinwand und schon ist der Kinosaal von Gelächter erfüllt, ohne dass auch nur ein bewegtes Bild zu sehen gewesen wäre. Es ist auch nicht die übliche Art Spannung, die einen in diesem Moment gefangen nimmt. Man fragt sich nicht, wie sich der Plot entwickelt oder wer den Film überleben wird; vielmehr kann man es kaum erwarten zu sehen, auf welche Weise die weiteren Lacher erzeugt werden. Und die Erwartungen werden erfüllt. Scott Neustadter und Michael H. Weber führen in ihrem Drehbuch den Kniff, Musik und Filme aktiv in die Geschichte einzubinden, zur Perfektion. Augenzwinkernde Anspielungen wie die Fehlinterpretation von The Graduate oder die scheinbare Unmöglichkeit, dass Ringo Starr jemandes Lieblingsbeatle sein kann, werden zu Konfliktsituationen und Wendepunkten erhoben. Solche festen Pfeiler sind wichtig, da (500) Days of Summer nicht linear erzählt wird. Der Film fängt am 290. der 500 Tage an und hüpft in der Folge scheinbar beliebig zwischen den Tagen herum. Anfangs wirkt dies zwar irritierend, wird aber bald gar nicht mehr wahrgenommen. Auch ist die erzählte Geschichte weniger an einem geradlinigen Aufbau interessiert, sondern fixiert sich mehr auf bestimmte Ereignisse in der Beziehung von Tom und Summer. Und genau dort kommen die ausgefeilten Dialoge ins Spiel. Diese sind gespickt mit kleinen Frivolitäten sowie Anspielungen auf populärkulturelle Themen und diese erschöpfen sich nicht in unbeholfenen Pointen. Ganz nach dem Monty-Python-Rezept "Der Witz ohne Pointe ist der beste." werden eigentlich normale Sachverhalte von der etwas abseitig denkenden Summer aus einer neuen, ins Absurde tendierenden Perspektive gezeigt. Auch die Arbeit mit Montage und Split-Screen ist den Autoren und dem Regisseur Marc Webb ausgezeichnet gelungen. Wenn man dem Trio einen Vorwurf machen kann, dann der, dass das Ende vielleicht eine Spur zu süsslich geraten ist, was dem Tonfall des ganzen dritten Aktes etwas zuwiderläuft. Aber es handelt sich ja schliesslich um eine Komödie, da sei ihr das immerhin unvorhersehbare Happy End verziehen.

Bevor (500) Days of Summer in den USA erschien, wurde er in erster Linie als Zooey-Deschanel-Vehikel vermarktet. Das ist verständlich, wenn man bedenkt, dass sie das zentrale Objekt des Films ist - um ihre berühmten Augen hervorzuheben, wurde der Film sogar mit Blaustich gefilmt. Ihr Schauspiel lässt kaum zu wünschen übrig. Sie spielt eine bodenständige, pragmatische, aber dennoch leicht verrückte Frau, die nicht an die wahre Liebe glaubt. Zwar ist Summer einem anfangs sympathisch, doch ehe man sich versieht, geht sie einem auf die Nerven - ohne dass Deschanel ihre Art gross verändert hätte. Wieder einmal hat der schauspielerische Minimalismus über die exzessive Emphase gesiegt. Doch auch Joseph Gordon-Levitt funktioniert nach diesem Schema. Im einen Moment mag man den Mann, im anderen fragt man sich, weshalb er sich jetzt dermassen idiotisch aufführt. Professionelles, junges Schauspiel, gepaart mit einer sorgfältig entwickelten Charakterzeichnung, ist alles, was es für ein kleineres Sympathiedilemma beim Zuschauer braucht. Da (500) Days of Summer trotz seiner dominierenden Hauptfiguren nicht ohne Einfluss nehmende Nebenfiguren auskommt, mussten auch die Nebenrollen ansprechend besetzt werden. Hier macht vor allem Chloe Moretz, eine Jungschauspielerin in der Art von Abigail Breslin, als Toms Schwester Rachel, der ruhende Pol und die Stimme der Vernunft unter ratlosen Männern, auf sich aufmerksam. Toms Freunde sind wohl das Konventionellste an (500) Days of Summer, was ihre Witzigkeit aber, anders als die mässig lustige Herrentruppe in Knocked Up, trotzdem kaum einschränkt. Vor allem Geoffrey Arend sorgt in betrunkenem Zustand für einige einfache, nicht speziell anspruchsvolle Witze, die man als Zuschauer mit einem ehrlich gemeinten Schmunzler quittiert. Daran ist überhaupt nichts Schlimmes. Ganze Filme hätten mit diesem Humorkonzept gerettet werden können.
Wie Juno bedient sich auch (500) Days of Summer musikalisch munter beim Indie-Genre: The Smiths, The Temper Trap, Feist, She & Him (bestehend aus M. Ward und Zooey Deschanel selbst) und andere. Abgerundet wird das Ganze durch die Berücksichtigung von Carla Bruni und Simon & Garfunkel. Die Musik passt zum Film und lässt sich gleichzeitig auch hervorragend verkaufen - der Traum eines jeden Produzenten.

Marc Webb greift in seinem Film die schwierige Thematik der Generation der Twentysomethings auf, die bereits in Zach Braffs surreal-absurder Romanze Garden State behandelt wurde. Braff beschäftigte sich in erster Linie mit der Entwicklung und den Zukunftsperspektiven, der Menschen, die in den 1980er- und 1990er Jahren aufgewachsen sind. Webb, Neustadter und Weber stellen sich selbst und dem Publikum die Frage, wie diese Generation mit der Liebe umgeht. In (500) Days of Summer werden zwei Meinungen miteinenader verglichen. Tom glaubt an die wahre Liebe, wie er sie im Ende von The Graduate zu sehen meint - die letzten Sekunden des Films scheinen ihm dabei entgangen zu sein -, während Summer deren Existenz entschieden anzweifelt. So ist Marc Webb nicht nur ein lustiger und romantischer, sondern auch ein sehr anspruchsvoller Film gelungen, der einem mehr bietet als man es von einer Liebeskomödie erwartet.

Wem kann man (500) Days of Summer empfehlen? Frisch verliebten Paaren? Jawohl. Verliebten Singles? Ebenfalls. Kinofans? Aber natürlich! Der Film spricht einen auf mehreren Ebenen an, ohne jedoch deprimierend oder getragen zu wirken, obwohl es ja eigentlich um eine Trennung geht. Er erlaubt es einem, in eine romantische, stellenweise aber auch bittersüsse Welt einzutauchen, die einen zum Lachen geradezu herausfordert. Selten wurde eine dem Untergang geweihte Beziehung filmisch so leichtfüssig und intelligent präsentiert. Wieder einmal zeigt ein Independentfilm den Grossproduktionen, wie man es machen muss.

Samstag, 14. November 2009

District 9

"Sie haben 24 Stunden, um ihr Haus zu verlassen": Der Staatsangestellte Wikus van de Merwe (Sharlto Copley, 2 v.l.) streift mit Feuerschutz durch den Slum District 9 und zwingt die Aliens aus ihren Häusern. Bald wird sich sein Leben aber dramatisch verändern.

5 Sterne

Die südafrikanische Filmindustrie ist alles andere als weltbewegend. Hie und da macht ein Film über soziale Probleme oder die Apartheid auf sich aufmerksam - etwa der von allen Seiten gelobte Tsotsi aus dem Jahre 2005 oder Clint Eastwoods neustes Projekt, Invictus, der den Amerikanern Ende Jahr ins Haus steht. Aber ein Science-Fiction-Film aus Südafrika? Das gab es noch nie. District 9 überraschte an den Kinokassen und lenkte den Blick der Kinowelt auf den Regisseur Neill Blomkamp und den Hauptdarsteller Sharlto Copley. Vermarktet wurde der Film in bewährter Cloverfield-Manier: Kurze Clips wurden ins Internet gestellt, der Plot vielfach nur angedeutet und noch bevor auch nur ein Normalsterblicher den Streifen gesehen hatte, redeten alle darüber- Dies liegt wohl nicht zuletzt auch am populären und berühmten Produzenten Peter Jackson, der bekanntermassen eine Ader fürs Exzentrische und Spezielle hat - siehe seine ersten Gehversuche als Regisseur (Stichwort Meet the Feebles). Aber trotz der neuseeländischen Unterstützung ist District 9 ein eindringlicher, hintergründiger und vor allem sehr südafrikanischer Action-Science-Fiction-Film geworden.

Das Sci-Fi-Genre läuft sich langsam zu Tode. Klischees häufen sich, die Filmemacher wiederholen sich zu oft und ein neues Epos à la Star Wars taucht auch nicht mehr auf. Vielleicht brauchte es gerade deshalb einen Produzenten wie Peter Jackson, der sich in der boomenden Fantasy-Abteilung gerade häuslich eingerichtet zu haben scheint. Dank seiner Hilfe bekam District 9 die finanzielle Unterstützung - das Budget belief sich immerhin auf 30 Millionen US-Dollar (eingespielt hat er bisher ungefähr 200 Millionen) -, die er benötigte, um visuell ansprechend zu erscheinen. Um den nicht uninteressanten Inhalt war Neill Blomkamp besorgt, der gemeinsam mit Terri Tatchell das Drehbuch verfasste. Die Art, in der District 9 angelegt ist, mag nicht neu sein, aber allein schon das Setting Johannesburg verleiht dem Film einen besonderen Touch. Aber auch die Idee, das Ganze in eine Art Dokumentarfilm einzubetten, hat durchaus ihren Reiz. Anfangs hüllt sich der Film in Schweigen, worauf man in der Exposition eigentlich hinauswill. Verschiedene Bekannte eines gewissen Wikus van de Merwe, der selbst auch in einigen Aufnahmen zu sehen ist, reden über etwas, das ihm angeblich zugestossen ist. Gleichzeitig erklären einem ein paar Experten, dass 1982 ein ausserirdisches Raumschiff über Johannesburg gelandet ist und dass die Besatzung, seltsame Wesen, die aufgrund ihres Aussehens "Prawns" (Crevetten) genannt werden, nachdem entdeckt wurde, dass sie weder eine Bedrohung darstellen noch den Fortschritt vorantreiben können, in den Soweto-Slum "District 9" verfrachtet wurden. Und danach nimmt District 9 volle Fahrt auf, die bis gut 20 Minuten vor dem Ende durchhält. Am Ende scheint Blomkamp leider etwas zu verschwenderisch mit dem ihm zur Verfügung stehenden Geld umgegangen zu sein, da die finale Actionsequenz stark an (gute) Szenen aus Transformers erinnert. Trotzdem bekommt man als Zuschauer etwas geboten und darf sich an recht expliziter Gewalt "erfreuen". Aufs Ganze gesehen, ist District 9 recht flott geschrieben. Die Story ist originell und trägt zuweilen auch satirische Züge. Der Rassismus, der gegenüber den Aliens praktiziert wird, soll natürlich Erinnerungen an die Zeit der Apartheid wecken, und einen mahnen, dass soziale Verwahrlosung auch eine Folge von Vorurteilen und staatlicher Vernachlässigung ist. Es ist Blomkamp und Tatchell auch zugute zu halten, dass die heikle Thematik auch immer wieder mit bitterem Humor angegangen wird. Die Aliens verhökern die Waffen, die nur sie bedienen können, für Katzenfutter, es gibt Prostitution zwischen den Spezies, die führende nigerianische Slum-Bevölkerung fürchtet sich vor einem Putsch der "Prawns" und die Menschen, die einmal unter dem Regime der Apartheid gelitten haben, scheinen überhaupt nichts dazugelernt zu haben.

Auch der Cast agiert auf einem höheren Niveau als man es von einem knalligen Science-Fiction-Reisser erwarten könnte. Insbesondere der Hauptdarsteller, Sharlto Copley, zeigt eine extrem gute Leistung. Wikus' Angst, sich in ein Alien, die er aufgrund seines Berufs verachtet, zu verwandeln, wird von Copley überragend vorgetragen. Die Charakterentwicklung und die Gefühle der Figur wirken sehr glaubwürdig. Unterstützt wird der Hauptdarsteller von einer gut aufspielenden Vanessa Haywood, die Wikus' Ehefrau verkörpert, von Eugene Khumbanyiwa, der einen nigerianischen Warlord mimt, und von David James, der den von Hass gegen die Aliens zerfressenen Militärkopf Koobus Venter spielt. Der zweite Hauptdarsteller ist allerdings ein Ausserirdischer, der kluge "Christopher Johnson", der mit seinem Sohn an einem Plan zur Flucht von der Erde arbeitet. Die gurgelnde Sprache von ihm und seinen Artgenossen und der breite südafrikanische Dialekt der Menschen tragen viel zur Originalität von District 9 bei.

Lassen sich mit einem Budegt von 30 Millionen US-Dollar wirklich beeindruckende Spezialeffekte herstellen? Oder sind 200 Millionen, wie im Falle von Transformers: Revenge of the Fallen, nötig? Nun, die Art, in der die Actionszenen gefilmt wurden, trägt viel zur Wirkung der Effekte in District 9 bei. Oft stellt der Kameramann Trent Opaloch die Kamera direkt hinter die Person, die von einer Alienwaffe erschossen wird. Da diese Waffen ihre Opfer quasi zerspringen lassen, erzeugt dieser Kniff häufig die Illusion von 3D. Auch wussten Opaloch bzw. der Chef des Effektedepartements, David Barkes, den aus Splatterfilmen bekannten Effekt von Blutspritzern auf der Linse optimal einzusetzen. Fehlerlos wird einem auch die finale Materialschlacht präsentiert. Obwohl diese vielleicht etwas zu lang und - im Vergleich mit der vorangegangenen Action - konventionell geraten ist, sollte dabei dennoch keine Langeweile aufkommen. Auch die Aliens, die teils Puppen, teils computeranimiert, sind, wirken in jedem hässlichen Körperdetail echt. Die Charakterdesigns sind ebenso gelungen.

Man kann sich vielleicht vorstellen, dass eine Mixtur aus Science Fiction, Fantasy und Mockumentary schwierig zu beschreiben und sachlich zu kritisieren ist. District 9 ist in jedem Punkt Geschmackssache. Wer aber der formelhaften amerikanischen Grossproduktionen in diesem Genre überdrüssig ist, sollte einen Blick riskieren. Der offene Schluss entlässt einen auch mit genug Gesprächsstoff ins Foyer. Logiklöcher? Unrealistische Verhaltensmuster? Schwarzmalen der menschlichen Mentalität? Eine gewisse Berechtigung haben diese Vorwürfe ja, aber der cineastische Wert von District 9 wird dadurch kaum beeinträchtigt. Dafür ist dieser südafrikanische "Independent-Sci-Fi-Thriller" schlicht zu spannend und zu eindringlich.

Freitag, 13. November 2009

Up

Reise ins Ungewisse (denn das GPS macht bald den Abflug): Der Rentner Carl (Stimme von Ed Asner) und der Pfadfinder Russell (Stimme von Jordan Nagai) fliegen mit einem Haus nach Südamerika, wo die Abenteuer nur auf sie warten.

6 Sterne

Pixar zu kritisieren ist nicht einfach. Das Studio produziert einen Hit nach dem anderen und ist zweifellos marktführend in Sachen Animationsfilme. Seit ihrem ersten Langspielfilm, dem revolutionären Toy Story (1995), sind fast 15 Jahre ins Land gegangen und die digitalen Techniken wurden um ein Vielfaches verfeinert. Doch allen Filmen liegt stets etwas zugrunde, was man, besonders bei Filmen, die Erwachsene und Kinder ansprechen, immer seltener zu sehen bekommt: Herz. Pixar biedert sich nicht mit leicht vermarktbaren Figuren an - obwohl Cars und Finding Nemo hin und wieder mit diesem Vorwurf zu kämpfen haben - und nimmt seine Zuschauer ernst. Dadurch haben die Filme von Pixar immer eine gewisse Reife an sich, die Streifen der Konkurrenz wie Open Season oder Ice Age eher vermissen lassen. Und trotzdem bleiben die Stoffe kindgerecht. Nun haben die Produzenten des legendären Studios ihren neusten und wohl erwachsensten Streich bisher auf die Zuschauer losgelassen: Up. Gibt es diesmal etwas zu kritisieren? Kaum.

Es mag einem etwas gewagt erscheinen, einen Film, der in erster Linie die Geschichte eines Rentners, der mit einem Haus nach Südamerika fliegt, als erwachsen zu bezeichnen. Aber ist es nicht die Albernheit, die, in Verbindung mit den reifen Zügen, Pixars Filme ausmachen? Ist Toy Story, hintergründig ein Märchen über Akzeptanz und das Geniessen eines Zustandes, solange er da ist, nicht voll mit witzigen, ja albernen Possen? The Incredibles ist ebenso gespickt mit Absurditäten und bleibt deswegen trotzdem eine ironische Hommage an das Amerika, das seine erfundenen Helden über alles liebt. Auf genau diese Weise ist Up ein animierter Abenteuerspass für Kinder einerseits, eine Geschichte über Loslassen und das Meistern von neuen Aufgaben für Erwachsene andererseits. Dabei wissen die Regisseure Pete Docter und Bob Peterson das Ganze meisterhaft wiederzugeben. Die Gratwanderung zwischen melancholisch-langsamem und zügigem Erzählton ist hervorragend gelungen. Und Petersons Drehbuch ist ein Musterbeispiel für professionelle Dramaturgie. Up wird exzellent erzählt und macht aus einer recht simplen Grundidee mehr als man hätte erwarten können. Auch die Charakterzeichnung - ein wichtiger Punkt, da der Film vor allem von seinen Figuren vorangetrieben wird - überzeugt zu 100%. Der an Spencer Tracy angelehnte Rentner Carl, der von einem herrlich grummligen Ed Asner gesprochen wird, und der kleine Russell, überzeugend synchronisiert von Jordan Nagai, sind Figuren, die direkt aus dem Leben gegriffen zu sein scheinen. Beide sind weder reine Kunstfiguren noch weit hergeholt. Es sind echte Menschen, die ein unglaubliches Abenteuer bestreiten. Carl hat mit der modernen Welt zu kämpfen (in der es auch Platz für einen Auftritt des Pixar-Kultsprechers John Ratzenberger gibt), obwohl er stur in der Vergangenheit lebt und sich nicht dazu entschliessen kann, zu neuen Ufern aufzubrechen, während Russell verzweifelt die Anerkennung sucht, die ihm seine Eltern nicht geben. Der Antagonist, Charles Muntz, stimmlich virtuos wiedergegeben von einem hervorragenden Christopher Plummer, hat einen etwas spektakuläreren Hintergrund, doch auch er hängt grundsätzlich einem Traum nach - offenbar ein Leitmotiv des Films. Zwar bewegen sich Muntz' intelligente Hunde mit ihren überzeichneten Fähigkeiten gefährlich nahe an der feinen Linie, welche die stilvolle Albernheit von der simplen Lächerlichkeit trennt, doch angesichts der ersten zehn Minuten des Films sind diese kleinen Probleme vergeben und vergessen. Die Eingangssequenz gehört nämlich zum Bewegendsten, was Pixar je auf die Leinwand gebracht hat. Der Anfang von Up ist - Verzeihung, wenn es abgedroschen klingt - schlicht und ergreifend perfekt. Carl sieht sich als Kind einen Bericht in einer Wochenschau an. Er ist tief beeindruckt und findet kurz darauf die Liebe seines Lebens, Ellie. Was folgt, sind zehn Minuten reinste Filmmagie. Ein häusliches und eigentlich ganz alltägliches Leben flimmert über die Kinoleinwand und dürfte so manchem Zuschauer eine Träne entlocken. Dieses Kabinettstück von einer Anfangssequenz wird im Abspann nochmals aufgegriffen. Gewidmet ist der Film nämlich "the real life Carl and Ellie". Wer das sein soll, wird nicht verraten. Eine denkbare Antwort wäre, dass Up all jenen Leuten gewidmet ist, die ein Leben ausserhalb von Konvention und Norma führen, ein Leben, das von Abenteuern, auch wenn man sie nur in seinen Gedanken erlebt, getrieben ist. Inspirierende Leute, die aber gleichzeitig auch wissen, dass das grösste Abenteuer das Leben selbst ist.

Up lebt von seinen Figuren, der fantasievollen Story und den realitätsnahen Themen, die angeschnitten werden. Wie immer bei Pixar bleibt auch das Prinzip der Freundschaft nicht aussen vor. Carl und Russell, ein überaus seltsames Paar, entwickeln auf eine glaubwürdige Art und Weise eine freundschaftliche Beziehung, die beiden das gibt, was ihnen bis anhin gefehlt hat. Doch beide merken auch, dass es auf der Welt mehr als nur die eigenen Probleme gibt. Ihr gemeinsames Eintreten für den etwas naiven Hund Dug, gesprochen von Bob Peterson (!), und den wunderbar einfältigen Riesenvogel Kevin, ein Weibchen nota bene, wird auf eine charmante, augenzwinkernde, aber zugleich auch ernstzunehmende Weise geschildert, einer Weise, die andere Disney-Filme schon seit Jahren nicht mehr richtig hinbekommen haben.

Auf der Animationsebene scheint Up nach WALL•E auf den ersten Blick ein Rückschritt zu sein. Sieht man aber genauer hin, dann stellt man fest, dass Up im Prinzip nichts anderes ist als ein animierter Zeichentrickfilm, während der Teil von WALL•E, der auf der Erde spielt, sich eher als animierter Realspielfilm verstand. Die Menschen, die darauf erschienen waren aber merklich weniger souverän gemacht als die Menschen in Up. Insbesondere die Augen und die Gesichtsausdrücke der Menschen wurden merklich verbessert. Und auch die bewegungsreichen Szenen und die Panoramaaufnahmen zeigen einmal mehr, dass die Crème de la Crème der Animatoren bei Pixar unter Vertrag stehen.

Abgerundet wird der Film durch einen stimmigen Score, der gute Chancen auf einen Oscar hat. Michael Giacchino, ein Multitalent, wenn es um Filmmusik geht, wusste Up mit passender und zuweilen auch mitreissender Musik zu versehen - Kompliment.

Es hat keinen Sinn, die Negativpunkte von Up hervorzuheben. Es wäre bloss Haarspalterei. Pixars neustes Werk mag vielleicht nicht perfekt sein und nicht ganz an Monsters, Inc. und Toy Story herankommen, aber es reicht ganz nah an die Bezeichnung "Meisterwerk". Einmal mehr wurden die grossen Konkurrenten ausgestochen und Pixar dürfte bei einem Oscar-Hattrick (drei Siege hintereinander) nicht überrascht sein - und das Publikum nicht verärgert. Doch kann Up von den nächsten Filmen des Studios getoppt werden? Toy Story 3 (2010), Cars 2 (2011), The Bear and the Bow (2011) und Newt (2012) stehen uns in den nächsten Jahren ins Haus. Und überall scheint es mit viel Fantasie zuzugehen. Na, da freuen wir uns aber!

Mittwoch, 4. November 2009

Coraline

Nicht das wahre Leben: Coraline (Stimme von Dakota Fanning, Mitte) fühlt sich von ihren Eltern (Stimmen von John Hodgman und Teri Hatcher) vernachlässigt. Doch ob die Gegenwelt hinter der Tür in der Wand wirklich so viel besser ist?

5 Sterne

Henry Selick ist so etwas wie ein Magier. Seine Filme entführen einen in wundersame Welten, denen es an fantasievollen Designs und verqueren Charakteren nicht mangelt. Selicks Mitarbeit verleiht jedem Film ein gewisses Etwas - selbst wenn er, wie in The Life Aquatic with Steve Zissou, nur für die Unterwasserspezialeffekte zuständig ist. Als Regisseur hat er bisher vor allem mit den Stop-Motion-Abenteuern The Nightmare Before Christmas und dem etwas kindlichen, aber nichtsdestoweniger unterhaltenden James and the Giant Peach auf sich aufmerksam gemacht. Auch das neuste Werk des Meisters wurde mit der mühseligen Stop-Motion-Technik gefilmt. Der Stoff: Coraline, eine Fantasy/Horror-Novelle des Kultautoren Neil Gaiman - wie gemacht für Henry Selick! Und wie war das mit den fantasievollen Designs und verqueren Charakteren? Hier schöpft Selick aus dem Vollen!

Coraline ist der erste Langspielfilm des Studios Laika. Knapp 120 Millionen US-Dollar hat der kleine Film bereits eingenommen, was den doppelten Produktionskosten entspricht. Und man darf neidlos zugeben: Jeder Cent ist verdient. Wo soll man mit dem Loben anfangen? Die Story an sich ist im Prinzip schon meisterhaft. Doch was Henry Selick daraus gemacht hat, verdient höchste Anerkennung. Wie Neil Gaimans Vorlage strotzt auch der Film vor Fantasie, schrägen Figuren und einer Geschichte, die den schmalen Grat zwischen kindlicher Neugierde und dem Grauen vor dem Neuen mit souveräner Balance beschreitet. Obwohl diese Balance besonders am Ende des Films etwas aus den Fugen gerät. Dort kommt man sich als Zuschauer nämlich etwas gehetzt vor und es hat alles etwas den Anschein, als ob die Macher von Coraline den Streifen unbedingt unter 100 Minuten halten wollten. Zugegeben, meistens ist ein solches Bestreben sehr löblich, doch bei einem Feuerwerk der Fantasie wie Henry Selicks Adaption eines Neil-Gaiman-Buches - allein schon diese Prämisse verspricht einen guten Film - hätte man gut und gerne auch noch ein paar Minuten mehr ausgehalten. Dieses Schlingern auf der Zielgeraden ist aber auch so ziemlich das einzige, was sich Coraline an Kritik gefallen lassen muss. Ansonsten: Chapeau! Selick wusste anscheinend ganz genau, wie er zwischen dem eigentlichen Plot und den kleineren Charakterstudien der Nebenfiguren hin und her pendeln muss, um keine Inkohärenz aufkommen zu lassen. Entsprechend erfreut der Film nicht nur Anhänger des Erzählkinos, sondern mit einem Flair für abstruse und ausgefallene Details. Letztere wurden demnach von einigen amerikanischen Zeitgenossen als zu kinderunfreundlich kritisiert; sie mögen nicht ganz Unrecht haben, doch genau diese sind es, die Coraline von gängigen Animationsfilmen abheben. Der verrückte Mr. Bobinsky, die verblühenden Miss Forcible und Miss Spink oder der liebenswürdige Möchtegern-Draufgänger Wybie, sie alle sind Charaktere, die man gleich bei ihrem ersten Auftritt ins Herz schliesst. Dass dies nicht zuletzt an den Stimmgebern liegen dürfte, ist schwerlich zu widerlegen. Ian McShane, der Bösewicht mit der passenden Stimme aus Kung Fu Panda, Jennifer Saunders und Dawn French hauchen den Figuren mit ihren jeweiligen Leistungen soviel Leben ein, dass die Tatsache, dass es sich um Puppen handelt, bald vergessen ist. Doch auch die Hauptfiguren sind optimal besetzt. Dakota Fanning zeigt in der Titelrolle viel Talent für das Synchronsprechen, mehr als fürs Schauspielern, wie dem Rezensenten scheint. Egal ob ihr Tonfall ängstlich oder sarkastisch ist, Fanning trifft immer ins Schwarze und hilft mit, Coralines vielschichtige Persönlichkeit auf die Leinwand zu bringen. An ihrer Seite glänzen Robert Bailey Jr. als Wybie, Keith David als Kater mit einer herrlich sonoren Stimme, John Hodgman als Coralines Vater und Teri Hatcher als Mutter. Besonders Teri Hatcher macht einen eindringlichen Eindruck auf das Publikum. Ihr Wechseln zwischen guter anderer Mutter und böser Hexe ist hervorragend gelungen.

Die farbigen Tableaux, die Henry Selicks Filme auszeichnen, sind auch in Coraline in grosser Zahl vorhanden. Vor allem die Gegenwelt, in die Coraline stolpert, ist voll von liebevoll gestalteten Details und betörenden Designs. Wie diese Umgebung sich aber zusehends in ein erdrückendes Gefängnis verwandelt, ist ebenso meisterhaft eingefangen, auch ein Verdienst des Kameramannes Pete Kozachik. Ihm und dem vorzüglich ausgearbeiteten Setdesign ist es zu verdanken, dass Coraline auf der visuellen Ebene beeindruckt. Das Ganze kann man sich zwar auch in 3D anschauen, doch dies kommt dem Film, wie man hört, nicht unbedingt zugute. Da hält man sich lieber an die herkömmliche Version.

Es kann darüber diskutiert werden, ob Coraline tatsächlich kinderunfreundlich ist. Sicher enthält der Spass einige Szenen, mit denen die Kleinsten nicht umzugehen vermögen. Und auch die letzten 20 Minuten könnten das eine oder andere Kind das Fürchten lehren. Doch für abgehärtete junge Kinogänger sowie das erwachsene Publikum steckt der Film voller Überraschungen und Denkanstösse. Das Interpretieren von Kinderfilmen macht ja immer besonders Spass, weshalb diesem Sport auch hier gefrönt werden sollte. Wer The Door in the Floor gesehen hat, wird sich unweigerlich daran erinnert fühlen, wenn Coraline das erste Mal die Tür zur fantastischen Parallelwelt öffnet. Der Gang ins Ungewisse, der Ausbruch aus der vertrauten Umgebung - ein Gedanke, den viele Kinder hegen. Doch kaum hat sich das Mädchen an diese vielfältige und ungleich buntere Welt gewöhnt, kommen Zweifel in ihr auf. Zweifel, die durch das Bestreben ihrer anderen Mutter, ihr Knöpfe auf die Augen zu nähen, nur noch bestärkt werden. Sieht man einmal vom märchenhaften Teil ab, erkennt man, dass in diesem Konzept viel Wahrheit steckt. Das Alltägliche lockt einen doch über kurz oder lang wieder zurück, denn auch das Neue und Unbekannte ist nicht perfekt. Eine wichtige Lektion, die jedes Kind einmal lernen muss. So gesehen ist Henry Selicks Film nicht nur ein Animationsabenteuer der besonderen und verspielten Art, sondern auch ein Versuch, Kinder auf einer persönlichen Ebene anzusprechen. Und alles ohne dick aufgetragene Moralreden oder zähe Monologe. Das ist ein wahrer Kinderfilm.

Henry Selicks Coraline ist von der ersten, an Corpse Bride und The Nightmare Before Christmas erinnernden, Szene bis zum Insiderwitz am Ende des Abspanns ("For those in the know: Jerk Wad") ein gelungener Film. Zwar nicht ganz perfekt, da das Ende zu abrupt da und zu schnell wieder vorbei ist, aber rundum unterhaltsam und verträumt. Das Laika-Studio hat beim ersten Versuch einen Volltreffer gelandet und weist FOX und dessen Ice Age in seine Schranken. Pixars Up wird bei den Oscars im März wohl Gesellschaft von Independent-Produktionen wie Coraline, Fantastic Mr. Fox oder Mary and Max bekommen. Sieht die Zukunft des erfolgreichen Animationsfilms so aus? Hoffentlich.

Freitag, 9. Oktober 2009

Inglourious Basterds

Nun schlagen die Juden zurück: Der "Bärenjude" Donny Donowitz (Eli Roth, links) und Lt. Aldo Raine (Brad Pitt) knöpfen sich mit ihrem Trupp Nazis vor.

4.5 Sterne

Dass Quentin Tarantino ein Legastheniker ist, sehen wir für einmal schon dem Titel seines Films an. Dabei es handelt sich nicht einmal um einen Fehler seinerseits. Es ist lediglich eine Hommage an den Videoverleih, in welchem er einmal gearbeitet hat, wo das Vorbild für Inglourious Basterds, der "Makkaroni-Kriegsfilm" The Inglorious Basterds - Originaltitel: Quel maledetto treno blindato - mit dem "ou"-Schreibfehler im Verzeichnis stand. Das Vorbild war bereits mehr oder weniger eine B-Film-Verarbeitung von Robert Aldrichs Klassiker The Dirty Dozen und wurde nun durch den Kultregisseur Tarantino noch einmal aufgepeppt. Viele Stars haben sich zusammengefunden, um einen Film zu drehen, der sich überhaupt nicht ernst nimmt, eine Seltenheit bei Tarantino, und Filmanspielungen en masse zu bieten hat. Leider kommen sich die beiden Plots stellenweise arg in die Quere.

Quentin Tarantinos Filme sind Geschmackssache. Die einen sehen in ihm den Messias des post-postmodernen Films, während andere ihn als klauenden Filmkenner verdammen. Beide Standpunkte haben ihre Berechtigung, doch die Verfechter der beiden werden sich bei ihrem Verdikt über Inglourious Basterds wohl einig sein. Denn Tarantinos neuster Film verbindet geschickt opulenten Stil mit Anleihen aus der Filmhistorie. Dies fängt schon beim Prolog an. Sieht man sich diesen genau an, ist er im Prinzip nichts anderes als eine Neuinterpretation und eine Mischung gleichermassen aus den berühmten Eingangssequenzen von The Good, the Bad and the Ugly und Once Upon a Time in the West - Vorlagen, die während des ganzen Films immer wieder aufgegriffen werden. Und selbst Louis de Funès ist vor einer Verneigung Tarantinos nicht sicher, da der Plan, der im letzten Akt im Zentrum steht, doch starke Ähnlichkeit mit La grande vadrouille hat.

Auch der Rest des Films ist gespickt mit vor Spannung knisternden Szenen und zuweilen genialen Dialogen. Diese sind die wahre Stärke von Tarantinos Skript. Der Dialogfilm wurde aus Hollywood quasi verbannt. Inglourious Basterds aber bringt diese Form des Drehbuchs in einer Extremform zurück auf die Leinwand. Der Film besteht grundsätzlich aus nichts anderem als spannenden Gespräche, die mitunter auch länger als eine Viertelstunde dauern und den Zuschauer überhaupt nicht langweilen. Zu einem fantastischen Skript fehlt dem Film aber leider die überzeugende Handlung. Die beiden Plots, die Tarantino präsentiert, passen nicht wirklich zueinander und verleihen Inglourious Basterds eine gewisse Dissonanz. Neben der frech und rebellisch wirkenden Basterds-Geschichte wirkt der etwas ernstere und getragenere Plot der auf Rache sinnenden Jüdin teilweise etwas schwerfällig. Wie das Ganze aber zu Ende geführt wird, ist stilvoll, brutal, historisch absolut verkehrt, filmgeschichtlich einwandfrei und unglaublich unterhaltsam.

Die illustren Charaktere und die Schauspielleistungen sind eine Sache für sich. Hans Landa zum Beispiel ist ein kühler, kalkulierender, blitzgescheiter Opportunist, der ohne mit der Wimper zu zucken sein Land verkauft. Gespielt wird er von einem hervorragend aufspielenden Christoph Waltz, der, egal ob er Deutsch, Englisch, Französisch oder Italienisch spricht, den Kinozuschauer an seinen Sitz fesselt. Waltz ist ein Filmschauspieler par exellence. Aus zurückhaltender Mimik und Gestik holt er das Maximum heraus. Seine Performance wird ihm mindestens eine Oscarnomination einbringen (ja, es ist wieder soweit, Filme müssen mit den Academy Awards im Hinterkopf besprochen werden). Während Waltz' Leistung jeden Filmkenner erfreut, unterhält Brad Pitt das gesamte Publikum. Aldo Raine ist ein selbstbewusster Yankee mit Apachenblut, der in jeder Lage cool wirkt. Egal ob er seine Männer à la The Dirty Dozen - mit den haargenau gleichen Einstellungen, wohlgemerkt - auf ihren Auftrag einschwört ("We'll be doing one thing and one thing only: Killing Nazis.") oder sich mit fürchterlichem Italienisch durch ein Gespräch mit Hans Landa ringt - die lustigste Szene des Films. Pitt hatte offensichtlich Spass an diesem Part und spielt Raine entsprechend enthusiastisch. Er und Waltz sind definitiv die schauspielerischen Highlights von Inglourious Basterds. Doch der Reigen der Stars hört bei diesem Duo noch längst nicht auf. Diane Kruger spielt eine waschechte Femme fatale, die Aldo Raine in Sachen Coolness in fast nichts nachsteht - ihr Schauspiel wirkt stellenweise aber leider etwas gestellt -, Eli Roth verkörpert Raines rechte Hand, den "Bärenjuden", der seine Opfer mit einem Baseballschläger bearbeitet - die entsetzten Geräusche und Gesichter im Kino sind vorprogrammiert - und Til Schweigers Figur Hugo Stiglitz, welche wie Giulio Andreottis Kabinettsmitglieder in Il divo vorgestellt wird, scheint ihm auf dem Leib geschrieben zu sein - ein überdurchschnittlich gewalttätiger deutscher Deserteur, der kaum einen Ton von sich gibt. Wer Schweigers relativ beschränktes schauspielerischers Talent kennt, weiss, dass er gut daran tut, wenn er wenig zu sagen hat. Daniel Brühl hingegen macht seine Sache nur mässig gut, was zur Folge hat, dass einem sein Frederick Zoller nach kurzer Zeit schon auf die Nerven geht. Entsprechend feuert man Shosanna Dreyfus, stark gespielt von Mélanie Laurent, innerlich an, als sie schliesslich die Waffe auf ihn richtet. Auch die zahlreichen Gastauftritte tragen zum Reiz des Films bei. So gibt Martin Wuttke Hitler der Lächerlichkeit preis - und das mit einer Stimme, die ganz eindeutig an Bruno Ganz in Der Untergang erinnert -, Mike Myers mimt einen britischen General und Bela B. Felsenheimer durfte einen Platzanweiser spielen, während der Regisseur von Quel maledetto treno blindato, Enzo G. Castellari "sich selbst" zum Besten gibt.

Inglourious Basterds ist überdies fantastisch bebildert und geschnitten. Robert Richardson beweist beim Versuch, Aufnahmen, die man in einem Western vermuten würde, mit typischen Kriegsfilmeinstellungen zu verbinden, ein gutes Händchen. Es ist nicht zuletzt seinen Einstellungen zu verdanken, dass man den langen Dialogen eifrig folgt. Unterstützt wird diese Leistung von Sally Menkes Schnitt, der mehrmals sehr fantasievoll Szenen miteinander verbindet. Und um die Lobgesänge abzurunden, soll auch noch der von Tarantino ausgewählte Soundtrack/Score erwähnt werden. Dieser ist wie immer sehr eklektisch, verfehlt seine Wirkung aber überhaupt nicht. Allein schon "The Verdict" von Ennio Morricone ist das Eintrittsgeld wert. Zwar hätte Morricone ursprünglich den ganzen Score komponieren sollen, musste aus Zeitgründen aber absagen. Schade drum.

Ja, Inglourious Basterds ist ein mehr als nur guter Film, man könnte sogar sagen, er sei Quentin Tarantinos bester. Der Regisseur hat sich für einmal nicht bei anderen Filmen bedient, sondern die Anspielungen wirklich als Hommagen eingesetzt. Man ist sich stellenweise zwar nicht sicher, ob man sich nun in einem Pseudokriegsfilm, einer Parodie oder einem Thriller befindet, doch diese Unentschlossenheit des Films wird durch herrlich gestreckte Dialoge, grösstenteils gute Schauspielleistungen und genüsslich gezeigter Gewalt wettgemacht. Zudem bietet Inglourious Basterds eine gelungene Umschreibung der Geschichte, die jedem gefallen wird, der genug von den historisch korrekten Filmen über den Zweiten Weltkrieg hat.

Mittwoch, 7. Oktober 2009

The Hurt Locker

Gezeichnet vom Krieg: Staff Sergeant William James (Jeremy Renner, vorne) und Sergeant J.T. Sanborn (Anthony Mackie) sind bei jedem ihrer Aufträge in akuter Gefahr. Dass James so etwas wie ein Outlaw ist, macht die Sache nicht einfacher.

5 Sterne

Der Irakkrieg wird im amerikanischen Kino erstaunlich wenig als Thema aufgegriffen. Der Respekt und die Angst vor dem Missgriff scheinen selbst die streitlustigen Filmemacher abzuschrecken. Michael Moores subversive Doku Fahrenheit 9/11, die sich grundsätzlich mit den Fehlern von George W. Bushs Administration auseinandersetzt, Paul Haggis' Drama In the Valley of Elah und Robert Redfords Thesenfilm Lions for Lambs, der sich sowohl mit dem Irak als auch mit dem Konflikt in Afghanistan beschäftigt, markieren die filmischen Höhepunkte in sechs Jahren Krieg. Kathryn Bigelows neustes Werk, The Hurt Locker, geht einen nicht gerade einfachen Mittelweg zwischen dokumentarisch angehauchtem Drama, Thesenfilm und Actionstreifen. Die gefeierte Regisseurin von Filmen wie Point Break, Blue Steel oder Strange Days liefert eine rohe, zuweilen ungemütliche Interpretation einer einzelnen Facette des Krieges. Eine Oscarnomination für "Bester Film" wäre alles andere als eine Überraschung.

Eingeführt wird The Hurt Locker mit einem Zitat von Chris Hedges, seines Zeichens Korrespondent der New York Times und Autor des Bestsellers War Is a Force That Gives Us Meaning. "The rush of battle is a potent and often lethal addiction, for war is a drug.", heisst es zu Beginn des Films. Und diese Aussage ist Programm. Die ganze Sache trägt immer wieder Züge eines Horrortrips. Aber nicht auf unangenehm-verquere Weise wie in Terry Gilliams überdrehter Sci-Fi-Distopie-Satire Brazil, sondern auf eine eloquente, cineastisch höchst elegante Weise. Zu verdanken ist diese Art des Erzählens unter anderem Mark Boal, dem Drehbuchautor, der schon mit Paul Haggis zusammen das Skript zu In the Valley of Elah verfasst hat. Boal hat im Irak Erfahrungen aus erster Hand sammeln können, da er dort als Journalist gemeinsam mit einem Bombenentschärfungstrupp, wie er auch in The Hurt Locker beschrieben wird, unterwegs war. Seine Erlebnisse und die Aussagen der Soldaten arbeitete er akribisch ins Drehbuch hinein. So überrascht es nicht, dass The Hurt Locker stellenweise gnadenlos echt wirkt. Doch auch die satirische Note kommt keineswegs zu kurz. Etwa wenn der neue GI im EOD (Explosive Ordnance Disposal) fragt, weshalb das Camp nicht mehr Camp Liberty, sondern Camp Victory heisst, und Sergeant J.T. Sanborn ihm antwortet, dass Camp Victory ermutigender klinge - dem Zuschauer bleibt das Lächeln da irgendwie im Halse stecken. Das muss die Lakonie sein, die man bekommt, wenn man zu lange im Krieg ist. Mark Boal muss es schliesslich wissen. Und er vermittelt diese Lakonie, die, zumindest im Falle der Hauptfigur, William James, schon fast an bedingungslose Selbstaufgabe grenzt, schmerzhaft realistisch. Der einzige Vorwurf, der Boal gemacht werden könnte, ist das etwas übertriebene Vertrauen ins eigene Talent. So wirkt The Hurt Locker an einigen Stellen doch etwas aufgesetzt, beispielsweise die ganze Beziehung zwischen William James und dem kleinen irakischen Jungen, den wir nur als "Beckham" kennenlernen (er spielt für sein Leben gern Fussball) - ein starker Kontrast zum ansonsten vorherrschenden Realismus.

Aber ein gutes Drehbuch garantiert bekanntermassen noch keinen guten Film. Ebenso wichtig ist die Schauspielleistung. Stars hat The Hurt Locker nur in den Nebenrollen zu bieten. Ralph Fiennes gibt sich als britischer Soldat die Ehre, während Guy Pearce in den amerikanischen Kampfanzug geschlüpft ist. In weiteren Rollen sind auch noch David Morse und Christian Camargo zu sehen. In der Hauptrolle glänzt Jeremy Renner, der Staff Sergeant William James die nötige Tiefe verleiht. Sein William James ist nicht die klischeehafte Kampfmaschine, vielmehr lebt er die Auffassung, dass der Krieg eine Droge ist. Er mag seine lebensgefährliche Arbeit und ist schlichtweg zu begeisterungsfähig, als dass er merken würde, wie er andere in Gefahr bringt. Gleichzeitig ist er aber auch ein durchaus verletzlicher und schuldbewusster Mensch, dessen Trophären ihn nicht davon ablenken können, dass er dem Krieg hoffnungslos verfallen ist. An seiner Seite überzeugen Brian Geraghty und vor allem Anthony Mackie als Bombenspezialisten. Mackies Monolog gegen Ende des Films ist in jeder Hinsicht berührend und zeigt besser als jede Explosion den Horror des Krieges auf.

Apropos Explosion: Dem Team, welches Bigelow mit den nötigen Spezialeffekten versorgt hat, gebührt ein dickes Lob. Die Minenexplosionen sind frei von jeglicher Pyromanie, sondern beschränken sich in erster Linie auf Schall und Rauch. Und das ist im Endeffekt viel kraftvoller als grosse Feuerwerke. Actionfilm ja, aber ein mit professioneller Hand geführter.

Ebenso beeindruckend ist die Kameraarbeit von Barry Ackroyd, der von Looking for Eric bis United 93 schon Filme fast jeden Genres bebildert hat. Seine Bilder sind roh, aber, wie der Film selbst, nicht ohne Eleganz.

Bleibt eigentlich nur noch die Interpretation des Titels. Sieht man sich The Hurt Locker an, dann dürfte der Fall nach dem mit 131 Minuten etwas lang geratenen Film klar sein. Wer sich mit Pirates of the Caribbean auskennt, sollte mit "Davey Jones' Locker " vertraut sein. Es handelt sich um die See, die alles verschlingt, was sie zu fassen bekommt. Und in Kathryn Bigelows Film? Es ist der Irak, in welchem immer noch Kinder als Bomben missbraucht werden, Familienväter bedroht werden, damit sie sich den Bombengurt umschnallen, und in dem jeder Soldat nach und nach im eigenen Schmerz ertrinkt - wie Sergeant J.T Sanborn, der zwei Tage vor der Heimkehr quasi zusammenbricht.

Wieder einmal hat Kathryn Bigelow ihrem Namen alle Ehre gemacht. The Hurt Locker ist ein realistisches und streckenweise beklemmendes Stück Spannungsfilm, welches seine Wirkung überhaupt nicht verfehlt. Wer Apocalypse Now als den definierenden Film zum Vietnamkrieg interpretiert, der sollte auch The Hurt Locker als die ultimative Verarbeitung des Irakkriegs, eines seit sechs Jahren andauernden amerikanischen Traumas, ansehen. Die Oscarnominationen für Bigelows Film dürften mehr als nur im Bereich des Möglichen liegen. Ob eine Goldstatuette für "Bester Film" angezeigt ist, mag bezweifelt werden, doch es wäre der Academy problemlos zuzutrauen, wieder einmal einen bitteren Kriegsfilm als Film des Jahres auszuzeichnen.

Sonntag, 20. September 2009

Public Enemies

Love in the Time of the Great Depression: John Dillinger (Johnny Depp) hat sich in Billie (Marion Cotillard) verliebt, wird aber andauernd verfolgt. Dies ist Billie (Marion Cotillard) aber herzlich egal, da er sie fasziniert.

4 Sterne

Die Amerikaner sind ein illustres Völkchen. Während der grossen Wirtschaftskrise, die von 1929 bis in die frühen 1940er Jahre andauerte, machten brutale Gauner das Land der unbegrenzten Möglichkeiten unsicher. Ähnlich wie die Outlaws aus dem 19. Jahrhundert, die vom Westerngenre schon unzählige Male abgefeiert und verklärt wurden, raubten sie Banken aus und töteten dabei auch unschuldige Menschen. Doch die Symbolkraft dieser Aktionen schien wichtiger zu sein als die Anzahl toter Zivilisten. Die Auflehnung gegen die reiche Obrigkeit beeindruckte in den frühen 30er Jahren ein ganzes Land und die Gangster wurden bejubelt - die Todesopfer machten alles nur dramatischer. Michael Mann erzählt mit seinem Film Public Enemies diesen turbulenten Abschnitt der amerikanischen Geschichte am Beispiel von John Dillinger. Diese routinierte Aufarbeitung kommt episch, aber chaotisch daher.

Dass Michael Mann ungewöhnliche Geschichten erzählen kann, hat er schon mehrfach bewiesen. So inszenierte er zum Beispiel den Kultfilm Heat oder den spannungsgeladenen Thriller Collateral. Aber Mann hat in seiner Karriere nicht nur Hits produziert. Immer mal wieder wurde der Kinozuschauer mit mehr oder minder mittelmässigen Streifen wie Miami Vice oder The Insider abgespeist. Ob Public Enemies in die Kiste des Mittelmasses gehört oder der grösste Film über die Outlaws der Great Depression seit Bonnie and Clyde ist, wird unter Kinofans zurzeit eifrig diskutiert. Die Wahrheit liegt irgendwo zwischen den beiden Polen, da der Film grandiose und mittelmässige Aspekte gleichermassen zu bieten hat.

Es ist wahrscheinlich das Beste, bei den Schauspielern anzufangen. Der Cast von Public Enemies spielte nämlich bei der Promotion des Films eine zentrale Rolle. Und es kann wohl niemand abstreiten, dass die beiden männlichen Hauptfiguren - zumindest vom finanziellen Standpunkt aus gesehen - perfekt gecastet sind. Es gibt momentan wohl keinen beliebteren Hollywood-Schauspieler als Johnny Depp. Damit ist es schon so gut wie sicher, dass seine gesamte Fangemeinde ins Kino strömt. Ob es den vornehmlich weiblichen Fans letztendlich gefällt, kann dem Studio herzlich egal sein. Depps Gegenpart ist ebenfalls eine potentielle Goldgrube. Christian Bale hat mit seiner Rolle als Batman in Batman Begins und The Dark Knight den Durchschnittskinogänger auf sich aufmerksam gemacht. Seitdem lässt sich sein Name problemlos vermarkten. Sind die beiden Akteure aber auch das Geld wert, welches sie die Produzenten kosteten (denn grosse Namen sind, wie man weiss, nicht gratis)? Die Frage kann man ohne weiteres mit Ja beantworten. Vor allem Johnny Depp liefert eine Performance ab, die John Dillinger ein durchaus menschliches Antlitz verleiht. Der stetige Gefühlswechsel zwischen Selbstsicherheit und Selbstzweifel wird von Depp sehr gut interpretiert. Doch auch Bale macht seine Sache mehr als gut. Als rastloser FBI-Inspektor weiss der Schauspieler zu glänzen. Neben diesem Duo, welches sich auf der Leinwand einen glaubwürdigen Psychokrieg liefert, geht die zurückhaltend wirkende Marion Cotillard beinahe unter. Aber trotzdem beweist sie auch in Public Enemies ihr enormes Talent. Für La Môme bekam sie einen Oscar, für Manns Film dürfte zumindest eine Nomination im Bereich des Möglichen liegen. Abgesehen vom Trio Depp/Bale/Cotillard gibt es keine erwähnenswerte Leistungen, wohl aber nennenswerte Auftritte. So verkörpert Billy Crudup den legendären FBI-Chef J. Edgar Hoover, was sich auf jedem Bewerbungsschreiben sehen lässt, und Giovanni Ribisi ist in der Rolle des Gauners "Creepy Karpis", der erst 1979 starb und als letzter "Public Enemy" gilt, zu sehen.

Der Grund, weshalb das Gros der Schauspielleistungen aus Public Enemies nicht im Gedächtnis haften bleibt, ist die Indifferenz, mit der die verschiedenen Figuren angegangen werden. Dies zeigt sich bei den Schiessereien besonders stark. Wer wen umbringt und ob jemand von Bedeutung erschossen wurde, bleibt fast gänzlich im Dunkeln. Da täuscht auch die stellenweise eingesetzte Wackelkamera, die eines Epos nicht würdig ist, nicht über den Fakt hinweg, dass der Zuschauer wirklich nur Zuschauer ist. Zwar findet diese Kameraführung in den meisten positiven Rezensionen zu Public Enemies Erwähnung, doch die Dissonanz zur opulenten Fotografie, die man im Rest des Films vorfindet, ist zu gravierend. Wenn der Kamerameister Dante Spinotti mit der Handkamera auffährt, fühlt man sich trotz aller Nähe hoffnungslos verloren. Logisch, die Anonymität der Opfer, egal ob Ganove oder Ordnungshüter, ist Teil des Konzepts des Streifens. Die verwirrende Ära der Wirtschaftskrise und der Prohibition wird mit filmischen Mitteln dargestellt. Doch mehr als ein anerkennendes Nicken wird dieser Kunstgriff dem Publikum nicht entlocken. Es stellt sich die Frage, ob eine zuschauerfreundlichere Umsetzung nicht lohnenswerter gewesen wäre.

Zugegeben, schlecht ist Michael Manns neuster Streich überhaupt nicht. Sieht man von den erwähnten Mängeln ab, ist Public Enemies ein unterhaltender und meisterhaft gemachter Gangsterfilm. Dante Spinottis Kameraführung ist, wenn sie nicht wackelt, einsame Klasse und versetzt einen mühelos in die USA von 1933. Auch William Ladd Skinners und Patrick Lumbs Ausstattung ist schlichtweg brillant. Autos, Gebäude und Inneneinrichtungen sehen unglaublich echt aus, schreien nach Oscar und erfreuen das Herz des nostalgischen Kinogängers. Und auch die Kostümdesignerin Colleen Atwood darf auf ein Goldmännchen, es wäre bereits ihr drittes, hoffen. Neben diesen eher kleinen Vorzügen glänzt Public Enemies aber auch in einer grösseren Disziplin: Das Drehbuch, basierend auf Bryan Burroughs Buch, geschrieben von Ronan Bennett, Ann Biderman und Michael Mann selbst, ist voll von Verweisen auf die amerikanische Kriminellenszene der 1930er Jahre. Persönlichkeiten wie "Baby Face" Nelson, den man vielleicht noch aus O Brother, Where Art Thou? kennt, "Pretty Boy" Floyd oder Tommy Carroll wurden bravourös in das Skript eingearbeitet. Zudem wird einem die Liebesgeschichte zwischen John Dillinger und Billie Frechette ganz ohne Kitsch präsentiert.

Mit Public Enemies verhält es sich ähnlich wie mit Watchmen: Der neutrale Kritiker wird den Film gut finden, mehr nicht. Als Ganzes handelt es sich sicher nicht um ein Meisterwerk, dazu geht es an einigen Stellen zu schnell und zu unübersichtlich zu und her. Doch in Einzelteilen beweist Public Enemies nichts anderes als Brillanz (Ausstattung, Kamera). Geschichtlich Interessierte werden Gefallen am Plot finden, Actionliebhaber werden die Schiessereien lieben und Cinephile werden sich an Dante Spinottis wunderbar komponierten Bildern nicht sattsehen können. Michael Mann hält einmal mehr für jeden etwas bereit.